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Zwei Autoren im Wunderland: Lorenz Maroldt und Harald Martenstein im Berliner Plänterwald.

© Hans Scherhaufer / Ullstein (promo)

Unsere Hauptstadt der Zumutungen: So liebevoll lästern Lorenz Maroldt und Harald Martenstein über Berlin

Wieso scheitert Berlin ständig an sich selbst und lässt einen trotzdem nicht los? Lorenz Maroldt und Harald Martenstein suchen in ihrem Buch nach Antworten.

Lässt sich Berlin in Worte fassen? Lorenz Maroldt, einer der Chefredakteure des Tagesspiegels, und der Kolumnist Harald Martenstein haben es versucht. Angeregt wurden sie dazu von Karl Schefflers Klassiker „Berlin, ein Stadtschicksal“, erschienen 1910. Berühmtestes Zitat: Berlin sei dazu verdammt, ewig zu werden und niemals zu sein.

Auch ihr Buch mit dem Titel „Berlin in 100 Kapiteln, von denen leider nur 13 fertig wurden“ (Ullstein-Buchverlage, 288 S., 19,99 €) ist als Liebeserklärung nicht sofort zu erkennen. Es handelt von einer Stadt, die für ihre Bewohner oft eine Zumutung ist und trotzdem niemanden loslässt, der sich einmal auf sie eingelassen hat.

Wir veröffentlichen hier – gekürzte – Auszüge aus neun Kapiteln. Die Bearbeitung der vier fehlenden, im Grunde wichtigsten Kapitel war bei Redaktionsschluss noch nicht fertig. In Berlin versteht man das.

KLEINE GESCHICHTE DER VERSCHIEBUNGEN

Diese Stadt ist ins Scheitern regelrecht verliebt, könnte man sagen. Und trotzdem verlieben sich immer mehr Menschen in diese Stadt. Zum Beispiel wir. Seit Jahrzehnten leben wir hier, verfolgen und beschreiben den alltäglichen Wahnsinn dieser Metropole und ihre Unzulänglichkeiten, die nicht selten das Ergebnis von organisierter Unzuständigkeit sind. Hier dauert es drei Jahre, einen Zebrastreifen auf die Straße zu pinseln. Vier Jahre, die Statik einer Ampel zu berechnen. Sieben Jahre, eine Oper zu sanieren.

Die BER-Eröffnung haben wir uns immer so vorgestellt: Der Flughafenchef stolpert über ein liegengebliebenes Kabel und schießt im Fallen mit dem Korken einer Flasche Dom Perignon eine schlampig festgeschraubte Säule im Terminal um. Unterm schwankenden Dach reißt eine Deckenplatte aus ihren brüchigen Dübeln und platscht in die kofferberghohe Festtagstorte.

Während sich der Prüfingenieur aus dem Landkreis Dahme-Spreewald die Sahne aus den Augen reibt, rennt ein Biber panisch durch den Security-Check und löst einen Großalarm aus. Der Schönefelder Schützenverein marschiert auf. Aus den Lautsprechern erklingt „Help!“ von den Beatles, auf den Bildschirmen erscheint ein Video der Eröffnungsabsage-PK von 2012, Klaus Wowereit spricht: „Der BER ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte.“

Die Geschichte der Verschiebungen können die beteiligten Herrschaften am besten selbst erzählen. „Der Inbetriebnahmetermin 3. Juni 2012 ist unwiderruflich“ (Technikgeschäftsführer Manfred Körtgen) – „Wir bündeln alle Kräfte, um den Eröffnungstermin im Oktober 2013 zu halten“ (Klaus Wowereit) – „Der Starttermin 2017 für den Hauptstadtflughafen ist sicher“ (Hartmut Mehdorn) – „Ich bleibe bei 2018“ (Aufsichtsratsmitglied Rainer Bomba) - „Der BER ist keine Baustelle, bei der es um Fertigstellung geht“ (Ex-Technikchef Jörg Marks 2019) – „Wenn ich in die Augen meiner Leute schaue, sehe ich jeden Tag mehr Vertrauen in das Gelingen“ (Engelbert Lütke Daldrup 2020).

Nirgendwo sonst in Deutschland sind die Wartezeiten beim Bürgeramt länger, die Schulen maroder, die Baustellen chaotischer, die Verantwortlichkeiten verworrener als bei uns in der Bundeshauptstadt. Hebammen warnen Hochschwangere vor Berlinbesuchen, im Ernstfall gibt es womöglich keine Betten und Ärzte.

Berlin leidet an einem unauflösbaren Widerspruch. Nach dem Fall der Mauer wollte Berlin Weltstadt sein, so wie London, Paris, New York. 30 Jahre später möchte Berlin Weltstadt sein, aber bloß nicht so wie London, Paris, New York. „Berlin bleibt anders“, behauptet trotzig die Stadtregierung.

SCHMIERGELD, SCHWANZ, SKANDALE

Der klassische Berliner Skandal hat mit politischen Intrigen zu tun, mit geschmierten Bauprojekten und mit faulen Krediten oder Bürgschaften. Dies ist über viele Jahrzehnte mit einer beinahe gespenstischen Konstanz so geblieben, unabhängig davon, wer gerade regierte. Aber wer hätte gedacht, dass die CDU regieren musste, damit in den 80er Jahren ein Bordellbesitzer namens Otto Schwanz zur stadtbekannten Figur mit politischer Aura wurde?

Berlin im Blick. Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und Kolumnist Harald Martenstein.
Berlin im Blick. Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und Kolumnist Harald Martenstein.

© Foto: Hans Scherhaufer / Ullstein (promo)

Über den Fall um Otto Schwanz und seinen Freund, den einflussreichen CDU-Politiker Wolfgang Antes, sagte der Chef der eigens gebildeten „Soko Lietze“ seinerzeit: „Wir sind auf so ziemlich alles gestoßen, was das Strafgesetzbuch hergibt, außer Vorbereitung eines Angriffskriegs.“

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In der „Zeit“ hieß es, ein wenig grob, das Wort „Filz“ sei für die Berliner Politik ebenso unpassend wie „Sumpf“, besser passe „kriminelle Vereinigung“. Drei Senatoren waren nicht mehr zu halten, darunter der Innensenator Heinrich Lummer. Ihm wurde vorgeworfen, er habe einem Autohändler zum billigen Erwerb von 2000 landeseigenen Wohnungen verhelfen wollen, wissend, dass seinem Parteifreund Antes für das Einfädeln dieses Deals fünf Millionen Schmiergeld versprochen waren. Immerhin gab es einen Zeugen.

Typisch für Berliner Skandale ist aber auch das Phänomen der weichen Landung. Wer über Affären stolpert, darf auf einen neuen Posten oder sogar Beförderung hoffen. Lummer zum Beispiel wurde mit einem Bundestagsmandat für den während der Affäre erlittenen Stress entschädigt. In der CDU stieg er nach seinem Rücktritt als Innensenator zum stellvertretenden Landesvorsitzenden auf. Bald darauf wurde er Präsident des Institutes für Demokratieforschung in Würzburg, ein Amt, für das wohl kaum jemand so qualifiziert war wie er.

DER KAMPF UM DIE STADT

Als die Immobilien so teuer geworden waren, dass Analysten vor dem Platzen einer Blase warnten, begann der rot-rot-grüne Senat zum Höchstpreis zurückzukaufen, was die Stadt zuvor zum Niedrigpreis verscherbelt hatte. Bei einer Baudebatte im Rosa-Luxemburg-Haus fragte ein Zuhörer die Teilnehmer auf dem Podium: „Wie kann man Berlin abstoßender machen, damit weniger Menschen herziehen?“ Beifall im Saal. Touristen sind die Vorboten und die Nachhut der Gentrifizierung. Aber die Berliner wehren sich, das zeigt ein Blick in den Polizeibericht: „Mann pinkelt von Jannowitzbrücke auf Schiff – vier Touristen verletzt.“

Berlins berühmtester Mieter ist „Addi the Eagle“. Jahrelang trotzte er den Bemühungen und Schikanen der neuen Eigentümer seiner Pankower Wohnung in der Kopenhagener Straße 46. Die hatten ein klares Geschäftsmodell: Alle Mieter raus aus dem Haus, einmal komplett luxussanieren, das leere Haus in Apartments aufteilen und häppchenweise zum Höchstpreis an jene weiterverkaufen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld in der Niedrigzinszeit. Zur Unterstützung des „Freizugs“ wurden die Bauarbeiten brachial vorangetrieben. Addi harrte in seiner 38-Quadratmeter-Bude aus, ohne Wasser, ohne Licht.

Ihre Kapitulationserklärung veröffentlichten die Investoren in Form einer Immobilienanzeige: „Heute bietet sich für den unerschrockenen Anleger die einmalige Gelegenheit, eine durch Film, Fernsehen und Internet halbwegs bekannte Wohnung mit dem von der Presse als ,Berlins renitentester Mieter’ titulierten Bewohner zu erwerben. Bis Sie diese Wohnung (nach erfolgreicher Eigenbedarfskündigung und/oder Auszug des Mieters) selbst nutzen können, werden Sie unter Umständen rund ein Jahrzehnt ein dickes Fell brauchen.“ Bei der Neuvermietung erzielten „gleichwertige Wohnungen im Haus eine Miete von 18 € netto/kalt je Quadratmeter“, locken die Makler – Addi the Eagle zahlt 4,51 Euro.

Im Text heißt es weiter: „Im Rahmen der Wohnungsbesichtigung erhalten Sie die wirklich interessante Möglichkeit, ein authentisches Exemplar des Prenzelbergers (und ggfs. auch viele seiner Sinnesgenossen) live zu erleben.“

DER BERLINER: VERSUCH EINES PSYCHOGRAMMS

Die „Berliner Schnauze“ ist weltberühmt und wird wie ein Weltkulturerbe von Generation zu Generation weitergetragen. Wer in der Schlemmerabteilung des Luxuskaufhauses KaDeWe ein teures italienisches Salami-Gebinde mit Walnuss als Geschenk erwerben will und eine kleine Kostprobe erbittet, hört von der anderen Seite der Theke: „Wieso, Sie woll’n dit doch eh verschenken.“

Frage eines Berlin-Besuchers: „Wenn ich da vorne rechts abbiege, ist dann da der Bahnhof Greifswalder Straße?“ Antwort des Berliners: „Der is ooch da, wennse nich abbiegen.“ Der Autor Michael Jürgs, ein Hamburger von Welt, stellte fest: „Was der Berliner als Humor betrachtet, wird anderswo auf der Welt als Menschenrechtsverletzung geahndet.“

Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass in der Redaktionskonferenz des Tagesspiegels bekannt gegeben wurde, dass die Eröffnung des neuen Flughafens nur wenige Tage vor der mit großem Tamtam angekündigten Eröffnungsparty erneut verschoben werden muss.

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Wie hätte, in einer vergleichbaren Situation, die Redaktion einer Münchner Zeitung reagiert? Vermutlich so: Der Chefredakteur hätte erklärt, dass man den Münchnerinnen und Münchnern diese schlimme Nachricht schonend beibringen muss. Dann hätte er sich an den Chefreporter gewandt: „Können Sie eine Geschichte über die erfolgreichen Münchner Großprojekte der letzten, sagen wir, fünfzig Jahre schreiben? Und über das großartige Münchner Lebensgefühl? Es wäre gut, wenn der Viktualienmarkt drin vorkommt.“ Zum Chef der Lokalredaktion hätte der Chefredakteur gesagt: „Finden Sie heraus, wie viele Nichtmünchner im Führungspersonal der Baufirma sitzen. Es sind sicher einige.“

In der Berliner Konferenz dagegen herrschte Heiterkeit. Eigentlich hatten alle geahnt, dass es so kommen würde. Die Leserschaft würde es mehrheitlich auch lustig finden. Diese Stadt hat schon so viel weggesteckt, und sie steht immer noch und ist irgendwie super in ihrer Unzulänglichkeit.

Der Berliner Humor ist aus Geschichten heraus entstanden, den Katastrophen, den Pannen, den Skandalen. Er hat mit Selbstschutz zu tun, er hat die gleiche Funktion wie die Stacheln beim Kaktus.

ZURÜCKBLEIBEN, BITTE

Jahrelang beobachteten die Mitarbeiter der Verkehrslenkung das Durcheinander auf den Straßen so fasziniert wie ein Biologe eine verrückt gewordene Ameisenkolonie. „Wenn ein Auto so intelligent ist, sich am Ernst-Reuter-Platz zurechtzufinden, wird es das auf der ganzen Welt schaffen“, stellte irgendwann der TU-Professor Sahin Albayrak fest – ein weltweit anerkannter Spezialist für die Entwicklung des autonomen Fahrens.

Der Ernst-Reuter-Platz ist ein Kreisverkehr, an dem es so zuverlässig kracht wie im Senat, also nahezu täglich. Eigentlich war es nur konsequent, die Verkehrslenkungsbehörde aufzulösen, zumal die Leitungsstelle seit Jahren vakant war. Auf Ausschreibungen meldete sich einfach niemand.

Jetzt sollte die Behörde zur Abteilung eines „Verkehrsmanagements“ umgemodelt werden. Den Ausschlag gab die Empfehlung eines Gutachtens, das die Verwaltungsspitze in Auftrag gegeben hatte. Fazit: „Die Verkehrslenkung Berlin hat sich über Jahre ihren schlechten Ruf erarbeitet.“ Das Gutachten lag übrigens ein Jahr herum, bevor sich jemand daran erinnerte.

Im März 2017 eröffnete der wunderschöne Pierre Boulez Saal in der Barenboim-Said-Akademie. Anschließend herrschte an Veranstaltungsabenden in der Französischen Straße das Chaos, wegen wild parkender Autos. Akademie-Direktor Michael Naumann beantragte deshalb eine Halteverbotszone, der Antrag des Ex-Kulturstaatsministers wurde abgeschmettert. Die Sachbearbeiterin teilte mit, ihr sei es „auf Grund anderer termingebundener Aufgaben nicht möglich, kurzfristig Anträge zu prüfen“.

Auf die anschließende Beschwerde Naumanns meldete sich ein Sachbearbeiter mit folgendem Hinweis: „Eine Anordnung von Halteverboten wird kaum dazu führen, dass das Auftreten von Falschparkvorgängen verhindert werden kann.“ Dass solche Verbote in Berlin ernst genommen würden, halte er „aus jahrelanger Beobachtung heraus für sehr unwahrscheinlich“.

Die Kapitulationserklärung endet mit der Maßregelung: „Das von Ihnen beobachtete Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer legen Sie bitte nicht der Straßenverkehrsbehörde zur Last.“

Die BVG bemüht sich seit Jahren um ein hippes Image. Sie verkleidete einen Rapper als Kontrolleur für ein lustiges Musikvideo („Is mir egal!“), brachte limitierte Turnschuhe mit integrierter Jahreskarte auf den Sneaker-Markt und ist mit allen per Du, auch in ihren Stellenanzeigen.

Unerreicht von der BVG ist die S-Bahn aber in der fantasievollen Begründung von Verspätungen und Ausfällen. Hier ein Auszug: Betriebsstörung, Weichenstörung, Signalstörung, Schrankenstörung, Stellwerksstörung, Stellwerksausfall, Türstörung, Zugstörung, Fahrzeugstörung, Triebfahrzeugstörung, Bahnübergangsstörung, Schrankenstörung, Gleisschäden, Oberbaummängel, Schienenbruch, Stromengpässe, Stromnetzausfall, Beschallungsausfall, Beleuchtungsausfall, Störung der Energieversorgung, Computerabsturz des Fahrdienstleiters, Bahnsteigkantenschaden, erkrankter Prüfingenieur, Unregelmäßigkeiten in der Personaldisposition, verspäteter Zugführer, fehlender Zugführer … Aber vielleicht sind wir auch zu kritisch.

DIE STADT ALS BEUTE

Die Wahrscheinlichkeit, in Berlin einen Termin vor Gericht zu bekommen oder auch nur einen Strafbefehl, ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Selbst bei schweren Verbrechen ist ein ordnungsgemäßes Verfahren nicht mehr sicher.

Zwar werden wieder mehr Staatsanwälte und Richter eingestellt, aber die Justiz in der deutschen Hauptstadt erklärt sich selbst für überfordert. Der Rechtsstaat sei „in weiten Teilen nicht mehr funktionsfähig“, sagt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, Vorsitzender der Vereinigung der Staatsanwälte. Beweise werden jahrelang nicht ausgewertet, Tausende Haftbefehle nicht vollstreckt, Verdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Zeit für eine Anklage nicht reicht. In Berlin ist es zuweilen einfacher, aus dem Knast zu fliehen, als überhaupt reinzukommen.

In Berlin gibt es allerdings drei Gerichtsbarkeiten: die deutsche Justiz, die „Friedensrichter“ der Clans und das „Kiezgericht“ der Linksextremisten. Je nachdem, wo man landet, kann eine Sache so oder so ausgehen. Die Friedensrichter der Clans fällen ihre Urteile oft direkt auf der Straße, der Vollzug der Strafe erfolgt unmittelbar. Eine Revisionsverhandlung findet zuweilen im Krankenhaus statt.

Das Kiezgericht der Linksextremisten tagt in der „Kadterschmiede“, das ist die Kneipe eines teilbesetzten Hauses in der Rigaer Straße. Als Anwohner einem durch Schläge Verletzten halfen und die Polizei riefen, wurden sie vom selbsternannten Volksgericht vorgeladen. „Sie werden aufgefordert, am Donnerstag, den 15. März, pünktlich um 21:00 Uhr in der Kadterschmiede, Rigaer Str. 94, vorzusprechen. Dabei soll Ihr Verhalten zur Sprache kommen und ein Weg gefunden werden, wie sie den entstandenen Schaden eindämmen können. Der Termin kann nicht verschoben werden, da das weitere Verfahren möglichst schnell geklärt werden soll.“

Obwohl die „Szene“ die Gegend rund um die Rigaer Straße zu einer Art linksmilitantem Reichsbürgergebiet ausbaut, steht sie in Berlin unter politischem Denkmalschutz. Selbst als ein Stoßtrupp der „Rigaer“ die Justizverwaltung stürmte und den für Inhaftierte zuständigen Referatsleiter drangsalierte, passierte: nichts.

Dem Beamten drohten sie anschließend schriftlich, sie würden zurückkommen, um ihn „an seine Schreibtischtäterschaft zu erinnern“. Die Justizverwaltung hielt den Überfall aufs eigene Haus nicht einmal für wichtig genug, um ihn bekanntzugeben.

Vielleicht ist die „War was?“-Haltung aber auch Teil einer perfiden Strategie der Behörden. Erstmals nach dem 1. Mai 1987 verzichtete die Polizei 2019 auf die obligatorische Schadensbilanz-Pressekonferenz, sehr zum Unmut der Kiez-Guerilla, die sich wie immer auf ihr Zeugnis gefreut hatte.

Und als Autonome vermummt und mit viel Pyro-Einsatz ein leer stehendes Gebäude besetzten, bot der Verwalter der stadteigenen Eigentümergesellschaft den Aktivisten Gespräche an und versicherte ihnen, nicht räumen zu lassen. Da jammerten die Autonomen, weil sie vergessen hatten, Schlafsachen einzupacken. „Wir sollen also nachts frieren?“, twitterten sie empört, und: „Wir lassen uns nicht verarschen und verlassen jetzt das Haus.“

ICH HAB NOCH EINEN ANTRAG IN BERLIN

Wenn Klaus Wowereit sauer war wegen eines Kommentars oder eines Artikels, musste man sich in Acht nehmen. Es konnte sein, dass er einen verfolgte, zum Beispiel bei einem Empfang. „Mensch, was haben Sie denn da wieder für einen Mist geschrieben!“, schimpfte er los, und wenn er fertig war, sagte er: „So, und jetzt gehen wir ein Bier trinken.“

Wenn Michael Müller sauer ist, gibt’s nichts zu trinken. Bei einer Berlinale-Moderation sagte Anke Engelke über Wowereits Nachfolger: „In Zeiten des Exzesses und der Ausschweifungen ist es gut, einen Mann an der Spitze zu wissen, der dieser Dinge überhaupt nicht verdächtig ist.“

Es lässt sich jedenfalls feststellen, dass Berlin heute nüchterner regiert wird als zu Wowereits Zeiten. Doch der Stadt war es schon immer ziemlich egal, wer unter ihr regiert. Berlin ist nicht wegen der Politik so, wie es ist, sondern trotz der Politik.

Die Berliner sind skeptische Menschen, sie machen nicht einfach, was man ihnen sagt. Und die Verwaltung macht sowieso, was sie will. „Wer glaubt, mit einer Maßnahme ein Problem zu lösen, der wird vor den Schrubber laufen“, erklärte Michael Müller.

Eines der größten ungelösten Berliner Probleme ist die zwischen den Senats- und Bezirksverwaltungen organisierte Unzuständigkeit. Manchmal mäandert sie auch in eine Multizuständigkeit, aber das Ergebnis ist immer das gleiche. Bei einer kleinen Tour durch die Stadt können wir beides erleben.

Beginnen wir in Schöneberg am Nollendorfplatz. Der Nollendorfplatz an der U-Bahnlinie U2 ist keine Schönheit, seit Jahren schon soll er umgebaut werden, die Beschlüsse dazu sind längst gefasst. Bekannt ist der Platz außerhalb Berlins allenfalls dadurch, dass hier mal ein Bundestagsabgeordneter mit Crystal Meth erwischt wurde, ansonsten ist er zum Vergessen.

Also, wie steht’s denn nun mit dem Umbau? Die Verkehrsverwaltung des Senats erklärt, sie könne „diese Sachverhalte nicht aus eigener Zuständigkeit und Kenntnis beantworten“. Die Bezirksverwaltung erklärt, sie warte „auf vertiefende verkehrliche Untersuchungen der zuständigen Verkehrsverwaltung“.

Natürlich ist das noch nicht alles. Beide Verwaltungen erklären unisono, sie würden noch auf einen Zeitplan der Verkehrsbetriebe warten – die teilen wiederum mit, dass sie ihrerseits auf nähere Informationen der Verkehrs- und der Bezirksverwaltung warten.

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So viel Zeit haben wir nicht, also fahren wir vier Stationen weiter zur Leipziger Straße am Potsdamer Platz. Hier wurde eines der ersten Dieselfahrverbote verhängt, monatelang konnte es nicht durchgesetzt werden – die Stadt scheiterte daran, die entsprechenden Schilder aufzustellen. Wer daran schuld war, weiß niemand. Die Verkehrsverwaltung bemerkte irgendwann: „Es liegt kein bearbeitungsfähiger Antrag vor, daher keine Anordnung.“ Wer den Antrag hätte stellen müssen, blieb unklar.

Wir steigen wieder ein in die U2, weiter geht’s bis zur Schönhauser Allee, ein kurzer Fußweg, und schon sind wir am Gleimtunnel. Weil die Autofahrer eine neue Einbahnstraßenregelung nach einer großen Überflutung einfach ignorierten, war der Tunnel eines Tages komplett gesperrt. Doch wer hat’s angeordnet in der Welthauptstadt der Unzuständigkeit?

Der Sprecher der Wasserbetriebe sagt: „Aus bautechnischer Sicht ist die Vollsperrung überflüssig, wir haben das nicht gefordert, definitiv nicht.“ Der Sprecher der Verkehrsverwaltung des Senats zeigt sich überrascht: „Interessante Sache. Damit haben wir nichts zu tun, die Verantwortung liegt beim Bezirk.“ Der Verkehrsstadtrat des Bezirks sagt: „Entscheidend für die Sperrung ist die Einschätzung der Verkehrslenkung des Senats.“ Die Verkehrslenkung des Senats sagt gar nichts: „Das Postfach des Empfängers ist voll und nimmt keine Nachrichten an.“

Mit der Tram M10 fahren wir weiter in die Habersaathstraße am Invalidenpark und schauen uns an, warum es dort mehr als drei Jahre dauert, vor den beiden Kitas einen dringend benötigten Zebrastreifen auf die Straße zu pinseln. Wir stellen fest: 18 Verwaltungsvorgänge sind zu überqueren, mehr, als am Ende Striche auf die Straße kommen.

Es kann gut sein, dass sich die Sache dann aber schon erledigt hat, weil die Schule inzwischen wegen Baufälligkeit geschlossen wurde und die Kinder mit Bussen ein paar Kilometer weiter zu Ersatzcontainern kutschiert werden. Die Stadträtin des Bezirks Tempelhof-Schöneberg sagt zum Zebrastreifen-Prozedere: „Das Verfahren hat sich bewährt.“ Die Senatsverwaltung kündigt an: „Das Verfahren soll noch effizienter werden.“

In Pankow sind derweil acht Stellen mit der Genehmigung eines Kinderflohmarkts beschäftigt: Umweltamt, Denkmalschutzamt, Neubau, Grünunterhaltung, Spielplatzunterhaltung, Straßenunterhaltung, Werkhof sowie die Grundstücksverwaltung. Wenn die Kinder Glück haben, werden sie ihre Conni-Heftchen kurz vor dem Abi los.

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Und noch ein Stopp in Charlottenburg-Wilmersdorf – seit acht Jahren werden hier Anträge über die Aufstellung von Containern nicht mehr bearbeitet. Einem Bundestagsabgeordneten der Grünen war dies sehr recht: Er stellte sich einen solchen abschließbaren Container, sechs Meter lang, 2,50 Meter breit und 2,80 Meter hoch, direkt vor seinem Haus auf die Straße und nutzte ihn jahrelang ungestört wie einen zusätzlichen Keller als Abstellraum. Die Nachbarn dachten, dass die Bauarbeiter bestimmt bald kommen, spätestens „demnächst“.

„Demnächst“ gilt auch fürs ICC: Seit Jahren wird das leerstehende Kongresszentrum mit Millionensummen am Leben erhalten wie ein hirntoter Patient. Die Teppichböden werden regelmäßig gesaugt. Aber niemand ist in der Lage, eine Entscheidung zu treffen oder sie gar durchzusetzen.

Jemand müsste kommen und eine Anweisung geben, aber der König ist nicht mehr da und Gott schweigt, wie immer. Die Beamten sind ratlos und lassen erst mal weitersaugen. Seit 2019 steht das ICC unter Denkmalschutz, das heißt, es wird, ungenutzt und groß wie ein Eisberg, in Berlin überdauern bis zu dem Tage, an dem auf Erden keine Staubsauger mehr hergestellt werden.

Letzter Halt: Spandau. Seit unfassbaren sechzehn Jahren versucht der Bezirk, eine völlig verkorkste Kreuzung umzubauen, weil die Senatsverwaltung und die Bezirksverwaltung sich bis heute nicht einigen können, wer dafür zuständig ist. Fest steht: Es braucht in Berlin nicht mal einen Kreisverkehr, um durchzudrehen. So gesehen lag der BER zeitlich eigentlich immer ziemlich gut im Rennen.

DAS ZAUBERWORT

Der vorerst Letzte, der tatsächlich so etwas wie ein Grundsatzprogramm zur Lösung der Berliner Probleme formuliert hat und das auch noch in einem einzigen Satz, war Klaus Wowereit. In seiner ersten Regierungserklärung sagte Wowereit: „Wir brauchen einen Mentalitätswechsel der Politik in Berlin.“ Bald darauf begann der nächste Immobilienskandal, Stichwort Tempodrom.

Mentalitäten sind die Verhaltensnormen einer sozialen Gruppe, sie werden vor allem durch Erziehung weitergegeben. Mentalitäten entstehen, weil sie den Menschen Vorteile bringen, nicht zuletzt den Vorteil, in der eigenen Gruppe kein Außenseiter zu sein.

Weil die Mentalität tief in uns verankert ist und, als sie einst entstand, zu besseren Lebenschancen beigetragen hat, ändern sich Mentalitäten im Allgemeinen nur langsam. Gute Vorsätze allein reichen dazu wahrscheinlich nicht, das hat man an Klaus Wowereit und der Berliner SPD gesehen.

Das Titelbild des Buches von Lorenz Maroldt und Harald Martenstein, aus dem hier Auszüge zu lesen sind.
Das Titelbild des Buches von Lorenz Maroldt und Harald Martenstein, aus dem hier Auszüge zu lesen sind.

© Ullstein

Wenn Leistung und Erfolg überdurchschnittlich belohnt werden, entstehen zum Beispiel mächtige Anreize. Aber Berlin ist eine egalitäre Stadt, was fraglos seine guten Seiten hat. Das Leistungsprinzip wird traditionell kritisch gesehen, auch in der Bildungspolitik. Zuerst müsste man sich hier sowieso darauf einigen, was genau unter „Leistung“ und „Erfolg“ zu verstehen ist. Besteht „Erfolg“ darin, die Ansiedlung eines großen Unternehmens zu erreichen oder darin, sie zu verhindern?

Berlin ist heute also genau die Stadt, die viele Berliner, womöglich die Mehrheit, sich gewünscht haben. Berlin ist ganz nah bei sich selbst, insofern braucht man überhaupt keine Lösung. Alles paletti.

EVALUATION – EIN STREITGESPRÄCH

Harald Martenstein: Die New Yorker und die Pariser sind stolz auf ihre Stadt, das kann bis zur Arroganz gehen. Die Berliner sind viel unsicherer, die fühlen sich oft klein, und das macht sie manchmal zu aggressiven Angstbeißern. Berlin hat diese besondere Geschichte, die aus Diktaturerfahrungen, Terror, Krieg besteht, das merkt man bis heute. Die Stadt besteht nicht nur aus diesem sehr abwechslungsreichen Flickenteppich aus total verschiedenen Bezirken und Vierteln, sie besteht auch aus einem Flickenteppich aus Milieus, die nicht viel miteinander zu tun haben und oft auch nicht viel voneinander halten. Du kannst hier nicht nur in deinem Viertel leben wie in einem Dorf, du kannst auch in deinem Milieu leben, ohne es jemals wirklich zu verlassen. Was in Berlin fehlt, ist eine gemeinsame Identität, ein Bürgersinn, ein Projekt, ein Wir-Gefühl, nenne es, wie du willst.
Lorenz Maroldt: Schotten sich die Gesellschaften in anderen Städten nicht viel mehr voneinander ab? Hier mischen sich die Szenen doch total. Du triffst den Manager, der dir morgens bei einer Pressekonferenz sein neuestes Luxuswohnprojekt präsentiert hat abends in einem linken Laden beim Konzert einer japanischen Undergroundband wieder. Die verschiedenen Communities haben ihre Treffpunkte, aber ihre Mitglieder oder Angehörigen leben überall in der Stadt. Hier wird viel weniger Wert darauf gelegt, wie jemand aussieht oder wo jemand herkommt, hier ist viel wichtiger, was jemand kann oder will. Erwächst nicht gerade aus der Verschiedenheit im Miteinander die Identität, die du vermisst? Das ist der eigentliche Kern des Freiheitsbegriffs dieser Stadt, um mal ein bisschen pathetisch zu werden.
HM: Dass an der Ampel die Drag Queen neben dem AfD-wählenden Reinickendorfer Hartz-IV-Empfänger steht, dann gehen beide natürlich bei Rot und werden gemeinsam vom Neffen eines homophoben Clanchefs in seinem Porsche überfahren, anschließend kommen sie ins selbe Krankenhaus und kriegen beide handfest Streit mit der behandelnden Ärztin, die aus Ecuador stammt und an Jesus glaubt, ja, das ist denkbar. Ob das schon eine Identität stiftet? Diese Stadt hat einen Freiheitsbegriff, der vor allem die Freiheit der Gleichgesinnten und Gleichlebenden meint. Im Alltag funktioniert es meistens so halbwegs, das stimmt. Jedenfalls ist der Berlin-Mythos stark genug, um weltweit zu wirken, die Jugend der Welt glaubt an Berlin.
LM: Wir haben viel über Misserfolge erzählt, aber unter dem Strich ist Berlin trotzdem eine der weltweit attraktivsten Städte.
HM: Das heißt, wir finden uns ab?
LM: Das heißt, wir kritisieren, was kritisiert werden muss, und erfreuen uns an dem großen Rest, der großartig ist.

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