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Berlin: Tim Pernitzsch (Geb. 1969)

Er ist eben kein Dienstleister, sondern Künstler unter Dauerdruck

Ein letztes Mal ist das „Freischneider Aktionsatelier“ im hippen Kreuzkölln voll mit Menschen. Sie nehmen Abschied von Tim, dem Friseur, Künstler, DJ und Musiker. Fixstern oder Irrlicht, Tim polarisierte. Weltberühmt in Kreuzberg, wie ein Stadtmagazin titelte, 1-a-Haarschnitte, selbst erklärter Neffe von Joseph Beuys. Einer, der mit der Noise-Rock-Ikone Kim Gordon von „Sonic Youth“ Musik gemacht hat. „The Captain Of Your Hair“ hat seine Welt aufgeben müssen, das „Institut zur Förderung des Schönen und Guten am und im Kopf“, wie er seinen Kunstraum nannte. Sonnenblumen und Kerzen stehen da, ein Foto zeigt ihn im weißen Hemd, über ihm strahlt ein Leuchtkörper wie ein Heiligenschein. Noch einmal wird seine Lieblingsmusik von Asmus Tietchens gespielt, brachiale elektronische Klangforschung, ein Hören mit Schmerzen.

Seine ältere Schwester ist erstmals in Berlin, die Krankenschwester aus Norddeutschland ist sichtlich überrascht von dieser fremden Welt. Ihre Abschiedsrede zitiert Rilke und Heine, den Topos des Freigeistes, der im Ringen um Autonomie an Grenzen stößt. Auch Tim, der Freischneider, der ein Leben jenseits von Ökonomie, Konvention und Sachzwang führen wollte, ist an Grenzen gestoßen, die ihn zermürbt haben.

Dabei ist die Ankunft in Berlin, Mitte der Neunziger, ein Befreiungsschlag. Hinter sich lässt er eine bedrückende, von Verlusten bestimmte Familiengeschichte, die Enge der Kleinstadt Delmenhorst, wo er eine Ausbildung zum Friseur abgeschlossen hat. In Berlin taucht er ein in die Technoszene, all die Clubs, etliche davon illegal, hier werden alle Spielarten der elektronischen Musik zelebriert. Kunstszene und Off-Kultur haben sich im Ostteil der Stadt etabliert, es herrscht Aufbruchstimmung. Und Tim will DJ werden. Dafür braucht er Kontakte und Netzwerke, die er mühelos findet. Kurzfristig arbeitet er im Vertrieb eines Techno-Labels, lebt von Gelegenheitsjobs, sucht nach einer Nische, in der alles, was ihm wichtig ist, vereint werden kann, die Musik, die Kunst, das freie Leben.

Ohne Standbein geht das nicht, das eigentlich ungeliebte Haareschneiden bietet sich jetzt ganz neu an: In Berlin ist Exzentrik gefragt, keiner nervt wie früher mit dem Vorwurf, er arbeite zu langsam. Der Sound im Hintergrund, die anregenden Gespräche über abstruse Verschwörungstheorien, Flugmaschinen, Neuschwabenland, die okkulte Zahl 23 und die Illuminaten oder über Vorbilder wie Jonathan Meese und Genesis P. Orridge.

Seine Interessen sind oft abwegig, aber wenn er gut drauf ist, überträgt sich die Begeisterung auf die Kunden. Zunächst frisiert er in seiner Wohnung, als Geselle darf er keinen eigenen Salon führen. Eigentlich. Ohne große Außenwerbung eröffnet er in einem kleinen Kreuzberger Ladengeschäft die „Freischneider Loge“.

Mit der Schere schneidet er nicht nur Haare, sondern alles was an ihm an Papier in die Hand kommt: Plakate, Party- Flyer, Zeitungen. Während er auf Kunden wartet, entstehen fragile kleine Kunstobjekte. Er hat viel Zeit zur Kunstproduktion, Scherenschnitte, Papierobjekte und Collagen füllen seinen Raum schnell aus, der Frisiersalon wird zur Kleingalerie. Auf Signatur und Datierung der Werke verzichtet der Freischneider – was heißt auch schon „Werk“, das hier sind Experimente. Nicht alles ist so auf den Punkt gebracht wie sein satirischer Kommentar zur der Ausstellung des umstrittenen Jonathan Meese in der Londoner „Tate Gallery“: eine violette Einkaufstüte mit dem gepixelten Schriftzug der Galerie, ein goldenes Hakenkreuz mit dem Schriftzug „Kunst“.

Wer Tim etwas für wenigstens 23 Euro abkauft, erhält einen Freischnitt. Ein ungewöhnliches Geschäftsmodell, das den Künstler nicht reich werden lässt und beim Finanzamt auf wenig Verständnis stößt. Er hat so wenig Geld, dass er seine Wohnung aufgeben muss. Eine Krankenversicherung kann er sich sowieso nicht leisten. Wozu auch, derlei Systemmechanismen lehnt er ja ab. Er zieht irgendwann zu seiner Freundin in eine kleine Wohnung nach Treptow, es geht nicht recht voran. Die Unzufriedenheit wächst.

Auch seine DJ-Karriere ist von Verweigerung geprägt, er will die Erwartungen nicht bedienen. Sein Musikmaterial passt in kein Raster, ist experimentell und anstrengend, fährt nicht in die Beine, sondern in den Kopf, wo es dämonisch wütet. Brettersounds, keine Übergänge. Was bei der alljährlichen Berliner „Fuckparade“, der rauen Gegenveranstaltung zur „Loveparade“ noch ankommt, ruft in den Ruhe-Zonen der Techno- Partys Befremden hervor. Es bleiben ihm Nischen wie das „Deli“, wo er seine Musik auflegen kann. Ebenso bedient er mit seinen Kunstwerken eher die Nische als den Mainstream.

Aber seine Kompromisslosigkeit spricht sich herum, Künstler besuchen ihn, neugierige Touristen auch. Die schönen Flyer seiner „Freischneider Loge“ zeigen Wirkung. Der kleine Laden und ihr Betreiber werden zur lokalen Attraktion, nur leben kann er davon nicht. Seine Freundin verdient etwas besser, aber das hilft ihm nicht wirklich weiter. Mit der Drucksituation kann er schwer umgehen, er reagiert cholerisch, kommt nicht zur Ruhe. Auch beim Haareschneiden bricht es unvermittelt aus ihm heraus, seine Kunden haben dann nichts zu lachen. Er ist eben kein Dienstleister, sondern Künstler unter Dauerdruck.

Aber es gibt auch immer noch die kleinen Glücksmomente, wenn sein Humor wieder durchkommt. In seiner Beziehung gilt die Maxime „Man altert nicht zusammen, man albert zusammen“. So halten sie vieles gemeinsam aus, noch machen dem Kunstliebhaber auch Ausstellungsbesuche Spaß. „Schön gesehen“, das ist eine seiner knappen Bemerkungen, die in vielen Situationen passen. Abends sitzt er auf seinem Lieblingshügel im Görlitzer Park und blinzelt in den Sonnenuntergang. Wenn ihm eine künstlerische Momenteingebung kommt, die Schere gezückt ist, entfährt ihm ein euphorisches „Da geht er lang!“.

In ausgelassenen Momenten tanzt er auf ungewöhnliche Weise, imitiert eine Ratte, die sich voll Verzückung die Schnurrbarthaare streicht. Aber diese Momente werden seltener, sein bevorzugter Musikstil nimmt dämonische Züge an, ist nicht mehr teilbar, tanzbar sowieso nicht. Depressionsmusik. Es muss etwas geschehen.

Vor gut zwei Jahren dann der Einschnitt, die Veränderung, die ihn nach vorn bringen soll. Größere Räume, natürlich teurer, in der Hobrechtstraße im angesagtesten Teil der Stadt, Neukölln an der Kante zu Kreuzberg. Schnell vernetzt er sich mit Gleichgesinnten, die Aktionsgalerie nimmt Formen an. Ausstellungen, Performances, Partys, der Tag ist zu kurz, um alles zu bewältigen. Seine Freundin sieht er immer weniger. Tim ist nicht nur Friseur, sondern auch Kurator, Impulsgeber, ein Magnet, der viele schillernde Späne anzieht. Er fördert das trashige „Kreuzberger Kasperletheater“, der Widerstand gegen die allgegenwärtige Gentrifizierung bestimmt nun auch seine Kunst. Die Plakate werden kämpferisch.

Der Paradoxie seiner Rolle ist er sich bewusst: Schräge Typen wie er machen den alten Arbeiterkiez interessant, die Mieten steigen, dass auch die schrägen Typen sie sich bald nicht mehr leisten können. Bei der Kulturaktion „48 Stunden Neukölln“ stehen die Besucher vor seinem Laden bis auf die Straße. Aber für eine Krankenversicherung reicht es immer noch nicht.

Sein letztes halbes Lebensjahr wird zur bitteren, finalen Lektion. Die Beziehung scheitert, er lebt nun in seiner Galerie ohne Ruhepause, ohne Rückzugsmöglichkeit. Sein Körper sendet Warnsignale, Freunde und die Schwester bedrängen ihn, zum Arzt zu gehen und zum Sozialamt, damit die Versicherung irgendwie greift. Aber das ist nicht die Freiheit, die er meint. Er verdrängt, ignoriert, bis es nicht mehr geht. Der erste Zusammenbruch nach einer Entzündung am Herzen, ein kurzer Klinikaufenthalt, ein Defibrillator ist nötig. Die Kosten sprengen seine Vorstellungskraft, jeder Tag ohne medizinische Maßnahmen zählt.

Dann steht er mit Stützstrümpfen in seinem Laden, die Augen blutunterlaufen, die Schere in der Hand. Er tut so, als sei das normal. Er geht noch mal tanzen und bricht zusammen. Steht auf, zurück in seine Galerie, wo ein Schlaganfall folgt. Auf die Straße kommt er noch, dann das Koma, aus dem er nicht mehr erwacht.

Nach der Abschiedsfeier kommt seine Kunst in viele Kisten. „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ – die Frage stellt sich nicht. Sein Freund, der Müllkünstler Matt Grau, schleppt die Kisten in seinen Keller, ein paar nimmt die Schwester mit. Erik Steffen

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