zum Hauptinhalt
Gefahr im Blick. Das Dreieck in der Türsäule leuchtet rot, wenn das Radar des Lkw beim Abbiegen einen Radfahrer registriert.

© Udo Lauer/Daimler

Unfälle mit Radfahrern in Berlin: Lkw-Käufer sparen sich Abbiegeassistenten

Dutzende Menschen sterben jedes Jahr, weil sie von abbiegenden Lkw-Fahrern übersehen werden. Abbiegeassistenten könnten helfen – werden aber kaum gekauft.

Der erste Schreck kommt schon, wenn man die Tür des Sattelzuges öffnet: Der Fußboden befindet sich in zwei Meter Höhe; bis zur Fensterkante sind es drei. So groß ist kein Mensch. Ist man dann die vier hohen Stufen bis zum Fahrerplatz geklettert, blickt man durch die Frontscheibe und in insgesamt sechs Außenspiegel: zwei links, vier rechts.

Um alles gleichzeitig im Blick zu haben, bräuchte man 14 Augen. Geschulte Augen, wohlgemerkt, denn zwei der rechten Spiegel sind so stark gewölbt, dass ein Passant sich darin kaum vom Asphalt abhebt, auf dem er steht. Beim Gedanken daran, mit diesem Koloss – 16,5 Meter lang, 2,55 breit und beladen 40 Tonnen schwer – unter Zeitdruck durch den Großstadtverkehr fahren zu müssen, steigt man freiwillig wieder aus.

Rund 40 Radfahrer und manchmal auch Fußgänger sterben jedes Jahr in Deutschland, weil Lkw-Fahrer beim Rechtsabbiegen unvorsichtig oder überfordert sind – und weil die Radfahrer entweder blind auf ihre Vorfahrt vertrauten oder sich irrtümlich in Sicherheit wähnten. Laut einer Studie der Unfallforschung der Versicherer kommen überwiegend Frauen und Senioren unter die Räder.

Serienmäßig bisher nur bei Daimler

Außerdem Kinder wie die Zehnjährige Ende Januar in Brandenburg/Havel und der Achtjährige vor knapp zwei Wochen in Berlin-Spandau. Die Zahl der Opfer steigt seit Jahren, weil mehr Radfahrer und mehr Schwerverkehr durch die Städte rollen. Auf Initiative des Berliner Senats hat der Bundesrat den Bund aufgefordert, Lkw verpflichtend mit elektronischen Abbiegeassistenten auszustatten. Serienmäßig bietet bisher nur Daimler ein solches System an, das auch nicht bremst, sondern den Fahrer nur warnt. Am Montag lud der Hersteller auf ein Firmengelände nach Rudow, um die Technik vorzuführen.

Der Lebensretter besteht im Wesentlichen aus zwei Radarsensoren, die unter einer kaum DIN-A4-großen Klappe vor der Hinterachse der Zugmaschine sitzen. Die Sensoren registrieren Objekte in einem 3,7 Meter breiten Streifen rechts neben dem Sattelzug – angefangen zwei Meter vor der rechten Fahrerhausecke und nach hinten bis zum Heck des Aufliegers. Wird ein Objekt bemerkt, leuchtet ein Dreieck in der rechten Türsäule und in der Armaturentafel gelb auf. Blinkt oder lenkt der Fahrer nach rechts, wird das Dreieck rot und ein Piepen ertönt.

Erster Eindruck auf dem Gelände, auf dem neben dem Lkw mehrere Fußgänger herumlaufen und ein radelnder Daimler- Mitarbeiter mit Funkverbindung zum Lkw-Fahrer kurvt: Es funktioniert – und müsste eher heute als morgen Pflicht werden. Wobei ein Daimler-Techniker sagt, dass sich das System mühelos mit einer automatischen Notbremsfunktion koppeln ließe, was aber wegen der noch mangelhaften Objekterkennung unterbleibe: Der Lkw soll nicht wegen eines nahe am Bordstein stehenden Pollers gestoppt werden.

2300 Euro, die ein Menschenleben retten können

Eine Zugmaschine samt Auflieger kostet rund 150.000 Euro, der seit 2016 erhältliche Assistent als Extra etwa 2300. Geld, das sich laut Daimler sieben von acht Käufern des Actros – der typische Fernfahrer-Truck – sparen. 2300 Euro, die ein Menschenleben retten können und den Fahrern das Leben mit der Schuld, einen Menschen getötet zu haben, ersparen. Die von Daimler genannten zwölf Prozent Ausstattungsquote bei Neufahrzeugen dürften auch die Erklärung dafür sein, dass kein anderer Lkw- Hersteller ein solches System anbietet.

Viel besser ist die Ausstattungsrate mit etwa 85 Prozent bei Neufahrzeugen des Daimler Econic, den vor allem kommunale Betriebe wie die Berliner Stadtreinigung als Müllwagen einsetzen. Laut BSR werden aktuell drei Nachrüstvarianten im Alltag getestet, und bei der nächsten Fahrzeugbestellung „würden wir welche mit dem Assistenten nehmen“.

Außerdem sei der Econic mit seinem niedrigen Fahrerhaus und den großen Glasflächen recht übersichtlich und die Besatzung mindestens zu zweit, so dass der Beifahrer schauen könnte. Allerdings gilt all das auch in Köln, wo ein Econic-Müllwagen Ende Mai einen Siebenjährigen überfuhr.

Der Entsorger Alba kauft nach eigenen Angaben seit 2016 nur noch Lastwagen mit dem Assistenten. Von 100 Lkw in Berlin und Brandenburg hätten ihn aktuell 42 an Bord. Die Daimler-Leute sagen, dass der Assistent für immer mehr Baureihen angeboten werde. Sie berichten stolz, dass in London dank einer Sicherheitsinitiative nur noch zertifizierte Lastwagen in die City dürften.

In Berlin dagegen teilt die Verkehrsverwaltung auf Anfrage mit, es gebe „rechtlich zurzeit keine Möglichkeit, nur noch schwere Lkw mit Abbiegeassistenten in der Innenstadt fahren zu lassen“, da auch Fahrzeuge ohne die Technik weiter zulassungsfähig seien. Deshalb habe man ja die Bundesratsinitiative gestartet. Bis die wirkt, werden noch Dutzende Menschen sterben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false