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Bei Sorgerechtsstreitigkeiten geht es um die Kinder. Und dennoch sind sie oft die großen Verlierer.

© Peter Kneffel/dpa

Umstrittenes Sorgerechtsurteil in Berlin: "Ich will für immer hierbleiben"

Ein elfjähriger Junge soll zurück zu seiner Mutter nach Portugal, obwohl er und sein Vater das nicht möchten. Die Geschichte eines fragwürdigen Urteils.

Samuel hat die Kapuze aufgesetzt, die Arme verschränkt, den Blick auf den Tisch gesenkt. Der Elfjährige sitzt an einem kalten Januartag in einem Café in Kreuzberg. Jetzt soll er wieder erzählen, sein Vater bittet ihn darum, warum er sich entschieden hat, doch nicht nach Portugal zu gehen, zur Mutter und ihren süßen Babykatzen, mit denen sie ihn zu locken versucht.

Samuel, blonder Schopf, weiche Züge, spielt aber lieber mit einer Gummiklette, als Fremden Auskunft über existenzielle Fragen zu geben. Er spricht mit dünner, hoher Stimme, die Augen suchen nach Halt, seine Worte scheinen in alle Richtungen zu schweben, dann fassen sie wieder festen Grund und formen einen klaren Satz: „Ich will für immer hierbleiben.“

Den Satz hat er schon öfter gesagt, seiner Klassenlehrerin, der vom Gericht bestellten Mediatorin, der Nachbarin, die ihm Nachhilfe gibt. Auch den Richtern, die den Streit um das Sorgerecht für Samuel zu entscheiden haben. Aber ausgerechnet die glauben ihm nicht.

Vater und Sohn kämpfen gegen das Sorgerechtsurteil

Sie haben entschieden, dass er zur Mutter nach Portugal umziehen soll, die die Familie 2015 verlassen hat. Und weil der Vater nicht kooperiert, können Zwangsmaßnahmen ergriffen werden, entschied das Familiengericht schon im vergangenen Dezember.

Nur eine Woche später, kurz vor den Weihnachtsferien, rückten Polizei und Gerichtsvollzieher in Samuels Schule an. „Das war wie eine Abschiebung“, sagt die Schulleiterin, in deren Stimme noch immer die Empörung mitschwingt. Sie stellte sich schützend vor Samuel und der Gerichtsvollzieher schreckte davor zurück, sie mit Polizeigewalt aus dem Raum befördern zu lassen.

Die Mutter war zunächst alleine gekommen, um ihren Sohn zu holen, hatte dann aber die Polizei verständigt, weil er sich weigerte, mitzugehen, fluchte, beleidigte die Schulleiterin und zog wieder ab. Inzwischen hat ihr Anwalt beantragt, auch direkt gegen das Kind Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, sollte es sich wehren. Dann könnte Samuel von der Polizei abgeführt und der Mutter übergeben werden.

Die Schulleiterin, die anonym bleiben möchte, hält das Urteil für einen „Skandal“ und einen „Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der UN“. Für Samuel ist das Gerichtsverfahren schon jetzt eine traumatische Erfahrung.

Der Vater Manuel S.*, Anfang 50, handelt seit 20 Jahren mit Feinkost von der Iberischen Halbinsel. Mit 19 verließ er sein portugiesisches Dorf Richtung Hamburg, um im Restaurant seines Onkels mitzuhelfen. Zwei Jahre lang wollte er Geld verdienen und dann nach Portugal zurückkehren, aber der Plan verblasste mit den Jahren. In Hamburg gab es deutlich mehr Freiheiten für einen jungen Portugiesen als zu Hause bei den Eltern, wo alle sieben Kinder neben der Schule in der Landwirtschaft mithelfen mussten.

Die Mutter verließ die Familie und zog zu ihrem neuen Freund

In Berlin konnte Manuel S. ein Lebensmittelgeschäft in der Kantstraße übernehmen, das war Ende der 90er Jahre, parallel baute er mit seinem jüngeren Bruder einen Großhandel auf. Auf einer seiner Einkaufsreisen durch Portugal lernte er Fabiana (Name geändert) kennen, eine 18-jährige Schönheit aus einer einfachen Bauernfamilie wie er.

Die Liebe brannte lichterloh, trotz des Altersunterschieds von 20 Jahren, zwei Jahre später heirateten sie. Fabiana zog nach Berlin und arbeitete im Geschäft mit. Als sie schwanger wurde, kamen auch ihre Eltern nach. Vor allem die Großeltern hätten sich um Samuel gekümmert, sagt Manuel. Fabiana sei lieber ausgegangen oder habe mit ihren Freunden in Portugal gechattet.

Auf Familienfeiern habe sie meistens desinteressiert am Rand gesessen, sagt ihre Schwägerin. Fabiana wollte ihre Version der Geschichte nicht erzählen. Anfragen über den Anwalt und ihren Ex-Partner bleiben unbeantwortet.

Manuel kümmerte sich vor allem um das materielle Wohlergehen der Familie, arbeitete viel, kaufte ein Ferienhaus in Spanien, ein Haus für die Familie in Berlin, fuhr seine Frau zum Arzt, weil sie keinen Führerschein hatte, machte ihr teure Geschenke. Dass sie sich in Berlin nicht wohlfühlte, will er nicht bemerkt haben. Wenn sie abends nicht nach Hause kam, habe sie das mit einer U-Bahn-Panne erklärt. „Alles Lügen“, empört sich Manuel.

Manuel S. kämpft darum, dass sein Sohn bei ihm in Berlin bleiben darf.
Manuel S. kämpft darum, dass sein Sohn bei ihm in Berlin bleiben darf.

© Kitty Kleist-Heinrich

Drei Jahre habe sie ihn mit einem anderen Mann betrogen. Als ihr Doppelleben aufflog, sei sie abgehauen. Dem vor Gericht bestellten Gutachter erklärte Fabiana das Ende ihrer Ehe so: Manuel sei verrückt vor Eifersucht gewesen, habe sie mit Anrufen bombardiert. Schließlich habe sie im Internet einen anderen Mann kennengelernt.

Wenn Ehen geschieden werden, wird die gemeinsame Vergangenheit zur Kampfzone. Die ehemals Verliebten bekriegen sich mit vergifteten Pfeilen. Das muss niemanden kümmern, weil es letztlich egal ist, wer größeren Anteil am Scheitern der Beziehung hat.

Doch geht es um ein Kind, das sich nicht einfach mitscheiden lässt, muss ein Schiedsrichter her: das Familiengericht. Das beauftragt einen psychologischen Gutachter. Der soll herausfinden, ob das Kind besser beim Vater oder bei der Mutter aufgehoben ist.

Berücksichtigt werden soll dabei vor allem, welche Bindungen das Kind zu seinen Eltern und seinem Umfeld hat, wie die Eltern die Beziehung des Kindes zum jeweils anderen Elternteil respektieren (Bindungstoleranz) und wie es auch in Zukunft von seinen Eltern gefördert werden kann, erklärt Markus Witt vom Verein Väteraufbruch für Kinder. „Einfach das Kind packen und ins Ausland ziehen, das geht so einfach nicht“, sagt der Sorgerechtsexperte, der schon viele Väter und auch Mütter in ähnlichen Konfliktsituationen beraten hat.

In der Vergangenheit seien viele Gerichtsurteile unter Berücksichtigung des Kindeswohls deshalb so entschieden worden, dass ein Kind im Laufe seiner Entwicklung zum Jugendlichen möglichst nicht aus seiner gewohnten Umgebung gerissen werden sollte. Vor allem, wenn ein Kind wie Samuel bereits eine Schule besuche und über ein großes privates Umfeld, Verwandte, Freunde und Lehrer, verfüge, sei es äußerst ungewöhnlich, gegen den Willen des Vaters und Sohnes vorzugehen.

75 Prozent der Gutachten sind mangelhaft

Bei Samuel entschied der Gutachter trotzdem anders. Er fand heraus, dass Samuel sich eher von seiner Mutter leiten lässt und eigentlich gerne zu ihr nach Portugal ziehen möchte, nachdem er ja lange bei seinem Vater gelebt habe. Das sei nur gerecht. Die Richter folgten dem Gutachter, das Sorgerecht wurde der Mutter zugesprochen. Das entscheidende Gutachten ist inzwischen zwei Jahre alt.

Dessen Mängel sind offenkundig: Während der Gutachter die Lebensverhältnisse Samuels in Berlin genau nachvollziehen kann, ihn zu Hause besucht, mit seiner Lehrerin spricht, Zugang zu Unterlagen erhält, kennt er aus Portugal nur ein paar Fotos und die Zusicherung eines Förderzentrums, ihn aufnehmen zu wollen.

Manuel ficht die Entscheidung des Gerichts an, beauftragt den bekannten Psychologieprofessor Werner Leitner, Vizepräsident der IB-Hochschule Berlin, mit der Bewertung des Gutachtens. Das Ergebnis: Der Gutachter sei gar nicht hinreichend qualifiziert, die hier erforderliche Begutachtung fundiert durchzuführen, und habe wissenschaftlich unzureichende Methoden angewandt. Die Schulleiterin ist „entsetzt über das Gutachten, soweit es die Schule betrifft“.

Das Gericht hörte nicht auf Ärzte, Therapeuten - und auch nicht auf das Kind

Das Gutachten ist kein Einzelfall. Leitner hat 272 familienpsychologische Gutachten aus den Jahren 2013 und 2014 untersucht, 75 Prozent waren nach seiner Einschätzung mangelhaft. „Mit diesen mangelhaften Gutachten verdienen die Gutachter meist viel Geld, auf der Strecke bleibt aber oft das Wohl der Kinder“, sagt Leitner. Doch das Gericht hört weder die Schulleiterin an noch den Professor.

Auch nicht die Kinderärzte und Therapeuten, die Samuel seit Jahren begleiten und dafür plädieren, ihn nicht aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Der Junge braucht viel Unterstützung, um Entwicklungsverzögerungen aufzuholen.

Im Alter von vier Jahren wurde festgestellt, dass Samuel sehr schlecht hört, viel zu spät. Neben sprachlichen und motorischen Defiziten diagnostizierten die Ärzte eine Konzentrationsschwäche, später ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

In der Schule wird er individuell gefördert und nach seinem Leistungsvermögen bewertet. In Portugal müsste er ganz von vorne anfangen, weil er zwar Portugiesisch spricht und versteht, aber nicht schreiben und lesen kann. In den letzten zwei Jahren habe er sich gut entwickelt, sagt die Schulleiterin, Samuel sei sehr beliebt und habe sich gut integriert.

Es gab aber auch Tage, an denen er in sich zusammenfiel, völlig apathisch wirkte, starke psychosomatische Reaktionen zeigte. Samuel musste ins Krankenhaus, zur „Krisenintervention“. Das war nach dem Besuch des Gutachters, der mit seinen Fragen zu Mama und Papa nach Indizien stocherte, die über seine Zukunft entscheiden sollten. Samuel wollte sich aber nicht gegen einen von beiden entscheiden, lieber würde er sich aufteilen, um gleichzeitig bei Mama und Papa sein zu können.

Der Vater hatte nicht so charmant auf den Gutachter gewirkt

Im November 2018 luden die Richter ihn zu einer Anhörung. Wieder sollte Samuel sagen, wie er sich entschieden habe. Fürs Hierbleiben, sagte er, weil er in Berlin schon alles kenne, aber die Richter fanden, seine Begründungen seien „wie auswendig gelernt aneinandergereiht“. Und: „Es ist davon auszugehen, dass der Ablauf der gerichtlichen Verfahren und das Verhalten des Vaters einen massiven Einfluss auf Samuel ausüben.“

Der Vater hatte schon auf den Gutachter nicht so charmant und überzeugend gewirkt wie Fabiana, was auch daran lag, dass er einen Dolmetscher ablehnte, obwohl sein Deutsch manchmal schwer zu verstehen ist. Für seinen Sohn habe er trotzdem alles in Bewegung gesetzt, was möglich war, sagt die Schulleiterin.

Das Kammergericht, die Beschwerdeinstanz des Familiengerichts, legt dem Vater zusätzlich zur Last, dass er sich gegen die Sorgerechtsentscheidung zugunsten der Mutter juristisch zur Wehr setzt. „Dem Vater ist es nämlich nicht gelungen, seine eigenen Wünsche, dass er Samuel bei sich behalten möchte, im Interesse des Kindes zurückzustellen und auf Samuel dahingehend einzuwirken, dass er nun nach Portugal umziehen muss.“

Und auch dieser Satz ist eine Breitseite gegen den Vater: „Bisher hat die Erziehung des Vaters nicht dazu geführt, dass Samuel sich altersentsprechend entwickelt hat.“ Der Erziehungsstil der Mutter, die das Kind mit neun Jahren zurückließ, um zu ihrem Freund nach Portugal zu ziehen, wird offenbar nicht infrage gestellt.

Der Kontakt zu seiner Mutter ist Samuel nach wie vor wichtig, nur umziehen möchte er eben nicht. Fast täglich rufe sie ihn an, aber gesehen haben sie sich seit fast einem Jahr nicht mehr. Besuchsreisen nach Portugal sind nicht mehr möglich, seit das Sorgerecht bei der Mutter liegt. Der Vater befürchtet, sie könnte Samuel bei sich behalten, auch gegen seinen Willen.

* Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Kindes nennen wir den Nachnamen der Familie nicht.

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