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Absicherung einer Unfallstelle in der Yorckstraße in Kreuzberg.

© Kai-Uwe Heinrich

Unfallsperrungen in Berlin: Warum Straßen nach Unfällen lange gesperrt sind

Unfallstellen sind oft stundenlang gesperrt. Der Verkehrsermittlungsdienst spricht von „Tatorten“ und sichert akribisch Spuren.

Knapp 400 Mal kracht es an einem durchschnittlichen Tag auf Berlins Straßen. Sieben dieser Unfälle sind so heftig, dass jemand schwer verletzt wird, und fast jede Woche stirbt ein Mensch an den Folgen. Die schweren Unfälle bekommen Tausende mit, die im Stau stehen, weil Hauptverkehrsstraßen oder Kreuzungen gesperrt bleiben – oft über mehrere Stunden und damit auffallend länger als noch vor einigen Jahren. Warum?

Die Antwort führt in ein DDR-farbenes Dienstgebäude nach Adlershof. Es ist das Domizil des Verkehrsermittlungsdienstes (VED) der für den Berliner Südosten zuständigen Polizeidirektion 6. Jede Direktion hat einen VED; tagsüber sind alle besetzt, nachts und am Wochenende drei. Es gibt ein kleines Wartezimmer für Unfallzeugen, in dem HB-Bildatlanten mit D-Mark-Preisaufdrucken als Lektüre ausliegen.

In den Fluren hängen farbensatte Gemälde von Einsätzen der Verkehrspolizei – Werke einer künstlerisch begabten Kollegin. Hinter den Türen arbeiten etwa 45 Beamte, die sich mit knapp 15000 Fällen im Jahr befassen. Heiko Valentin, 44 Jahre alt und Hauptsachbearbeiter, hat für die stundenlangen Sperrungen zwei Erklärungen.

Zum einen setze man ganz andere Technik ein als früher, was Zeit brauche. Zum anderen sei auch innerhalb der Polizei das Bewusstsein gewachsen, dass ein schwerer Unfall nicht in erster Linie eine ärgerliche Verkehrsbehinderung sei, sondern meist eine in aller Öffentlichkeit begangene Straftat: fahrlässige Körperverletzung oder gar ein Tötungsdelikt. Damit verbunden sind menschliche Dramen und gravierende Schuldfragen.

Rettung geht vor Beweissicherung

Wenn ein Unfall gemeldet wird, fährt zunächst eine Funkstreife zum Ort und verschafft sich einen Eindruck, wer sich wie schuldhaft verhalten haben dürfte. Sofern jemand schwer verletzt wurde, gibt der Notarzt vor Abfahrt ins Krankenhaus den Polizisten eine kurze Rückmeldung. Je ernster der Zustand des Opfers, desto wahrscheinlicher ist, dass Valentins Leute angefordert werden.

Die erinnern ihre Kollegen per Funk daran, Zeugen dazubehalten und bloß nichts zu bewegen. Einzige Einschränkung: „Rettung geht vor Beweissicherung.“ Schon während sie mit ihrem speziell ausgerüsteten Mercedes-Sprinter zur Unfallstelle fahren, stimmen sie sich mit der Staatsanwaltschaft ab, ob ein Sachverständiger oder – bei tödlichen Unfällen – ein Rechtsmediziner hinzugeholt wird. Die Unfallstelle wird „Tatort“ genannt.

Welche Chancen hatte der Beteiligte, den Unfall zu verhindern?

„Unser Hauptanliegen ist die Vermeidbarkeitsprüfung“, erklärt Valentin. Also zu klären, welche Chancen jeder Beteiligte hatte, den Unfall zu verhindern: Hat ein Falschparker dem Fußgänger die Sicht versperrt? Hätte der Autofahrer einige Sekunden zum Reagieren gehabt, weil der Fußgänger von links kam, also schon auf der Gegenfahrbahn zu sehen war? Hat die Sonne geblendet? War der parallele Radweg für einen abbiegenden Lkw-Fahrer im Spiegel einsehbar? Waren die Spiegel überhaupt korrekt eingestellt? Hat das vom Unfallfahrer behauptete Bremsversagen womöglich damit zu tun, dass eine im Auto herumliegende Flasche unters Pedal gerollt ist?

Solche Fragen werden untersucht – auch anhand der Lage von Splittern, Kratzspuren oder Schmutzabdrücken auf der Kleidung von Verletzten. „Was wir direkt nach dem Unfall nicht aufnehmen, können wir im Nachhinein nicht mehr aufholen“, sagt Valentin. Deshalb werden im Zweifel auch die beteiligten Fahrzeuge beschlagnahmt. Die Sachverständigen hätten Datenbanken, welches Schadensbild zu welcher Geschwindigkeit passe. Und neuere Autos speichern, wie schnell sie waren, als die Airbags auslösten.

Unfallfluchten sind aus polizeilicher Sicht spannender

Bei einer Unfallflucht „wird es aus polizeilicher Sicht noch spannender, weil mehr Feinarbeit nötig ist“, sagt der Hauptkommissar: Ein winziger Splitter oder Lackpartikel kann zum Täter führen, beim „Klinken putzen“ wird vielleicht ein Anwohner gefunden, der den Unfall beobachtet hat. Und wenn anhand des Lacks oder dank einem Zeugen der fragliche Fahrzeugtyp ermittelt ist, grast nach schweren Unfällen das hauseigene Fahndungskommando die passenden Autos ab, die in der Umgebung gemeldet sind.

Im silbergrauen Mercedes des VED steckt nicht nur ein Büro mit Tisch, Drucker und Laptop, sondern auch eine Fotoausrüstung mit Lichtmast und Stativ. Im Kofferraum liegt zwischen rot-weißen Hütchen, Klappleiter und Kreidefarbspraydosen ein 30 Meter langes Maßband, das als Referenz in jedes Foto gelegt wird. Fotografiert wird vom extrahohen Stativ im 45-Grad-Winkel von gegenüberliegenden Seiten aus. Nur so kann eine Software später eine gerichtsfeste Darstellung des Tatortes erstellen.

Kriminaltechniker helfen bei schweren Unfällen

Die beteiligten Autos oder Lastwagen sind in diesen Bildern gar nicht mehr im Original vorhanden, sondern nur durch Farbe markiert. Anschließend werden sie maßstabsgetreu wieder eingefügt; der Computer hat alle Modelle im Speicher. Für noch mehr Überblick wird bei sehr schweren Unfällen die Kriminaltechnik hinzugeholt, die mit einem 3D-Laserscanner eine scheinbar begehbare Animation des Ortes erzeugt. Zusätzlich kann eine Drohne Luftbilder aufnehmen.

Wenn die beispielsweise bei starkem Wind nicht starten kann, lassen die Verkehrsermittler notfalls den Hubschrauber kommen. Und wenn Zeugen und Bilder keinen klaren Aufschluss geben, wird später in „Spurenkonferenzen“ über weitere Ermittlungen beraten und die Unfallsituation notfalls Wochen später bei ähnlichen Sicht- und Wetterverhältnissen nochmals mit einem Sachverständigen nachgestellt.

Die Technik ist selten Schuld, wenn Unfälle passieren

Am Ende geht es immer darum, dass die Justiz Täter gerecht bestrafen und Unschuldigen einen Teil der Last nehmen kann, die sie nach einem schweren Unfall mit sich herumtragen. An der strafrechtlichen Bewertung hängt die zivilrechtliche, bei der es im Fall von Schwerstverletzten um siebenstellige Summen gehen kann – und um den finanziellen Ruin von Tätern wie Opfern.

„Ich würde mir als Betroffener auch wünschen, dass da gründlich gearbeitet wird“, sagt Valentin. Manches, was er und seine Kollegen zu sehen bekommen, ist schwer zu ertragen. Er achte darauf, dass Zeit bleibe, miteinander zu reden, und dass bei Bedarf professionelle Hilfe geholt wird. Wenn er einen Wunsch frei hätte, etwas im Berliner Straßenverkehr zu ändern?

Die Antwort hat Heiko Valentin sofort: „Wir haben Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung. Den sollte man immer beherzigen – und daran denken, dass in den anderen Autos auch Menschen sitzen. Es liegt nur ganz selten an der Technik, wenn Unfälle passieren.“

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