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Skulptur "Junges Paar" von Jürgen Raue, aufgestellt 1987 im Fennpfuhlpark. Vorn im Bild Grün, hinten Plattenbau.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berliner Ortsteilen: Fennpfuhl: Wo die Häuser höher wachsen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 19: Fennpfuhl.

Rings um den Anton-Saefkow-Platz sah ich die Betonzähne in den Himmel ragen, die kleineren fünf Stockwerke hoch, die größeren 14, die allergrößten mit 21 Etagen nicht viel niedriger als die Hochhäuser am Potsdamer Platz. Fennpfuhl: Platte pur. Ab den frühen 70er Jahren entstand hier die erste Beton-Großsiedlung der DDR, „das Beispiel eines sozialistischen Stadtteils der Zukunft“, wie die SED-Presse 1957, in der Planungsphase, schrieb.

Heute wirkt der Ortsteil eher wie ein Museum der sozialistischen Vergangenheit. Als ich morgens um zehn über den Anton-Saefkow-Platz lief, standen vor einem Gemüsestand zwei Dutzend Rentner in grauen DDR-Gedächtnis-Jacken Schlange. Anderthalb Stunden später kam ich erneut am Marktstand vorbei – und sah keinen einzigen Kunden mehr. Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Fennpfuhler Rentner absichtlich zur selben Zeit einkaufen gehen, um beim Schlangestehen gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen.

Überhaupt deutete die allgemeine Rollatorendichte darauf hin, dass viele Menschen hier noch zu den Erstmietern der Plattenbauten gehören. Dabei kam mir der Ortsteil nicht gerade rentnerfreundlich vor. Beim Schlendern durch die Straßenschluchten staunte ich immer wieder über die enormen Distanzen zwischen den Betonblöcken. Es fiel mir schwer zu glauben, dass der Ortsteil der am zweitdichtesten besiedelte in Berlin ist.

Ärger in der Familie? Berufssorgen? Wahrsagerin hilft!

Bevor die Hochhäuser kamen, bestand Fennpfuhl aus Lauben und Sümpfen. Die Lauben retteten im Krieg dem späteren Fernsehmoderator Hans Rosenthal das Leben, da drei Berliner Kleingärtnerinnen ihn hier vor den Nazis versteckten. Die Sümpfe wurden beim Bau der Betonsiedlung zur Teichlandschaft umgestaltet, in deren Mitte heute eine Wasserfontäne sprudelt. Daneben sah ich ein paar verwaiste Betonstege ins Wasser ragen. Bis vor ein paar Jahren, erzählte mir ein Vater mit Kinderwagen, habe man hier Ruderboote ausleihen können, aber die seien eines Nachts von Besoffenen zertrümmert worden. „Russen wahrscheinlich“, sagte der Mann. Er deutete auf den höchsten Plattenbau im Umkreis. „Da wohnen nur Russen. Ist nie renoviert worden, der Kasten, der Besitzer lässt ihn verfallen. Kein Deutscher will da leben.“

Die Vorstellung, dass die Ruinen des Sozialismus heute von Russen bewohnt werden, kam mir zu ironisch vor, um wahr zu sein – und tatsächlich fand ich, als ich mir den 21-Stöcker aus der Nähe ansah, auf den Klingelschildern ganz überwiegend deutsche Namen.

An der Eingangstür heftete ich mich unauffällig an die Fersen eines Bewohners und stahl mich in den Lift. Er fuhr so langsam, dass ich auf dem Weg in die oberste Etage alle an die Wand geklebten Werbezettel lesen konnte. Am liebsten mochte ich diesen: „Liebeskummer? Finanzielle Probleme? Ärger in der Familie? Berufssorgen? Wahrsagerin hilft!“

Im 21. Stockwerk roch der Flur nach Katze und Weichspüler. Durch eine Außentür gelangte ich auf einen kleinen Balkon. Lange stand ich hoch über Fennpfuhl und ließ mir den Wind ins Gesicht blasen, in der Ferne reichte der Beton bis zum Horizont. Selten habe ich in Berlin einen spektakuläreren Ausblick erlebt.

Fläche: 2,21 km² (Platz 90 von 96)

Einwohner: 32 545 (Platz 40 von 96)

Durchschnittsalter: 46,1 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Hans Rosenthal (Fernsehmoderator)

Gefühlte Mitte: Anton-Saefkow-Platz

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 15. Juli 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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