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Seit zehn Jahren beschäftigen sich Politiker mit dem ehemaligen Friedhof. Passiert ist bislang nichts.

© TSP

Überwuchert und vergessen: Wie sich eine Berliner Initiative für das Gedenken der „Euthanasie“-Opfer einsetzt

Auf dem alten Friedhof der Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf liegen Opfer der NS-„Euthanasie“. Bis heute erinnert nicht einmal ein Schild an das Areal.

Herbstlaub liegt bereits am zentralen Eingang zur ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau auf dem Boden. Seitlich steht ein verwaistes Pförtnerhäuschen, die geöffnete Schranke daneben gibt den Weg frei auf das weitläufige Gelände. Fahnen mit dem Schriftzug Vivantes weisen auf den letzten Betreiber der einst großen psychiatrischen Anstalt hin.

Ein Lageplan zeigt, dass heute Flüchtlinge und Menschen im Maßregelvollzug auf dem Gelände untergebracht sind. Wer auf dem Plan nach einem ehemaligen, zum Gelände gehörenden anstaltseigenen Friedhof sucht, wird nicht fündig. Am südwestlichen Ende des Lageplans: eine weiße Fläche.

Zur Verabredung an diesem Ort, dem einstigen Anstaltsfriedhof, bringt Irmela Orland eine alte Friedhofskarte mit. „Zur Orientierung“, sagt sie, denn das Gelände ist heute, rechts und links eines schmalen Weges, vollkommen von Sträuchern und Bäumen überwachsen. 1995 hatte die damalige Klinikleitung den Friedhof aufgelöst, seither wächst das Gelände zu.

Irmela Orland, Lehrerin und Pastorin im Ruhestand, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem einstigen Friedhof. Seit sie weiß, dass hier Menschen liegen, die in der nahen Anstalt Opfer der mörderischen NS-„Euthanasie“-Programme wurden, steht sie bei Politikern des Bezirks Reinickendorf auf der Matte.

2012 fasst die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) den ersten Beschluss zum ehemaligen Anstaltsfriedhof: Das Bezirksamt soll beim Konzern Vivantes, dem Eigentümer des einstigen Klinikareals, darauf hinwirken, dass der ehemalige Friedhof „wieder als solcher erkennbar und als Gedenkstätte gesichert wird“. Zahlreiche ähnlich lautende Beschlüsse folgen.

Das Gelände soll verkauft werden

Eine Umsetzung bleibt jedoch jedes Mal aus: Klinikbetreiber Vivantes lehnt die Forderungen ab, argumentiert, man wolle das Klinikgelände verkaufen; solange dieser Prozess nicht abgeschlossen sei, könne man in Bezug auf den Friedhof „keine Festlegungen treffen“.

Im Oktober 2019 stellt die BVV vor dem Hintergrund eines angekündigten zeitnah anstehenden Verkaufs 10.000 Euro für den Friedhof bereit. Sie sollen dazu genutzt werden, das überwachsene Areal zu einem Gedenkort herzurichten.

Dabei soll ein Konzept berücksichtigt werden, das vom „Freundeskreis alter Anstaltsfriedhof“ um Irmela Orland stammt. Geschehen ist seitdem aber wieder nichts.

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„Uns sind die Hände gebunden“, sagt Katrin Schultze-Berndt, die als Stadträtin für Kultur für die Umsetzung der Beschlüsse zum Friedhof verantwortlich ist. Da Vivantes noch immer in Besitz des ehemaligen Klinikareals sei, dürfe man dort nicht tätig werden. Sie schlage vor, für das bereitgestellte Geld einen Historiker zu engagieren. Er solle das von Irmela Orland zusammengetragene Wissen vervollständigen.

„Seit so vielen Jahren wird über den Friedhof gesprochen“

Für Paul Gidius ist nicht zu verstehen, dass es mit dem ehemaligen Friedhof nicht vorangeht. „Seit so vielen Jahren wird über den Friedhof gesprochen und nichts geschieht“, sagt der 85-Jährige.

Seit er zehn Jahre alt war, besucht er regelmäßig das Grab seiner Mutter, doch seit ein paar Jahren kann er es nur noch grob ausmachen – es ist im Dickicht der Sträucher verschwunden.

Irmela Orland vom „Freundeskreis alter Anstaltsfriedhof“.
Irmela Orland vom „Freundeskreis alter Anstaltsfriedhof“.

© TSP

Else Gidius war im März 1945 im Alter von 36 Jahren in die Wittenauer Anstalt gebracht worden. Nach der Nachricht vom Tod ihres Mannes hatte sie nicht aufhören können zu weinen. 24 Tage nach Ankunft in der Anstalt war sie tot.

Wie Else Gidius starben damals viele junge und körperlich gesunde Patienten in den letzten Kriegsjahren in der Wittenauer Anstalt. Ärzte notierten zweifelhafte Todesursachen wie „Kreislaufschwäche“ oder „Herzmuskelentartung“.

300.000 Menschen wurden Opfer der NS-„Euthanasie“

Während dieser Phase der NS-„Euthanasie“ wurden reichsweit rund 300.000 psychisch Kranke und Behinderte – wenig auffällig – etwa durch Nahrungsentzug oder überdosierte Medikamente getötet. Wie viele dieser Opfer auf dem ehemaligen Wittenauer Anstaltsfriedhof beerdigt wurden, ist nicht klar. Bekannt ist, dass auch Kinder in Wittenau Opfer der NS–Morde wurden.

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Auf die Frage, ob man bei Vivantes, der ein landeseigener Konzern sei, in den vergangenen Jahren nicht wenigstens auf ein Schild am Friedhof hätte hinwirken können, reagiert Stadträtin Schultze-Berndt gereizt. „Ich bin nicht diejenige, die beantworten kann, wo es da hakt und welcher Wille da ist.“ Man bringe sie in eine Verantwortung, die sie nicht habe. „Der Bezirk ist hier in keiner Weise Stopper, Bremser oder irgendwas“, sagt Schultze-Berndt.

„Wir merkten, es passiert wieder nichts“

Die Friedhofsinitiative hat inzwischen über die Senatsverwaltung für Kultur eine Informationsstele auf den Weg gebracht, die im kommenden Jahr am ehemaligen Klinikeingang aufgestellt werden soll. Zudem haben die Mitglieder einen Kostenvoranschlag für die Sanierung alter Friedhofsmauerreste eingeholt.

„Wir merkten, es passiert wieder nichts“, sagt Irmela Orland. Man wolle, dass die 10.000 Euro wie vorgesehen in die Herrichtung des Friedhofs zum Gedenkort fließen. Orland vermutet, dass die Stadträtin in den letzten Monaten nicht noch einmal bei Vivantes nachgefragt hat. Der Freundeskreis selber habe inzwischen Kontakt zum Krankenhauskonzern aufgenommen. Dort scheine nach einem Wechsel in der Geschäftsführung jetzt „ein anderer Wind“ zu wehen.

Jutta Herms

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