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Schick! Wollmützensortiment auf dem Marktplatz von Adlershof.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins 96 Ortsteilen: Adlershof: Wo Gurken mit Glasnudeln konkurrieren

96 Ortsteile hat Berlin. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 1: Adlershof.

Die Kioskverkäuferin am S-Bahnhof Adlershof sah mich entgeistert an. Dabei hatte ich nur gefragt, warum Adlershof Adlershof heißt. „Woher soll ich das wissen?“, fragte sie. „Sie sind doch hier der Mann!“ Ich verließ den Kiosk mit einem Becher Kaffee und dem Gefühl, dass die Geschlechterrollen in Adlershof recht klar verteilt sind.

Man hört in letzter Zeit oft, unser Land sei gespalten: abgehobene Eliten auf der einen Seite, ängstliche Schrebergärtner auf der anderen. In Adlershof ist es wirklich so. Der Ortsteil besteht aus zwei Ghettos, die sich lediglich denselben S-Bahnhof teilen: Im Südwesten wird geforscht und studiert, im Nordosten bieder gewohnt. Dazwischen verläuft das sogenannte Adlergestell (Fun fact: Berlins längste Straße!), das besser Apartheidsgestell heißen sollte, weil sich selten jemand von der einen auf die andere Seite verirrt.

Ein Fachgespräch über Ortsteile

Ich lief erst mal nach Nordosten, ins Wohnviertel. Auf dem kleinen Wochenmarkt an der Dörpfeldstraße, wo ein buntes Sortiment aus Wollmützen, Kochtöpfen, Fisch von der Mecklenburger Seenplatte und Fan-Artikeln des 1. FC Union feilgeboten wurde, kam ich mit einem türkischen Gemüsehändler ins Gespräch, der neben seinem Stand Liegestütze machte, um sich aufzuwärmen. Er schaffte 30 Stück. „Früher 40“, sagte er. „Da war ich noch zehn Kilo leichter.“ Sein Gemüse verkaufte er nicht nur in Adlershof, sondern an anderen Wochentagen auch auf dem Arkona- und dem Boxhagener Platz. Bingo, dachte ich, der richtige Mann für ein Fachgespräch über Ortsteile! „Hier gibt’s nur alte Leute“, sagte er seufzend, als ich ihn nach Unterschieden fragte. „Kaufen immer dasselbe: Kartoffeln, Clementinen. Manche in Adlershof wissen nicht, was Zucchini und Auberginen sind, ich schwöre! Die kommen an den Stand und fragen: Was sind das für Gurken?“

Passenderweise stolperte ich kurz hinter dem Markt in eine Kleingartenanlage namens „Lange Gurke“, wo mich ein älterer Hundebesitzer in ein Gespräch verwickelte. Der Mann gestikulierte beim Sprechen mit einem schwarzen Zellophanbeutel, in dem sich, wie mir ziemlich spät dämmerte, ein frischer Hundehaufen befinden musste. „In Adlershof kann man's aushalten“, sagte er. „Gibt zwar auch Ausländer hier, aber nicht die schlimmsten. Ich sag mal: Ob schwarz, weiß oder grün, ich komme mit allen klar.“

"Je öfter ich es las, desto dümmer fühlte ich mich"

Auf der Suche nach den grünen Ausländern überquerte ich das Apartheidsgestell Richtung Südwesten. Der Unterschied zwischen den beiden Ortsteilhälften war frappierend. Im Nordosten: Altbauten, Eckkneipen, Kleingärten. Hier: funkelnde Campus-Architektur, dazwischen Smoothie-Bars und Bagel-Läden. Vor einer großen Brache warb ein Baustellenschild mit einem Slogan, den ich dreimal lesen musste, um ihn halbwegs zu verstehen: „1200 mal Zuhause minus langer Arbeitsweg gleich Lebensqualität größer Durchschnitt: Hier entsteht Berlins klügste Wohnadresse.“ Je öfter ich es las, desto dümmer fühlte ich mich. Noch dümmer fühlte ich mich, als mich ein Student überholte, der in der linken Hand eine Pappschachtel hielt, aus der er – beim Laufen! – mit den Essstäbchen in seiner rechten Hand Glasnudeln aß, während er im Kopf vermutlich quantenphysikalische Gleichungen löste.

Glasnudeln oder Gurken: Wer in Adlershof lebt, muss wählen.

Fläche: 6,11 km² (Platz 65 von 96)

Einwohner: 17 284 (Platz 61 von 96)

Durchschnittsalter: 43,0 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Ernst Lau (Erfinder der Gleitsichtbrille), Anna Seghers (Schriftstellerin)

Gefühlte Mitte: S-Bahnhof Adlershof

Diese Kolumne erschien am 11. März 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

Alle Folgen zum Nachlesen: tagesspiegel.de/96malberlin.

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