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Plattenbauten im Kosmosviertel.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Altglienicke: Wo die Arbeiterklasse vom Weltall träumt

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 4: Altglienicke.

Dicht an der südlichen Stadtgrenze setzte ich mich mit einem Ei-Brötchen vor die „Bäckerei Sonnenschein“ und lauschte den Gesprächsfetzen, die vom Nebentisch herüberwehten.

„... heut früh klingelt’t Telefon, ick denk, wer’s ’n ditte? War’t meen Kumpel, den hatt ick sechs Jahre nich jesprochen. Wie’t ma jeht, frachta. Wie soll’t ma jehn, sach ick, du störst ma beim Schlafen, worum jeht et denn? Na, sachta, ick bin uff Malle, hier scheint die Sonne, det wollt ick nur ma erzählt ham ...“

„... jeflogen bin ick nie, fang ick ooch nich mehr mit an uff meene alten Tage ...“

„... und, Arbeit jefunden?“

Rings um die Bäckerei ragten die DDR-Plattenbauten des Kosmosviertels in den Märzhimmel. Venusstraße, Uranusstraße, Siriusstraße, Saturnring, Pegasuseck – in den Straßennamen schwangen Erinnerungen an jene gar nicht weit entfernte Zeit mit, als die Arbeiterklasse noch davon träumen durfte, in den Kosmos zu fliegen statt bloß nach Malle.

Wo gezecht wird, freut sich der Apotheker

Nördlich davon dominierten Einfamilienhäuser den Ortsteil. Endlos reihten sich die Gartenzäune, über denen ich ab und zu ein Flugzeug steigen oder sinken sah, Schönefeld war nicht weit. Die Straßennamen hier waren erkennbar älteren Datums: Aus der Preußenstraße bog ich ab in die Alemannenstraße und folgte ihr bis zur Germanenstraße, von der kurz darauf die Teutonenstraße abging – die Namen passten gut zu den Deutschlandflaggen in den Vorgärten.

Als ich mich schon fragte, ob Altglienicke überhaupt so etwas wie ein Zentrum hat, entdeckte ich ganz im Norden den alten Dorfkern um die Pfarrkirche. Ich staunte über die Jugendstilumrisse eines leicht bekleideten Paares, das als frivoles Fresko den Eingang einer Apotheke zierte. Die Apotheke musste einmal eine Gaststätte gewesen sein, wie der geschwungene Schriftzug „Zum fidelen Zecher“ verriet. Wo fidel gezecht wird, freut sich am Ende der Apotheker, logisch.

Real gezecht wurde in der holzgetäfelten „Gaststätte Ebel“ gegenüber der Pfarrkirche. Die Kellnerin war gebürtige Altglienickerin, aber sie erschrak, als ich sie fragte, was es im Ortsteil zu sehen gebe. „Sie meinen, was Schönes?“ Ich nickte. Sie überlegte. Lange. „Die Gärten kann man sich angucken“, sagte sie unsicher. „Da sind jetzt überall Frühblüher. Aber Sie suchen ja sicher was Interessanteres.“

"Es ist ja alles weg!"

Wieder versank sie in Nachdenken – bis es plötzlich aus ihr herausbrach: „Es ist ja alles weg!“ Sie zählte die verschwundenen Schätze ihrer Heimat beim Sprechen an den Fingern ab. Die Gaststätte im alten Wasserturm – weg. Die Eisbahn, auf der die Altglienicker Kinder Schlittschuh gelaufen, die Pferde, auf denen sie geritten waren – weg. Der Festplatz am Falkenberg, wo zu DDR-Zeiten Volksfeste gefeiert wurden – weg. Und die Tram! Direkt hinter dem Kneipenfenster war sie einst vorbeigefahren auf ihrem Weg nach Köpenick – aus, vorbei, auch die Tramlinie gab es nicht mehr.

Während ich zuhörte, entstand vor meinem inneren Auge das Bild eines anderen Ortsteils. Fast glaubte ich, das Rumpeln der verschwundenen Tram hören zu können, das Wiehern der Pferde, die Festreden der Funktionäre, das Knirschen der Kufen im Eis. Altglienickes Kern, dachte ich, liegt genau hier: im wunden Herzen dieser Kellnerin.

Fläche: 7,89 km² (Platz 47 von 96)

Einwohner: 28 054 (Platz 45 von 96)

Durchschnittsalter: 41,9 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Willi Schwabe (Schauspieler), Armin Mueller-Stahl (Schauspieler)

Gefühlte Mitte: Gaststätte Ebel

Diese Kolumne erschien am 1. April 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

Alle Folgen zum Nachlesen: tagesspiegel.de/96malberlin.

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