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Raufbolde. Kleinen Jungen toben gerne. Mädchen allerdings auch.

© Getty Images

Unterschiede bei Jungen und Mädchen: Das Märchen vom frühen Testosteron-Anstieg

Wie stark Jungen und Mädchen sich „von Natur aus“ unterscheiden, ist ein ewiges Streitthema. Dazu gibt es immer wieder Fehlinformationen in Ratgebern.

Freitagabend in Schöneberg. Mehrere Familien haben sich zum Ausklang der Woche beim Italiener verabredet. Die Erwachsenen sitzen noch im Freien vor ihren Tellern, die Kinder, schätzungsweise zwischen drei und zehn Jahre alt, sind schon aufgestanden. Jemand hat ihnen eine Riesenpackung Malkreiden spendiert.

Und nun haben sich zwei Gruppen gebildet: In der einen hocken alle auf dem Boden, es wird eifrig auf das Pflaster gemalt, Blumen und Tiere sind zu erkennen. In der anderen geht es lebhafter zu: Mit verschiedenen Farben werden Linien auf den Boden gezeichnet, die müssen dann übersprungen werden: ein Wettkampf im Weitsprung.

Vom Tisch aus mahnt ein Vater die Kinder, dabei die Passanten nicht umzurennen.

Die Kinder? Auch wenn es ein Klischee bedienen mag, muss man doch der Wahrheit die Ehre geben: Es malen die Mädchen und es springen die Jungen. Zumindest an diesem Freitagabend haben sich die Kinder vor der Pizzeria in Schöneberg nach Geschlecht sortiert.

Wenn nach Erklärungen dafür gesucht wird, warum ab einem bestimmten Alter Mädchen bevorzugt mit anderen Mädchen, Jungen mit anderen Jungen spielen, warum der weibliche Teil der Kinderwelt tendenziell eher Rollenspiele mag und besonders gern malt und bastelt, während beim männlichen eher Fahrzeuge und kompetitive Herausforderungen gefragt sind – dann kommen heute auffallend häufig „die Hormone“ ins Spiel. Genauer gesagt eines von ihnen: das männliche Geschlechtshormon Testosteron.

Viele bekannte Ratgeber verbreiten die Mär vom Hormonanstieg

Tatsächlich ist der Spiegel dieses Hormons bei männlichen Babys kurz nach der Geburt deutlich höher als bei weiblichen. „Das erklärt sich daraus, dass die hohen mütterlichen Spiegel des Schwangerschaftshormons HCG die Keimzellen der Neugeborenen stimulieren und diese entsprechend dann auch Testosteron bei den Jungs und Östrogen bei den Mädchen produzieren“, erklärt der Kinderarzt und Hormonspezialist Oliver Blankenstein von der Charité, der außerdem bei Labor Berlin, einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und Vivantes, für die Hormon- und Stoffwechseldiagnostik verantwortlich ist.

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Auf diesem Weg wird dafür gesorgt, dass sich die Genitalien dem biologischen Geschlecht entsprechend entwickeln. Ist das geschehen, dann haben die Geschlechtshormone erst einmal ihre Schuldigkeit getan. Die Pubertät, in der sie wieder gebraucht werden, um aus Kindern erwachsene Männer oder Frauen zu machen, ist schließlich noch weit.

Dann allerdings, etwa ab dem Alter von zehn bis zwölf Jahren, schnellt das Testosteron rasant in die Höhe. Jungen kommen in den Stimmbruch, Körperhaare sprießen, die Geschlechtsorgane werden größer. Der Startschuss für den eigentlichen Beginn der männlichen Pubertät fällt im Gehirn durch eine erhöhte Ausschüttung von Hormonen, die ihrerseits die Produktion der Sexualhormone anregen. Sie sorgen unter anderem dafür, dass in den Hoden Samenzellen gebildet werden.

Doch gibt es da nicht vorher noch eine Phase, in der der Testosteron-Spiegel in die Höhe schießt? Im Alter von drei bis sechs Jahren steige er „rasant“ an, schreibt die Pädagogin Heidemarie Brosche in ihrem neuen, insgesamt lesenswerten Buch „Jungs-Mamas“ (Verlag Kösel 2019).

Sie ist nicht die Einzige, die das behauptet: Man findet diese Aussage auch auf vielen Internet-Seiten und in anderen Ratgeber-Büchern. In ihrem Buch „Lauter starke Jungen“ behaupteten Jan-Uwe Rogge und Bettina Mähler schon 1998, der Testosteron-Spiegel steige bei kleinen Jungs ab dem 36. Lebensmonat wieder an. Auch im viel gelesenen Buch „Jungen! - Wie sie glücklich heranwachsen“ von Steve Biddulph, das 2002 auf Deutsch erschienen ist, findet sich diese Aussage: „Mit vier Jahren verdoppelt sich dann aus Gründen, die niemand so recht versteht, plötzlich wieder der Testosteron-Spiegel kleiner Jungen.“

Kein Wunder, dass niemand die Gründe so recht versteht - denn die Aussage stimmt nicht. „Ich weiß nicht, woher dieses Gerücht kommt, doch es ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen“, sagt Hormonspezialist Blankenstein. Quellen für ihre Behauptung nennen die Autoren allesamt nicht. Ein typischer Fall von „Fake News“. „Ein modernes Ammenmärchen“, sagt Blankenstein.

Daten aus einer großen kanadischen Studie, für die Hormonspiegel von 1234 Heranwachsenden zwischen null und 18 Jahren gemessen wurden, belegen: Nach dem ersten Lebenshalbjahr ist bis zur Pubertät auch bei den Jungs erst einmal Testosteron-Flaute. Der Testosteron-Spiegel liegt während dieser gesamten Hauptphase der Kindheit nahe null.

Unterschiede in der Entwicklung bei Jungen und Mädchen gibt es dennoch

Steigt er in diesem Alter bei einem kleinen Jungen deutlich an, dann machen sich Eltern und Kinderärzte Sorgen, denn es könnte ein hormonbildender Tumor dahinterstecken: Die Jungen zeigen dann verfrüht Zeichen der Pubertät wie Schamhaare oder eine tiefere Stimme. Ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt.

„Einen Testosteron-Anstieg findet man ansonsten in diesem Alter nicht bei den Kindern, sondern nur im Internet“, sagt Blankenstein. Den Kinderarzt wundert nicht zuletzt, dass der angebliche Hormonsturm mit drei bis vier Jahren eintreten soll – einem Alter, in dem Kinder Menschen zwar längst in Männer und Frauen „sortieren“ können, aber noch gern in gemischten Gruppen spielen. Und in dem nicht nur Jungen oft eine „Trotzphase“ haben, sondern auch Mädchen.

Dass das biologische Geschlecht der Kinder für ihre Entwicklung und ihr Verhalten gar keine Rolle spielen würde, ist damit nicht gesagt. So haben weibliche Frühgeborene bessere Überlebenschancen, sind vierjährige Mädchen – im Durchschnitt – feinmotorisch geschickter und in der sprachlichen Entwicklung weiter, Jungen dafür – wiederum im Durchschnitt – etwas besser im räumlichen Vorstellungsvermögen und in ihren Spielen eher auf körperliches Kräftemessen aus.

Verlangsamt ein Hormonschub die Entwicklung der Gehirne?

Zur biologischen Erklärung solcher (statistischen) Unterschiede können allerdings auch der unterschiedliche Chromosomensatz (XX bei den Mädchen, YX bei den Jungen) und die ganz früh, im Bauch der Mutter, wirksamen Geschlechtshormone herangezogen werden.

Tatsächlich gibt es zwischen den Geschlechtern einige Unterschiede bei der Gehirnentwicklung. Schon bei der Geburt sind ihre Anatomie und ihre Funktion verschieden. „Das kann durchaus mit der Testosteron-Menge im Fruchtwasser zu tun haben“, sagt Blankenstein.

Die amerikanische Neurobiologin und Buchautorin Lise Eliot vermutet in ihrem lesenswerten Buch „Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen“ (Berlin Verlag 2010) aufgrund von Tierstudien, dass es darüber hinaus der Hormonschub direkt nach der Geburt sei, der die Entwicklung der Gehirne von Jungs geringfügig verlangsamt. Bewiesen ist das allerdings nicht.

Etwas anderes ist für die Neurowissenschaftlerin dafür umso klarer: „In einer Welt, die im Baby zuallererst ein Mädchen oder einen Jungen sieht, verstärken sich Geschlechterdifferenzen, so subtil sie zunächst auch sein mögen, sehr rasch.“

Ob eine solche Verstärkung wünschenswert ist oder ob man umgekehrt darauf achten sollte, dass sie nicht eintritt, steht auf einem anderen Blatt. Es hängt von uns ab. „Kinder lernen am Modell“, stellt Kinderarzt Blankenstein fest. Und er fügt hinzu: „Ihr Rollenverhalten wechselt und ändert sich immer wieder.“

Kein Ammenmärchen ist, wie es an jenem Freitagabend vor der Schöneberger Pizzeria weiterging: Eine halbe Stunde später malte auf dem Pflaster noch eine kleinere Gruppe von Mädchen und Jungen hingebungsvoll weiter, der Weitsprung-Wettbewerb war beendet. Auch mit dem Malen war es schlagartig zu Ende, als der Kellner sich wieder blicken ließ. Es gab zum Nachtisch nämlich Eis.

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