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Tod eines Kneipen-Wirts: Kokain, Rausch - Selbstmord? Oder doch Mord?

Ein Messer im Herzen, eines in der Hand. So starb Andreas Grotz, Wirt der Berliner Phoenix-Lounge. "Selbstmord", sagten die Ermittler. Sie sprachen von Drogen und Realitätsverlust. "Mord", sagt der Vater, und zieht vor Gericht.

Von Sabine Beikler

Sie fanden ihn am 2. Januar im weiß gefliesten Badezimmer. Er lag in seinem Blut neben der Toilette, in T-Shirt und Unterhose. Seine Augen waren offen. Andreas Grotz, der Wirt des Schöneberger Lokals „Phoenix-Lounge“, war tot. In der einen Hand hielt er ein Brotmesser, ein großes Fleischermesser steckte in seinem Herz. Am Hals klafften tiefe Wunden. Ein brutaler Mord? Nein, sagten die Ermittler schnell, es war Selbstmord.

„Dafür gab es keinerlei Anzeichen“, sagt Vater Bernd Grotz. „Mein Sohn war nicht depressiv.“ Der Bäcker aus Schleswig-Holstein glaubt nicht an Selbstmord, und er ist nicht allein mit seinen Zweifeln. Wie kann sich ein Mensch die Kehle selbst aufschlitzen und eine Klinge mit solcher Wucht in die Brust rammen, dass Rippen brechen? Wie weit kann einer gehen?

Seit 20 Jahren arbeitete Andreas Grotz in der Gastronomie. Er war gerne Wirt, stand fast täglich hinter dem Lokaltresen, immer freundlich, lachte viel. Grotz schrieb Einkaufslisten, organisierte Dienstpläne, polierte die Gläser und zapfte. Gelegentlich griff er zur Zigarre. Fast nie trank der 42-Jährige Alkohol in seiner eigenen Kneipe.

Warum sollte sich jemand, der mitten im Leben steht, der sich von seinem Geschäftspartner trennen und weitere Läden aufmachen wollte, umbringen? Und dann auch noch so? Der Vater erhebt deshalb schwere Vorwürfe gegen die Polizei. „Alles, was nicht nach Selbstmord aussieht, wurde nicht ermittelt“, sagt er. Vor zwei Wochen hat er mit seinem Anwalt beim Kammergericht Berlin ein Wiederaufnahmeverfahren beantragt.

Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre war Andreas Grotz nach Berlin gekommen. Den elterlichen Betrieb hatte er nicht übernehmen wollen. Er wollte sich zum Masseur ausbilden lassen, merkte aber schnell, dass ihm das nicht lag. Er begann im Café Marx am Spreewaldplatz in Kreuzberg zu arbeiten und wurde später einer der Inhaber. 1999 übernahm er mit einem damaligen Geschäftspartner das frühere Café Zig Zag in Schöneberg, baute den Laden um und eröffnete ihn unter dem Namen „Phoenix-Lounge“ wieder.

Die Eltern konnten zufrieden sein. Ihr Sohn hatte seinen Weg gemacht. Was sie zunächst nicht wussten: In der Fremde wurde er sich selbst ein Fremder, er entdeckte Kokain. Das weiße Pulver, „Schnee“ genannt, gilt längst nicht mehr nur als Societydroge. Sie wird quer durch alle Gesellschaftsschichten konsumiert: Ärzte, Juristen, Lehrer, Journalisten, Politiker, Angestellte, Arbeiter und Hartz-IV-Empfänger nehmen sie. Kostete früher ein Gramm 200 Mark und mehr, sind es heute 40 bis 60 Euro für etwa 0,7 Gramm, das in Ampullen oder Briefchen verkauft wird. Ab und zu sniefte auch Andreas Grotz eine Line durch die Nasenlöcher. Zuerst mit Freunden, an Wochenenden. Dann häufiger, die Wochenenden begannen immer früher, er konsumierte regelmäßig.

Grotz wusste seine Drogenkarriere hinter der Fassade des Sportlers zu verbergen. Als Jugendlicher hatte er Bodybuilding gemacht, jetzt trainierte er für Marathonläufe und Triathlon-Rennen. „Wie ein Besessener“, sagt ein Freund. Und eine Freundin ergänzt: „Er wollte an seine Grenzen gehen.“ Aber er war auch auf der Suche nach etwas, das ihm Halt geben sollte. „Oft war er nicht zufrieden mit sich“, sagt sie auch. Aus zwei Beziehungen hatte er einen Sohn, der heute 15 ist, und eine vierjährige Tochter.

Das Kokain füllt eine Leere. Jedes Gefühl von Müdigkeit verschwindet. Und es passt sich gut ein in die Dynamik einer Party-Nacht. Die Droge bringt Egomanen mit ausgeprägter Selbstüberschätzung hervor. „Du fühlst dich wie eine weiße Maschine, du bist mächtig, stark, niemand kann dir was antun.“ Thomas, Mitte 40, Grafikdesigner, kokst seit Jahren regelmäßig. Ein- bis zweimal die Woche, sagt er. Fünf Gramm pro Nacht sind nicht außergewöhnlich.

Experten schätzen, dass in Berlin jeden Tag eine Kokainmenge im zweistelligen Kilobereich konsumiert wird. Etwa 10 000 Opiatabhängige gibt es in der Stadt, die Dunkelziffer der Kokainabhängigen liegt deutlich darüber.

Thomas sitzt in einer Berliner Szene-Bar, in der nachts ein reges Kommen und Gehen in Richtung Toiletten herrscht. Auch von Andreas Grotz wurden die oft aufgesucht. Gekokst wird zu mehreren auf dem Klo. Die Türen sind nicht verschlossen. „Du machst dich mit Leuten gemein, von denen du sonst nichts geschenkt bekommen möchtest“, erzählt ein Arzt, Ende 40. Im Drogenrausch kommen seriöse Geschäftsleute in Kontakt mit Kriminellen und versichern sich gegenseitig euphorisch ewige Freundschaft. Unternehmer laden schon einmal die neuen „Freunde“ zu sich nach Hause ein und wundern sich nach einer durchkoksten Nacht, dass am nächsten Tag wertvolle Bilder fehlen und der Sportwagen nicht mehr vor der Tür steht. Aus Scham gehen sie nicht zur Polizei. „Du redest manchmal in deiner Koks-Glitzerwelt hochglanzpolierte Scheiße“, beschreibt ein Kokser solche Nächte.

Andreas Grotz war Teil dieser Welt. Aber reicht das, um sein brutales Ende zu verstehen?

Seite 2: Auf durchgezogene Nächte folgt der Crash

In der „aufgestrapsten Atmosphäre“ des Höhenflugs, erzählen Konsumenten, geht es um Sex, Lustfantasien und Befriedigung. „Ein großes Versprechen liegt in der Luft“, erzählt Gitte, Anfang 30, eine regelmäßige Konsumentin in einem Nachtklub. „Dir sind danach viele Sachen echt peinlich, die du veranstaltet hast“, sagt sie. Sie spricht von „durchgezogenen“ Nächten. Auf die folgt der sogenannte Crash, das Aufsetzen in der Wirklichkeit. Der Körper kann nicht mehr, muss dringend schlafen. Das Gehirn hat kein glücklich machendes Dopamin mehr gespeichert, und der Koks-Blues schleicht sich ein.

„Konsumenten haben am Anfang eine Kontrollillusion“, sagt Psychotherapeut Wolfgang Götz. „Sie glauben, die Droge im Griff zu haben, weil sie in Episoden zu Kokain greifen. Doch die Gier nach mehr kommt schleichend. Kokain ist die am meisten unterschätzte Droge.“

Götz ist der Leiter von „Kokon“. Das Therapiezentrum in Berlin wurde 1987 gegründet und ist bundesweit das einzige, das auf Kokain-Missbrauch spezialisiert ist. 130 Patienten werden dort jährlich behandelt, etwa 60 durchlaufen eine 14-monatige Therapie.

Auch Andreas Grotz suchte Hilfe bei „Kokon“. Vor drei Jahren hatte er Alarmzeichen erkannt: Seine Abstürze kamen immer schneller, er musste sich ab und zu bei der Arbeit entschuldigen. Das war ihm peinlich. Und er fühlte sich immer unzufriedener mit der Situation. „Ich bin abhängig“, sagte er Vertrauten. Er machte eine ambulante Therapie, schloss sie im Januar 2009 erfolgreich ab. Noch vor einem Jahr lief er den Hamburg-Marathon mit.

Dann aber wurde er rückfällig. Warum? Nahestehende mutmaßen einen der Gründe in seiner letzten Beziehung. Er habe seine Freundin sehr geliebt, sagen sie. Doch war die Beziehung nicht stabil, sondern ein On-off-Verhältnis: geliebt, getrennt, versöhnt, getrennt, wieder zusammengekommen.

Dann kam die Weihnachtszeit. Die Tage, die der Familie gehören, sind schwierig. Die Einsamkeit wird spürbar wie sonst nie. Andreas Grotz mied zunächst die Leere der Feiertage und arbeitete. Zum letzten Mal am 29. Dezember. Spät in der Nacht ging er noch in einen Raucherclub. Bis in die Morgenstunden des 30. Dezember saß er dort mit Kollegen zusammen. Irgendwann stand er auf, verschwand. Nicht sofort nach Hause, wie sich später herausstellen sollte, denn er hob noch Geld am Savignyplatz in Charlottenburg ab. Jemand will ihn am 31. Dezember in der Umgebung seines Lokals gesehen haben. Für den 1. Januar hatte sich Grotz wieder im Phoenix eingeteilt. Doch er kam nicht. Es gab keine Nachricht, er ging auch nicht an sein Handy. Die meisten Mitarbeiter wussten, dass ihr Chef in den zurückliegenden sechs Wochen regelmäßig seine Kokain-Abstürze hatte. Trotzdem war er „in sechs Jahren nur dreimal unentschuldigt nicht zum Dienst erschienen“, sagt eine Mitarbeiterin.

Am 2. Januar 2010 kam Andreas erneut nicht. Er war tot. Das gezackte Brotmesser hielt er in seiner Rechten, um die linke Hand war eine blutdurchtränkte Jeans gewickelt, und alle fragten sich: Was war passiert?

Die Version der Gerichtsmedizin lautet so: Die Luftröhre war mit zahlreichen sogenannten Probierschnitten „eröffnet“ worden; sie wies typische Merkmale von selbst beigebrachten Verletzungen auf. Aber die waren offenbar nicht tödlich. Andreas Grotz verblutete durch einen wuchtigen Messerstich ins Herz. Es gab keine Kampfspuren, keine Hinweise in der Wohnung, dass jemand anderes zugegen gewesen war. Fingerabdrücke wurden nicht genommen.

Toxikologische Untersuchungen ergaben, dass das Opfer Stunden vor seinem Tod Kokain konsumiert hatte, längere Zeit davor auch Amphetamine. „Dieser Drogencocktail macht schmerzunempfindlich und erregt“, sagt der Leiter der Rechtsmedizin an der Charité, Michael Tsokos. Aber kann ein Mensch so viel Selbstaggression aufbauen, dass er sich die Kehle aufschlitzt und ein Messer ins Herz rammt? „Ja“, sagt Tsokos. „Die Drogen wirken auch längere Zeit nach. Die Konsumenten bekommen enorm viel Antrieb, so dass die Wirkung wie eine Psychose sein kann.“ Für den Mediziner ist Grotz kein ungewöhnlicher Fall. Fünf bis zehn Suizide pro Jahr seien ähnlich bizarr und unvorstellbar. Einmal hatte sich ein Mann 109 Messerstiche zugefügt, von denen die letzten beiden tödlich waren. Ein anderer stieß mit seinem Kopf solange gegen die Tischkante, bis er tot zusammenbrach. „Es kann zu einem kompletten Realitätsverlust kommen“, sagt Tsokos und schließt in Grotz’ Fall einen Mord aus.

Für Freunde und die Familie von Grotz wiegen die Ungereimtheiten schwerer. Im Blut des Toten wurden keine Spuren von Alkohol gefunden. Alle, die ihn kannten, finden das sehr ungewöhnlich. „Andreas hat nur in Verbindung mit Alkohol gekokst“, sagen Bekannte. Und Wolfgang Götz von Kokon betont, dass Selbstmord direkt nach Kokainkonsum sehr ungewöhnlich sei. Erst nach dem Crash, in der depressiven Phase, kann es zu suizidalen Stimmungen kommen. Aber niemand macht Schluss, wenn er gerade abhebt.

„Warum“, fragt der Vater Bernd Grotz, „wurde die Mordkommission nicht eingeschaltet, warum haben die Ermittler nicht mit den Angestellten des Phoenix und mit Freunden gesprochen?“ Es gebe Hinweise darauf, dass sich sein Sohn bedroht gefühlt habe. „Die Ermittlungen zur Todesursache sind als fehlerhaft und unzureichend anzusehen“, steht in seinem Antrag auf Wiederaufnahme. Die Polizei aber bleibt dabei: Es gebe „keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden“.

Noch am 28. Dezember schickte Andreas Grotz seiner Freundin eine SMS in den Urlaub. „Mein geliebtes …. Genieß die Sonne für mich mit. Ich geh heute ins Solarium. Lieb Dich … Eine Million Küsse.“ Schreibt jemand solche Worte, wenn er sich umbringen will? Oder hielt er eine Fassade aufrecht, damit sich niemand sorgte?

Andreas Grotz’ nächster Zahnarzttermin Anfang Januar steckte auf einem Zettel an der Pinnwand neben der Eingangstür. Eine Terminerinnerung beim Psychologen fand sich auf dem Schreibtisch. Mitte Januar wollte er erneut eine Drogentherapie anfangen. Die aufgeschlagene Fernsehzeitung lag mitten auf dem Wohnzimmertisch.

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