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Einsteins Gartenlaube an der Scharfen Lanke

© Tsp

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Einstein und Eisbein

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Nr. 93: Wilhelmstadt.

An der Wilhelmstraße, nicht weit entfernt vom westlichen Stadtrand, erstreckt sich ein altes Kasernengelände, erbaut zu Zeiten des Kaisers, dem der Spandauer Ortsteil Wilhelmstadt seinen Namen verdankt. In der Mitte des weitläufigen Geländes stand einmal ein Militärgefängnis, in dem erst Kaisergegner und später Antifaschisten wie Egon Erwin Kisch und Carl von Ossietzky festgehalten wurden.

Noch später, nach den Nürnberger Prozessen, wurde es zum Kriegsverbrechergefängnis für hochrangige Nazis umfunktioniert. Die meisten von ihnen wurden in den 50er und 60er Jahren entlassen, weshalb das Gefängnis ab 1966 nur noch einen einzigen Insassen hatte: Rudolf Heß. Mehr als 20 Jahre lang lebte Hitlers Stellvertreter alleine hinter den Mauern von Wilhelmstadt, bis er sich hier 1987 erhängte.

Das Gefängnis wurde abgerissen, um es nicht zur Wallfahrtsstätte von Neonazis werden zu lassen. An seiner Stelle steht zwischen den Kasernenbauten heute eine große Discounterfiliale, um deren Betonfassaden ich lange herumirrte, auf der Suche nach Spuren, die nicht zu finden waren.

Halal und deutsche Hausmannskost

Wochenendeinkäufer schoben ihre voll beladenen Wagen an mir vorbei zu ihren Autos. Ein rumänischer „Motz“-Verkäufer bettelte um Euros, zwei Palästinenser verkauften Halal-Currywurst, eine Gaststätte auf der gegenüberliegenden Seite der Wilhelmstraße warb mit „Deutscher Hausmannskost“. Etwas weiter entfernt sah ich über den Lauben des Kleingartenvereins Hasenheide 1919 e. V. die üblichen schwarz-rot-goldenen Flaggen wehen – und ich fragte mich, ob auch Heß sie gesehen hatte.

Um das Gefängnis ranken sich in Wilhelmstadt viele Legenden. Einer der Einkäufer erzählte mir, das komplette Gebäude sei nach dem Abriss pulverisiert und in der Nordsee versenkt worden. Ein anderer hatte gehört, dass die Bäume auf dem Discounter-Parkplatz noch von den einstigen Insassen gepflanzt wurden, von Albert Speer, Karl Dönitz, Baldur von Schirach.

Wieder ein anderer war überzeugt, dass das Flüchtlingsheim zwei Blöcke weiter absichtlich auf dem naziverseuchten Kasernengelände untergebracht worden war, quasi als antinationalistischer Akt der Teufelsaustreibung. Die meisten Einkäufer aber wussten nichts von dem Gefängnis. Sie wussten nur, dass bei Kaufland Eisbein im Angebot war, für 3,33 Euro das Kilo.

Später, im wohlhabenderen, wasserseitigen Teil von Wilhelmstadt, lief ich zwei Spaziergängern über den Weg, einem Mann, der mit seiner Mutter zwischen den Wochenendhäusern am Ufer der Scharfen Lanke spazieren ging. Die beiden zeigten mir die alte Gartenlaube von Albert Einstein, der hier seine Freizeit verbracht hatte, bevor die Nazis ihn ausbürgerten.

Der Mann, der seit Langem in den USA lebte, konnte sich noch gut an das alte Heß-Gefängnis erinnern, das im monatlichen Wechsel von den Berliner Besatzungsmächten bewacht worden war. „Schade, dass man den Bau abgerissen hat“, sagte der ausgewanderte Wilhelmstädter, dessen Deutsch eine leicht amerikanische Färbung hatte. „Man hätte da doch weiter Kriegsverbrecher einsperren können – den alten George Bush zum Beispiel.“

Fläche:

10,4 km² (Platz 33 von 96)

Einwohner: 40551 (Platz 33 von 96)

Durchschnittsalter: 44,5 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Wilhelm I. (Namensgeber), Albert Einstein (Physiker)

Gefühlte Mitte: Metzer Platz

Alle Folgen
93 Ortsteile hat unser Kolumnist Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen von „Mühling kommt rum“ finden Sie unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

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