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Federico Gambarini/dpa

© dpa

Über uns dröhnte die Freiheit: Was die Maschinen von TXL den Menschen in Ost-Berlin bedeuteten

Nicht nur die Stadt war geteilt, auch der Himmel über Berlin war es – und regte doch zum Träumen an. Eine Tegel-Spurensuche in der Stillen Straße in Pankow.

In Pankow gibt es die Stille Straße, die früher noch leiser war, als es ihr Name verrät. Hier hockte einst die Führung der DDR-Staatspartei SED in Villen umeinander herum und brütete darüber, wie aus ihrem Sozialismus einmal der wahre Kommunismus werden könnte. Später, nachdem die Genossen vor dem eigenen Volk in den Wandlitzer Wald geflüchtet waren, blieben hier altgediente Funktionäre und treu dienende Hausmeister verwurzelt. Und hohe Bäume, die schon ganz andere Zeiten gesehen hatten.

Wenn ich als Junge vom alten Pankower Dorfkern aus nach Niederschönhausen laufen wollte, um mich zum Beispiel im Kino „Blauer Stern“ mit dem wilden Treiben der Olsenbande abzulenken oder meiner Oma im Winter ein paar Kohlen aus dem Keller hochzutragen, lief ich immer durch das kleine ruhige Gässchen im so genannten „Städtchen“, in dem einst Walter Ulbricht Post von meiner Oma bekam – sie trug sie aus.

Am Ende der Stillen Straße stand ein kleines Wachhäuschen, welches das Schloss Schönhausen beschützte vor den Blicken neugieriger Besucherinnen und Besucher; ein Vorposten der Ernsthaftigkeit, den wir als Kinder manchmal aus ausreichender Ferne mit Kastanien bewarfen. Denn dahinter, hinter alten Sträuchern und neuen Schlossmauern, quartierte die SED ihre Staatsgäste ein - auch die aus dem Westen, dem unerreichbaren.

Monika Maron hat der kleinen Straße, in der der Wind nur Blätter hinwegfegte, in ihrem Roman „Stille Zeile Sechs“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Und so sieht das aus: „Eine jenseitige Stille lagerte zwischen den Villen, deren ständigen oder wechselnden Bewohnern eine amtliche Regelung die Belästigung durch den städtischen Autoverkehr ersparte. Aber nicht nur die Stille war es, die mich anzog. Eine irritierende Unwirklichkeit ging aus von den alten und neuen Häusern, von den sterilen, gleichförmigen Blumenrabatten in den Vorgärten, von den nackten Fahnenmasten neben den Eingangstüren.“

Und plötzlich, aus dem Nichts der Ruhe, fegt ein Sturm über alles und alle hinweg: kreischend aufjaulendes Maschinenmetall. Flugzeuge, die über den Norden des Ostens von Berlin hinweg in den Norden des Westens einschweben. Und nach kurzer Rast von dort aus wieder starten werden in die weite, nur von dort aus offene Welt.

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Tegel – so unnahbar fern. Und mit jeder Landung über unsere Köpfe hinweg so unmittelbar nah.

Aus jener Zeit, in der eine Mauer aus Beton und Blut das Leben in Berlin noch wirklich einschränkte, ist eine Sehnsucht gefallen. Die Sehnsucht, frei reisen zu können, alles machen, sagen, fragen zu dürfen. Diese Sehnsucht führten damals jene ferne Flugzeuge mit – wie Kondensstreifen, die immer wieder aufs Neue verblassen.

Die Blicke der Menschen im Osten, auch von mir auf meinen Wegen durch die Stille Straße, blieben hoffnungsvoll in den Wolken haften. So wie heute Erinnerungen an dieser alten Sehnsucht haften bleiben. An unserem Traum, dass sich Christa Wolfs Romantitel irgendwann bald in Luft auflösen würde: Der geteilte Himmel.

Verrückt, dass das dann wirklich so kam.

Unten Picknick, oben Fluglärm

Vielleicht war die Stille Straße, die heute noch keine laute ist am inzwischen offenen Schloss Schönhausen und seinem weiterhin verträumten Park, vielleicht ist diese ruhige Gasse ein gutes Sinnbild dafür, wie die ganze DDR damals so war und ihre halbe Hauptstadt Ost-Berlin.

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Eben so, wie Monika Maron über die Stille Zeile geschrieben hat: „Ein Ort, öde wie eine Goldgräberstadt, deren Schätze nun erschöpft waren. Nur klapperte hier nirgends eine Tür oder ein Fensterflügel im Wind. Wie von Geisterhand wurde Ordnung gehalten, als wären die, die fort waren, noch da.“ Nun sind sie bald weg, die Flugzeuge vom Flughafen Tegel, die die Stille eines Landes zerschnitten, bis die Menschen nicht mehr still halten wollten und ihr Heimatland gegen ihre Sehnsüchte tauschten.

Hier nächtigten die Staatsgäste der DDR: Das Schloss Schönhausen.
Hier nächtigten die Staatsgäste der DDR: Das Schloss Schönhausen.

© SPSG

[Adieu TXL: 46 Jahre flog Berlin auf Tegel, im November ist Schluss im Hexagon. Wir erinnern an Kofferberge, Prominenz im Provinz-Flair und schauen, wer in Zukunft im Berliner Norden landet. Die Themenseite TXL]

In einem unerwarteten Später dann wurde Berlin eine Metropole von Welt und Drehkreuz des Easyjetsets, der Nacht für Nacht fast minütlich über den Köpfen des Nordens von Berlin niederging mit kreischend aufjaulenden Metallmaschinen. Kurzferienflieger, die am Tage über jedes Picknick im Pankower Bürgerpark hinwegbretterten, das Plätschern der Springbrunnen und die Takte der Freiluftkonzerte an der Panke unüberhörbar durchschnitten. Es gab einmal ein Filmporträt über Pankow im Fernsehen; die Schnittbilder waren immer nur Flugzeuge über den Wiesen des Bezirks – der Norden des alten Ostens, eine verkrachte Existenz.

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Wenn dieser Lärm gleich für immer vorbei ist, wird darüber kaum jemand traurig sein rund um das schnieke sanierte Schönhausen. Generell sehnen sich heute hier nicht wenige nach Ruhe. Zum Glück nicht nach der alten.

Und was kommt dann? In einem nächsten Später werden sich all unsere Blicke in Schönefeld treffen – am neuen, alten Treffpunkt Flughafen. Hier, im Süden von Berlin, flog der Osten schon früher ab; mit der inzwischen abgestürzten Interflug ging es bis an die Grenzen des geteilten Himmels. Von einem Flughafen, in dessen bronzen glänzenden Scheiben sich die kleine DDR spiegelte, wenn sie mal rausschauen wollte in die Ferne. Und danach wieder in der eigenen Stille landete.

Der nahe Blick des Fernwehs auf die Flugzeuge von Tegel wird auch mir eine bleibende Erinnerung bleiben. Ein Sehnen, das in mir brummt und dabei leise ein altes Berliner Mauerlied summt: „Über den Wolken / muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. / Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man / Blieben darunter verborgen und dann / Würde, was uns groß und wichtig erscheint / Plötzlich nichtig und klein.“

Die alte Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit – jetzt in der Pandemie erleben wie sie ganz neu und nahbar. Auch am bald ungeteilt stillen Himmel im Norden von Berlin. Und weit darüber hinaus.

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