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© Kitty Kleist-Heinrich

Tanzkurs für Krebskranke: Wo jeder Tänzer und niemand Patient ist

In Berlin gibt es Deutschlands einzigen Paartanzkurs für Menschen mit Krebs. Teilnehmer lernen hier viel mehr als bloß Walzer, Cha-Cha-Cha und Foxtrott.

Unter der Krankheit leidet als erstes die Beziehung. Das bisschen Energie, das die Behandlung lässt und das die Angst nicht auffrisst, geht an die Kinder. Der Partner fällt hinten runter. So hat es zumindest die junge Frau erlebt, die an diesem Mittwoch über ihre Krebsdiagnose spricht, während ihr ab und zu ein Lichtkegel über das Gesicht wandert. Sie sitzt neben einer Tanzfläche, auf der Paare einen Wiegeschritt üben.

In der ersten Tanzstunde habe ihr Freund ihr nur auf den Füßen gestanden, sagt sie. „Es tat gut, zusammen darüber zu lachen. Das ist lange her.“ Seit ein paar Monaten kommt das Paar nun jede Woche in den Tanzkurs für Krebskranke am Hansaplatz nahe des Tiergartens.

Hier, in einem von der St. Laurentius-Kirche zur Verfügung gestellten Saal, vergessen sie für knapp zwei Stunden die vergangenen Monate. Den Knoten in der Brust, das Bangen und den Arzt, der die schlimmste Befürchtung wahrmachte. Die Übelkeit, die Erschöpfung und die Einstichstelle in der Haut, durch die eine Kanüle das Medikament für die Chemotherapie pumpte. Die Sorge um einen Rückfall. Und auch das Wissen, dass jedes Leben endlich ist.

Hier, wo Frauen mit Knochenkrebs neben Männern mit Darmkrebs tanzen, ist niemand Patient und niemand Angehöriger. Hier stehen sich Menschen gegenüber, die zusammen etwas Neues lernen.

Anders als etwa Joggen oder Schwimmen beansprucht Tanzen Experten zufolge Körper und Kopf. Grundschritte und Figuren, Führen und Folgen – da braucht es Konzentration. Obwohl Tanzen erwiesenermaßen helfen kann, Ängste zu verarbeiten und Ärzte etwa in Psychiatrien und Rehazentren seit den 40er Jahren Tanztherapien anbieten, bewegen sich Kranke dort fast immer allein. Die Paartanzkurse in Berlin sind einmalig in ganz Deutschland. Hier wird zu zweit getanzt: Walzer, Cha-Cha-Cha und Foxtrott wie in jeder Tanzschule.

Beim Tanzen muss man vertrauen

Der Krebs habe ihr das Vertrauen in die Welt genommen, sagt die junge Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, weil nicht alle ihre Kollegen von der Krankheit wissen. „Aber beim Tanzen muss man vertrauen.“ Viele Betroffene berichten, dass die Krankheit ihnen das Gefühl gibt, sich nicht mehr auf den eigenen Körper verlassen zu können. Deswegen empfehlen Ärzte heute Bewegung, wo sie früher Ruhe verordnet hätten.

„Außerdem schafft Tanzen körperliche Nähe, an die sich viele Patienten wieder gewöhnen wollen“, sagt die junge Frau. „Die Medikamente, die Ärzte oft nach einer Chemotherapie verschreiben, bewirken nämlich, dass Intimität als unangenehm empfunden wird.“ Eine Seniorin, die wie die junge Frau gerade eine Verschnaufpause neben der Tanzfläche macht, erzählt, sie sei schon oft aus der U-Bahn wieder ausgestiegen, weil sie die Enge im Waggon nicht ertragen habe.

Über das Parkett schieben sich gerade etwa 40 Tänzer. Eheleute über 70 sind darunter und ein Mädchen Ende 20, das mit ihrer Mutter tanzt. Freundinnenpaare ziehen ihre Kreise genau wie Frauen, die die Schritte allein üben. Bei den meisten liegt die Krebsbehandlung schon einige Zeit zurück, manchmal Jahre, wenige raffen sich aber auch inmitten der Therapie zum Kurs auf. Wer an Krebs erkrankt und wer als Tanzpartner hier ist, fragt Tobias Wozniak nie.

Der 32-Jährige leitet den Kurs, er ist einer der besten Profitänzer Deutschlands. Statt mit Anweisungen unterrichtet er mit Humor. „Vor-Seit-Schluss und eine Vierteldrehung – so, als würdet Ihr ein schönes Stück Sahnetorte abschneiden“, ruft er durch den Raum. Die Stimmung ist heiter, Tobias Wozniak will Leichtigkeit vermitteln.

Bekannte haben Berührungsängste

Als vor zwei Jahren eine Onkologin auf ihn zukam und fragte, ob er einen Kurs für Krebspatienten geben wolle, wusste er nichts über die Krankheit. „Das klingt doof, aber einer meiner ersten Gedanken war: Was, wenn ich mich anstecke?“ Mittlerweile gibt Wozniak jede Woche drei Kurse am Hansaplatz, für Anfänger und Fortgeschrittene. Im Juli ist ein weiterer in Lichtenberg dazugekommen.

Die Krebsstiftung Perspektiven unterstützt das Projekt finanziell, für Teilnehmer sind die Tanzstunden kostenlos. Die Onkologin – Jutta Hübner vom Uniklinikum Jena – begleitet die Kurse mit einer Studie. Sie will erforschen, wie sich durch das Tanzen etwa Lebensqualität und Ausdauer der Kranken verändern. Hübner und Wozniak halten zudem Tanzworkshops für Krebspatienten in ganz Deutschland ab.

Die Berührungsängste, die Tobias Wozniak am Anfang hatte, erlebt er heute bei seinen Freunden. „Eigentlich würde ich denken, dass sich Bekannte für meine Arbeit interessieren müssten, dass sie dazu Fragen haben müssten“, sagt er. „Aber niemand fragt. Niemand will über Krebs nachdenken, er macht den Leuten Angst. Obwohl Ärzte die Krankheit heute oft heilen oder zumindest aufhalten können, verbinden viele Menschen mit ihr noch immer nur den Tod.“

Und doch, trotz des Fortschritts: Auch am Hansaplatz lässt sich das Gespenst vom Tod dann und wann blicken. „Manchmal kommen Leute zum Kurs, die schlecht aussehen“, sagt Barbara Müller. Auch sie hat sich gerade an den Rand gesetzt. Die 70-Jährige spricht langsam. Ihr Kiefer ist etwas verrenkt, nachdem Ärzte ihr drei Karzinome aus dem Mund entfernten. „Wir sind hier alle nicht mehr ganz beisammen“, sagt sie entschuldigend und lacht. Das verbinde, einerseits.

Der Kurs gibt den Tänzern Mut

Auf der anderen Seite konfrontieren sich die Tänzer gegenseitig mit der Krankheit. Sie fühlen mit, wenn die Haare ausfallen, sich andere angestrengt den Schweiß von der Stirn tupfen und befürchten einen Rückfall, wenn jemand plötzlich den Stunden fernbleibt.

Und sie begleiten sich. Da war die alte Dame, die vom Krebs gezeichnet nicht mehr tanzen konnte, aber trotzdem jede Woche zum Hansaplatz fuhr, um am Rand zu sitzen und mit dem Fuß zu wippen. Oder die Frau, die unregelmäßig kam, mal mit Haaren und mal ohne. Auch wenn die Kursstunden am Mittwoch für viele eine willkommene Auszeit bedeuten, nehmen die Tänzer Notiz voneinander. Wer die Krankheit aus seinem Leben verbannen will, kommt eher nicht her.

„Aber immer wieder nimmt man viel Mut aus dem Kurs mit, das überwiegt“, sagt Tänzerin Christine Hensgen. „Etwa, wenn jemand nach langer Pause zurückkommt und fit aussieht, obwohl die Chancen schlecht standen.“ Die 46-Jährige hat im Winter den Brustkrebs überwunden, will aber nicht von Heilung sprechen. „Krebs ist nie endgültig vorbei, Krebs hat man“, sagt sie. Für sie sei es deshalb wichtig, offen mit der Krankheit umzugehen. Und da gehöre das Tanzen definitiv dazu.

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