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Theodor Wolff mit seinen Kindern, Richard, Rudolf und Lilly, beim Spielen am Strand.

© Privat

Theodor Wolff in Berlin: Der Mann hinter den Zeilen

Der jüdische Journalist Theodor Wolff hat Berlin geprägt. Doch von seinem Leben außerhalb der Redaktion war bisher wenig bekannt. Ein kürzlich aufgefundenes Tagebuch ändert das.

Im Oktober 1906 hadert Theodor Wolff mit den Entscheidungen, die sein Leben in den kommenden Jahrzehnten prägen werden. Mit dem Abschied aus Paris, dem Umzug nach Berlin. „Ich bin gestern aus Berlin zurückgekehrt, wo ich vier Tage verbracht habe, herumgewandert, wie ein Verlorener, oder ein Verurteilter, der die Mauern des Gefängnisses vor sich auftauchen sieht und hinter dem dann die Gefängnistür in’s Schloss fällt.“ Wolff schreibt diese Sätze nicht im „Berliner Tageblatt“, für das er als Korrespondent in Paris tätig ist. Er notiert sie in einem Tagebuch, adressiert an seinen erstgeborenen Sohn Richard. „Wie ist der Himmel hoch und warm über Paris – und welch’ ein niedriger freudloser Himmel über Berlin, selbst in diesen sonnigen Herbsttagen! Welche Enge, welche verletzende Banalität, welch’ plumper Ungeschmack in dieser deutschen Hauptstadt, die gar keine Stadt, sondern nur eine Aufhäufung unlustig und gleichmässig ausschauender Menschen ist!“

Über den Chefredakteur, Parteigründer und Schriftsteller Theodor Wolff ist vielfach geforscht worden, die umfangreichen Tagebücher und historischen Schriften des großen deutschen Journalisten sind veröffentlicht. Wolff wurde als Paris-Korrespondent des „Berliner Tageblatts“ (1894 bis 1906) bekannt und als dessen langjähriger Chefredakteur (1907/08 bis 1933) berühmt. Aber die Bemühungen der Biografen, die familiären Verhältnisse erfassen zu wollen, mussten bislang scheitern, weil die Zeugnisse fehlten. Jetzt hellen ein kürzlich aufgefundenes Tagebuch und die Korrespondenz des Ehepaars das Dunkel für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf. Das Leben mit seiner Frau Aenne, einer ehemaligen Schauspielerin, und die ersten Jahre ihrer drei Kinder schildert der begeisterte Vater darin anschaulich und liebevoll.

„Wir werden, mein goldiger Junge, dieses Paris verlassen“, schreibt er in seinem Vater-Tagebuch an seinen Sohn Richard, „in dem wir so unendlich glücklich waren, in dem wir die schönsten Jahre unseres Lebens verbracht, in dem wir die Sonne, die Freiheit und die Heiterkeit des Daseins gefunden“ haben.

Von der Existenz dieses Vater-Tagebuchs ahnten nicht einmal die Kinder Richard, geboren 1906, Rudolf, 1907, und Lilly, 1909. Die Aufzeichnungen befinden sich zwar nicht unter den nachgelassenen Papieren im Bundesarchiv, wie zu vermuten gewesen wäre, doch dort lagert unter anderem der Briefwechsel des Ehepaars Wolff. Das Vater-Tagebuch ruhte ungenutzt in der Staatsbibliothek zu Berlin. Durch Zufall wurde es nun entdeckt. Der Weg der Niederschriften konnte bedauerlicherweise nicht aufgeklärt werden, weil der Antiquar zu dem Verkauf der Blätter jegliche Auskunft verweigerte.

Große Liebe Paris

„Du bist heute zwei Tage alt“, wendet sich Theodor Wolff am 16. Juni 1906 an seinen Erstgeborenen, „deine Anwesenheit macht sich mehr und mehr bemerkbar und ich fühle das Bedürfnis, mich mit dir zu unterhalten. Denke nicht, dass ich dir gute Lehren erteilen und dir von deinen Pflichten und aehnlichen Dingen sprechen will – du würdest dieses Buch vermutlich nicht weiter lesen und die schöne Harmonie könnte leiden, wenn einer von uns beiden den Pädagogen spielen wollte.“

Ob Theodor Wolff immer klar war, mit welchen Reflexionen, Metaphern und Bildern er sehr viel später seine Kinder würde erreichen können? Er notiert zum Beispiel: „Damit du beim Lesen dieser Zeilen nicht auf irrige Gedanken kommst und nicht eitel schmunzelst, muss ich dir erklaeren, dass du selber noch keineswegs der Inbegriff der Schönheit warst. Die Athene ging fertig aus dem Haupte des Zeus hervor, Aphrodite erhob sich liebreizend aus dem Meeresschaum, uns Anderen aber ist, nach dem Worte eines Dichters, den du spaeter noch lesen wirst, ein ‚Erdenrest‘ zu tragen peinlich. Als du, mein lieber Sohn, deinen Einzug in die Welt hieltst, warst du, wie viele andere Lebensdebütanten, ein wenig verbeult.“

Die Notizen enthüllen, wie außerordentlich schwer es dem Ehepaar Wolff fiel, von Paris nach Berlin umzuziehen. Der Verleger Rudolf Mosse zahlte Wolff in Paris ein festes Gehalt von mehr als 7000 Reichsmark, sodass er sich eine Wohnung am Boulevard Haussmann hat leisten können. Sie lag in der lichtdurchfluteten oberen Etage und verfügte über einen großen Salon, in den er häufiger Gäste lud: Schriftsteller wie Wedekind oder George Clemenceau, Maler wie Renoir oder Pissarro, Bildhauer wie Rodin und Schauspielerinnen wie Yvette Guilbert. Von Picasso und Léandre erhielt er Bilder; Shaw oder Zola eigneten ihm Roman- und Gedichtausgaben zu. Als Mosse Wolff anbot, die Position des Chefredakteurs zu übernehmen, erbat dieser sich eine längere Bedenkzeit. Wie schwer er damals mit sich gerungen und wie hart er in Berlin verhandelt hat, wusste man bislang nicht.

„Ich schäme mich nicht, es zu sagen: ich habe geweint bei dem Gedanken, dass wir Paris mit Berlin, die lachende Schönheit mit der tristesten Alltäglichkeit, die Luft der Freiheit mit der nüchternen Atmosphäre preussischer Ordnung vertauschen sollten“, schreibt er am 15. Oktober 1906. „Und als ich mein Jawort gegeben, habe ich es bereut – ich habe bereut, dass ich der Vernunft gefolgt bin, und habe mich gefragt, ob es nicht weiser gewesen wäre, weniger vernünftig zu sein. hängt mit ganzer Seele an Paris, hat seit Monaten vor der Entscheidungsstunde gezittert und ist nun doch die Stärkere. Und als ich dann gestern früh zurückkam, als sie mich am Gartentor empfing und die Tränen in meinen Augen sah, umarmte sie mich mit ihren Küssen, vor denen kein Kummer stand hält, und sie hatte so kluge und gute Worte der Billigung und Ermutigung! Nur als wir beide, sie und ich, heute Nachmittag in unserer Wohnung am Boulevard Haussmann standen, in unserem hellen und heiteren Heim, wo wir vier Jahre gelebt und wo du uns geboren worden, sah ich, dass auch ihre Augen feucht wurden. Dann fuhren wir durch die Champs-Elysées zu dir hinaus und im Dämmerlicht jagten hunderte von Automobilen mit dem unsrigen um die Wette, der Arc de Triomphe war von einem weichen Duftschimmer umwebt und wir fanden keine Worte.“

Scharfzüngiger Kritiker des Wilhelminismus

In den Dokumenten, in Beobachtungen wie diesen, tritt Theodor Wolffs Großfamilie in Erscheinung, und auch die wiederholt scheiternden Versuche des Journalisten, neben der Zeitung und der Familie Muße für ein persönliches Kinder-Tagebuch oder für die Korrespondenz mit seiner Frau zu finden, wenn sie mit den Kindern auf Reisen war. „Ich habe fast drei Monate lang dieses Tagebuch nicht vorgenommen – und was haben wir alles in diesen drei Monaten mit dir erlebt“, schreibt er im September 1906. „Ich muß wieder da anfangen, wo ich aufgehört habe, und das ist nun ein volles Jahr her. Wie die Zeit wieder vergangen ist und was ihr, du und der Rudi, inzwischen für richtige kleine Männer geworden seid!“, heißt es 1910 im Tagebuch. Und an seine Frau schreibt er 1912: „Erst jetzt, wo Mitternacht schon vorüber ist, komme ich dazu, Dir zu schreiben. Du weißt ja, der ‚lundi‘ . So konnte ich auch nur einen telegraphischen Kuß schicken. Aber mitten in der lundi-Pein habe ich alle Augenblicke an euch gedacht.“ Und seinen Kindern hinterlässt er im selben Jahr im Tagebuch: „Ich habe zwei Jahre lang dieses Tagebuch nicht weiterführen können – ich habe nämlich in Berlin sehr viel Arbeit und in meinen freien Stunden spiele ich lieber mit euch, statt zu schreiben.“

Seitenlang beschreibt Wolff sein Spielen und Singen mit den Kindern, beobachtet, wie sie miteinander umgehen: „Es ist für dich und für uns ein großes Glück, daß wir den kleinen Rudi haben – für uns ist er auch sozusagen ein Stückchen von unserem Herzen und für dich der beste Spielkamerad.“ Richard ist für den Vater trotz „seines mädchenhaften Pfirsichteints, ein derber, kerniger Bursch, ein richtiger Draufgänger und Ruppsack, kräftig und kuragirt. Und ein herzensguter Kerl bist du auch, und als ich dich vor kurzem einmal sehr ernst und scharf anschrie, weil du – ohne zu wissen, was du tatest – nach einem Klaps, den ich dir gegeben, die Hand gegen mich erhobst, da sahst du mich mit deinen großen Kinderaugen so erschrocken fragend an – es war dir plötzlich klar, daß du etwas Unerlaubtes getan – und du fielst mir um den Hals, schluchzest wie in einem richtigen Reueschmerz, und lagst lange so, mit verstecktem Gesicht, an meinem Hals und an meiner Brust, was mir unendlich süß und wonnig erwärmend war.“

Intime Sätze wie diese stehen in Kontrast zu Theodor Wolffs großem Wirken als politischer Journalist. Während seines Frankreichaufenthalts war Wolff zu einem scharfzüngigen Kritiker des Wilhelminismus, der europäischen Diplomatie und der ungehemmt schwadronierenden Rhetorik Kaiser Wilhelms II. geworden. Im Ersten Weltkrieg brachte sein entschiedenes Engagement für Meinungs- und Pressefreiheit seinem Verleger Rudolf Mosse mehrmals Erscheinungsverbote der Zeitung ein; die Zensurbehörden straften Wolff mit Schreibverbot. Doch nach Monaten des Schweigens gab der Oberkommandierende dem Drängen der politischen Führung nach, das Verdikt aufzuheben: denn Wolffs Verstummen war für die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland nachteiliger geworden als seine Enthüllungen und Einsprüche. Der Reichskanzler ertrug Wolffs seriöse Kritik und berechtigte Friedensappelle leichter als den permanenten Vorwurf der Verfolgung und Unterdrückung oppositioneller Meinungen.

Theodor-Wolff-Preis

Die mit T.W. gezeichneten Leitartikel schrieben Zeitungsgeschichte. Der „Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger“ erinnert daran seit Jahrzehnten mit seinem nach Wolff benannten Journalistenpreis. Am 20. Juni 2018 kommt dem Festakt eine besondere Bedeutung zu, weil Wolff vor anderthalb Jahrhunderten geboren wurde und jetzt 75 Jahre nach seinem Tod im Gestapo-Gewahrsam vergangen sind.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, mitten in den revolutionären Wochen des Winters 1918/19, traf Wolff eine weitreichende Entscheidung. Der Journalist aus Leidenschaft, der scharfsinnige Zeitbeobachter und kenntnisreiche Kritiker, erprobte sich auf der Ebene der Politik. Er gehörte zu dem Kreis liberaler Persönlichkeiten, der die „Deutsche Demokratische Partei“ gründete. Nicht erst seit 1930, nach dem großen Wahlerfolg der NSDAP, bekämpfte er „die gewalttätige rechtsradikale Tobsucht und die linksradikale Rauflust“. Zur Reichstagswahl 1932 erklärte er seinen Lesern: „Wenn heute der Nationalsozialismus triumphiert und von nun ab noch mehr als bisher schon der mit ihm verbündeten Reaktion seinen Willen diktieren kann, dann werdet ihr, solange diese Herrschaft dauern wird, nicht mehr zur Wahl gehen, nicht mehr eure Meinung in die Waagschale werfen dürfen – dann wird man die letzten Reste eurer Freiheit und eurer Bürgerrechte zerschlagen und, mit den brutalen Mitteln, die ihr kennt, euch zu dumpfem Gehorsam, zu schweigender Unterwerfung zwingen.“ Nachdem mit der Regierungsübergabe an die Hitler-Papen-Hugenberg-Koalition und mit den Notverordnungen nach dem Reichstagsbrand – wie von Wolff prophezeit – die „drakonische Einschränkung der persönlichen Rechte“ eingesetzt hatte, formulierte er seinen letzten Appell am 5. März 1933: „Ward je in solcher Lage ein Reichstag gewählt? Wer an diesem Tage den möglichen Übergang zu neuen, anderen Tagen schaffen will, der handelt danach und geht hin und wählt!“

Mit seinen Leitartikeln und Büchern wollte Theodor Wolff sachlich informieren, über Zusammenhänge differenziert aufklären und mit dazu beitragen, dass seine Leser selbstständig dachten und handelten. Er misstraute den ehernen Wahrheiten der Obergescheiten. Über seinen eigenen Urteilen schwebte letztlich ein selbstkritisches „Vielleicht“.

Im März 1933 musste Wolff emigrieren. Der älteste Sohn Richard kehrte damals aus einem Praktikum in der Schweiz nicht nach Berlin zurück. Rudolf folgte dem Vater nach Lugano, später nach Nizza; dorthin musste nach den Olympischen Spielen auch Lilly fliehen, die bis 1936 eine Wohnung in der Berliner Regentenstr. 3 gemietet hatte und von dort aus mehrmals in Europa hatte reisen können. Das Ehepaar Wolff erhielt weder in Österreich noch in der Schweiz Asyl. Erst in Nizza war er zunächst für einige Jahre sicher. Aber die französische Polizei, die Listen mit Personen jüdischen Glaubens vorbereitet hatte, denunzierte ihn 1943. Am Morgen vor dem Abtransport nach Auschwitz rettete ihn seine Prominenz. Er wurde im Berliner Gestapo-Gefängnis in Geiselhaft genommen. Das NS-Regime tauschte oftmals die dort inhaftierten Juden gegen im Ausland gefangen genommene deutsche Offiziere aus. Wolff wisse nicht, was man mit ihm vorhabe, berichtete damals aus dem Gewahrsam ein Mithäftling. Er bat seine Lebensgefährtin, Wolff zu helfen: „Kannst Du Dich mit Herrn Adlon persönlich in Verbindung setzen und ihn bitten, für Th. W. irgendwelche Sachen (Käse, Brot, Butter, Wurst etc, auch wenn möglich Zigaretten) zur Verfügung zu stellen und hierher schicken?“ Ob Wolff jemals irgendetwas Stärkendes erhalten hat, ist nicht bekannt. Dagegen weiß man, dass eine eitrige Entzündung des Zellgewebes zu spät behandelt wurde, sodass sein Leben am 23. September 1943 erlosch. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Seine letzten mahnenden Worte aus dem Jahr 1933 können in Berlin-Mitte, am Rand des „Theodor-Wolff-Parks“, mit dem die Hauptstadt ihn ehrt, auf einer Metallplatte nachgelesen werden: „… geht hin und wählt!“

Vertraulicher Einblick ins Leben

Die nun aufgetauchten persönlichen Zeugnisse gestatten erstmals einen vertraulichen Einblick in Wolffs Ehe-, Familien- und Freundesleben. Mit Theodor Fontane, den er gelegentlich zu Spaziergängen abholte, zeigt sich eine enge Vertrautheit. Der alte Fontane schrieb dem fast ein halbes Jahrhundert jüngeren, hoffnungsfrohen Schriftsteller zu dessen 1892 erschienenem „Untergang“: „Ihr Roman hat zwei Vorzüge, den großen Fleißes und großer Wärme; zudem ist er mit guten und scharfen Beobachtungen, die sich meist in eine geistreiche Form kleiden, reich ausgestattet. Wenn ich nebenher auch meine Bedenken habe, so hängen diese damit zusammen, daß es Ihnen nicht geglückt ist, ein rechtes Interesse für die beiden Hauptgestalten zu wecken. Gewiß giebt es solche Figuren in unsrer Berliner Gesellschaft und ich will die gute Formulierung nicht bestreiten, aber beiden fehlt das, was sie uns trotz Verstrickung und Schuld sympathisch macht. Besonders gilt das von der Frau. Solche Dame muß uns entweder durch Forschheit ihres Thuns erobern oder durch irgendein Büßertum versöhnen.“

Ehefrau Aenne schrieb ihrem Theodor nahezu täglich aus den Sommerferien am Strand in den Niederlanden, an der Ostsee oder aus den Bergen. Es ist Alltägliches und Überraschendes; ein buntes Kaleidoskop von Schwatz, Gerüchten, Zärtlichkeiten und erfreulichen Familiennachrichten, aber auch von Missverständnissen, Sorgen, Bitten und Mahnungen: „Liebster, Einziger, ich werde Dir jetzt immer abends schreiben, denn mittags bleibt mir doch stets nur Zeit zu einer flüchtigen Postkarte. Von dem WG. bleiben mir noch 45 Gulden (3,50 G. sind für die Wagenfahrt draufgegangen, 4 Guld. für Gummihöschen und Unterlagen, 3,50 für leichte, weiße Strandschuhe für meine Wenigkeit.) Wenn Du mir zum Dienstag oder Mittwoch Nachschub schicken würdest, wäre das sehr lieb. Das Berl. Tbl. lese ich zu gern, es ist doch sehr unterhaltsam. Gute Nacht, Lieb, Deine Kleinchen schlafen goldig und ich krieche mit dem Berl. Tbl., das vorhin gekommen, in’s Bett“ (5.8.1910). „Zuerst will ich Dich über Deinen Rudi beruhigen, dem der Doctor schon gestern Nachmittag erlaubt hatte, an den Strand zu gehen und der jetzt mit Butz und Lalla Berge aufschippt. Ein Drittel des Manuskriptes habe ich abgeschrieben und das waren bisher, seit Deiner Abreise, meine schönsten Stunden. Ich bin unbeschreiblich stolz auf jeden Satz, den du gedichtet und werde glücklich sein, wenn ich Act II hier haben werde. – Ich küsse Dich in aller Liebe. Gleich kommen die Kinder vom Strand“ (20.7.1911). „Lieb, wie ich sehe, reißt man sich um Dich und an Zerstreuung nach der Arbeit fehlt Dir’s wahrlich nicht. Den 2. und 3. Act wirst Du wohl hier vornehmen müssen. Es ist so wunderschön und friedlich hier, da wird Dir’s auch Freude machen. – Ich bin so sehr in Dich verliebt und freue mich unsagbar auf – tu sais ce que je veux dire“ (6.8.1911). „Gestern las ich, daß die Kammerspiele am 12. Aug. mit der ‚Königin‘ anfangen. Ich nehme an, die Konstantin wird über die Rolle herfallen, da sie die ‚Terwin‘ doch nicht ohne Sang und Klang am 12. Aug., wo kein Mensch bei dieser Hitze im Theater sein wird, debütieren lassen. Und zur dritten Königin wird sich die Terwin wohl kaum hergeben. Schreib’ mir bitte die Besetzung, dann sehe ich die Vorstellung vor mir, auch ohne im Theater zu sitzen“ (8.8.1911). „Stell’ Dich doch öfter unter die Douche in unserer Wanne. Du brauchst nur oben den Hebel auf kalt zu stellen, dann kannst Du Dich morgens und abends tüchtig abdouchen“ (14.8.1911).

Für Sohn Rudolf war er „Schiffredakteur“

Der an die Redaktion gebundene Ehemann und Vater – für Sohn Rudolf war er „Schiffredakteur“, wie Theodor Wolff im September 1912 notiert – ergänzte seine wenigen Kurz-Briefe mitunter durch Telegramme oder Postkartengrüße wie: „Mein gel. Hzbl. Dein Tagesmarsch ist hoffentlich sehr schön gewesen. Ich habe mich gefreut, als ich las, daß Du Dich dazu entschlossen hättest. Bei dem Kirchgang sprichst Du nur von Ruths und Lottes Erbauung – hat unser Großer sich ungebührlich und unfromm benommen? – Ich stecke sehr in der Arbeit – es türmt sich! Gestern Abend bei Heines auf dem Dach war es überwiegend nett. Ich konnte nur bis ½ 11 bleiben u. mußte dann zur Redaktion“, schreibt er 1913.

Tagebuch und Briefe vermitteln auch einen tieferen Eindruck von Wolffs Umgang mit seinem Verleger, seinem Cousin Rudolf Mosse: „Das Tageblatt war, meiner Meinung nach, selten besser, als bei Gelegenheit des Plehve-Attentats auf den russischen Innenminister am 28.7.1904] und der ähnlichen Vorgänge – sowohl was Informationen, als was Kommentare anbelangt. Ueberall auf der Reise, in der Bahn und im Hotel, habe ich gesehen, wie mächtig diese Dinge das deutsche Publikum interessiren“, schreibt er im August 1904. Vielleicht fällt es mir besonders auf, weil die Franzosen, die mit der russischen Allianz belastet sind, ihre Gedanken nur schamhaft äußern und weil ich infolgedessen nicht gewöhnt bin, rund um mich herum soviel von diesen Dingen sprechen zu hören. Jedenfalls ist es doch sehr schön, daß wir in einer Sache, die das Publikum so ungemein interessirt und erregt hat, gewissermaßen an der Spitze marschirten.“ Oder im August 1911: „Hier ist es auch heute wieder unerträglich heiß – heißer als an den letzten Tagen. Trotzdem glaube ich, daß wenigstens das Tageblatt einen ziemlich frischen Eindruck macht. Mit der Artikelserie über die ‚Front nach rechts‘ habe ich noch nicht begonnen – ich warte auf das Ende der Hitze und der Marokkoverhandlungen. Vorher wäre der Moment schlecht gewählt. Meine Frau und die Kinder fühlen sich in Noordwijk unberufen wohl – die Kinder sollen wie die Mohren aussehen und spazieren, wie’s in diesem glücklichen Alter erlaubt ist, auf dem Strande halb nackt herum.“

"Berlin ist nicht die Stadt meiner Ideale"

Nach dem schweren Abschied aus Paris war die Familie am 14. November 1906 nach Berlin umgezogen, in die „Spichernstrasse 15, wo wir, im Parterre, vorläufig eine ‚möblirte Wohnung‘ gemietet hatten. Die gute Grossmama, die Tante Käthe und deine Cousine Alice, harrten dort deiner voll Rührung und Spannung, und es war ein schöner Moment der Freude und der Begeisterung, als du nun ausgewickelt und der Familie gezeigt wurdest. Die Spichernstrasse liegt in jenem ‚bayerischen Viertel‘, das an modischer Geschmacklosigkeit und oedem Reizmangel noch die meisten anderen Stadtviertel dieser Steinwüste uebertrifft, und die Wohnung war zwar reich an Comfort, aber arm an Gemütlichkeit. Während du dich, mit jugendlichem Anpassungsvermögen, in den neuen Verhältnissen bald zurechtfandest, litten deine armen Eltern unter der Poesielosigkeit dieser Umgebung. Wir suchten in reizvolleren Stadtgegenden nach einem anderen, behaglicheren Heim, und wir fanden es in der Hohenzollernstrasse 23, ganz dicht beim Tiergarten. In den ersten Januartagen zogen wir in eine hübsche und, dem Himmel sei Dank, nicht ‚moderne‘ Parterrewohnung ein. Von einem Balkon führt eine Treppe in einen kleinen Vordergarten mit einigen Fliederbäumen und Büschen, dein Zimmer, an der Hofseite, ist hell und freundlich, und wenn Paris auch leider fern ist, so scheint Berlin – das Berlin mit seinem Großstadtleben – doch erfreulicher Weise nicht zu nah.“

In seinem letzten Tagebuch-Eintrag am 1.8.1913, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, blickt Wolff auf die vergangenen sieben Jahre zurück und resümiert: „Es ist im Grunde eine schöne Zeit und ich möchte den Himmel oder das Schicksal bitten, daß alles immer so bliebe. Berlin ist nicht die Stadt meiner Ideale, ich habe eine enorme Arbeitslast und Verantwortung und werde von politischen Gegnern, Neidern und allerlei Lumpenzeug täglich angegriffen und angespieen, wie kaum jemand sonst. Aber wo der Erfolg ist, pflegt, besonders im öffentlichen Leben, auch der Haß zu sein, Kampf und Bewegung sind das Leben, ich spüre auch die Hiebe nicht und durch den allzu gemeinen Pöbelkoth wate ich mit der nötigen Verachtung hindurch. Wenn man schon etwas älter wird, ist das doch noch das Beste, so seinen Weg zu gehen, und ich wünschte, meine Jungens, ihr fühltet mir das eines Tages nach.“

Bernd Sösemann

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