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Rumgekommen. Auf seiner Reise durch die Berliner Ortsteile traf Jens Mühling auch Hund Lucy in der Dorfkneipe von Hakenfelde.

© Jens Mühling

Tagesspiegel-Kolumne „Mühling kommt rum“: Berlin und seine Ortsteile – jetzt als Buch

Von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf: Unser Autor war in allen Berliner Ortsteilen unterwegs. Nun erscheint die Kolumne als Buch.

[Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Vorwortes aus dem Buch „Berlin – Spaziergänge durch alle 96 Ortsteile“ von Tagesspiegel-Autor Jens Mühling. Seine Lesung findet am 27. November statt, 20 Uhr, im Georg-Büchner-Buchladen, Wörther Straße 16.]

An einem heißen Sommertag stieg ich in die S1, ließ das Stadtzentrum hinter mir und sah zu, wie Berlin ausdünnte. Südwestwärts drückte der Himmel die Häuser zu Boden – der blaue Streifen hinter den Zugfenstern wurde breiter, der graue schmaler. Als beide von der grünen Uferbewaldung des Schlachtensees abgelöst wurden, stieg ich aus. Der S-Bahnhof Schlachtensee liegt genau an der Grenze zwischen Zehlendorf und Nikolassee, zweien von insgesamt 96 Ortsteilen Berlins. Die drei Herren, die mich vor dem Bahnhofsgebäude in Empfang nahmen, sahen das allerdings anders. „Willkommen in Schlachtensee“, rief ihr Wortführer.

„Willkommen in Berlins siebenundneunzigstem Ortsteil!“ Triumphierend grinsten die drei. So, dachte ich, sehen also Berliner Separatisten aus. Die Begegnung war keine zufällige. Sie hatte mit meiner Kolumne „Mühling kommt rum“ zu tun, die ich damals für den Tagesspiegel schrieb. Jede Woche porträtierte ich einen der Berliner Ortsteile. In mehr oder weniger zufälliger, nämlich alphabetischer Reihenfolge reiste ich kreuz und quer durch die ganze Stadt, um Berlins kleinste Verwaltungseinheiten abzuklappern.

Etwa drei Viertel dieser Kiezwanderungen lagen zu jenem Zeitpunkt hinter mir - gerade eine Woche zuvor war ich in Rummelsburg gewesen (Ortsteil Nr. 74), als Nächstes hätte auf meiner alphabetischen Liste statt Schlachtensee eigentlich Schmargendorf gestanden (Nr. 75). Wäre da nicht dieser Leserbrief gewesen. Er hatte mich ein paar Wochen zuvor erreicht, als ich gerade über Nikolassee geschrieben hatte, jenen Ortsteil, dem gemeinhin die westlichen Hälften des Schlachtensees und der gleichnamigen Villenkolonie zugerechnet werden, während ihre Osthälften zu Zehlendorf gehören.

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Das aber, erklärte mir der empörte Leserbriefschreiber, sei eine große stadthistorische Ungerechtigkeit. Das komplette Gewässer und die gesamte Villenkolonie seien vielmehr Teil eines unterdrückten, weil offiziell nicht anerkannten Ortsteils namens Schlachtensee, für dessen Unabhängigkeit er seit geraumer Zeit mit einer Bürgerinitiative kämpfe. Ein paar Wochen später stand der Leserbriefschreiber dann also vor mir: Dirk Jordan, der Simón Bolívar des Berliner Südwestens.

Begleitet von zwei Mitstreitern führte er mich durch den Möchtegern-Ortsteil Schlachtensee - vorbei am S-Bahnhof („älter als der von Nikolassee!“), der Villenkolonie („früher gegründet!“), dem Marktplatz („besserer Fisch!“) und der berühmten Bankfiliale, die 1995 durch einen 20 Meter langen Tunnel ausgeraubt wurde („selbst unsere Diebe sind cleverer!“). Die Komparative prasselten nur so auf mich ein – in allen Punkten triumphierte Schlachtensee über die beiden Nachbarortsteile, aus deren gewaltsamer Umklammerung der Kiez endlich befreit werden musste.

„Ganz Berlin abwandern – Ortsteil für Ortsteil“

Während ich stumm den kämpferischen Ausführungen der drei Ortsteil-Dissidenten zuhörte, ging mir der eine oder andere Gedanke durch den Kopf, der mich bei meinen Berlin-Spaziergängen in den zurückliegenden anderthalb Jahren immer mal wieder beschäftigt hatte. Begonnen hatte das ganze Projekt mit dem Gefühl, dass ich die Stadt nach rund 20 Jahren als Berliner und rund 15 Jahren als Berliner Journalist zwar in Teilen sehr genau, aber insgesamt nur sehr ausschnittsweise kannte.

Wie ich in Gesprächen mit Freunden und Kollegen bald feststellte, war ich mit diesem Gefühl nicht alleine – selbst Menschen, die deutlich länger als ich oder sogar schon immer in Berlin gelebt hatten, bewegten sich in der Regel zwischen ihren Wohngegenden und den immer gleichen Zentralbezirken hin und her, während sie von den übrigen Ecken der Stadt, vor allem von den entlegeneren, nur unklare Vorstellungen hatten. Als ich durchzählte, in wie viele der 96 Berliner Ortsteile ich schon einmal einen Fuß gesetzt hatte, kam ich auf 41.

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Dabei war ich so oft in all den Berliner Jahren morgens mit dem Gedanken aufgewacht: Du müsstest mal irgendwo hinfahren, wo du noch nie warst. Irgendwohin, wo du auch ohne guten Grund nie landen würdest, in eine der vielen kleinen unbekannten Ecken, aus denen diese große Stadt besteht. Wenn ich dann abends einschlief, hatte ich den Tag meist aber doch wieder nur in jenen altbekannten Innenstadtteilen verbracht, aus denen man ohne guten Grund schwer rauskommt, weshalb sich selbst die größten Städte oft verblüffend klein anfühlen.

Und so keimte langsam eine Idee in mir: Ganz Berlin abwandern – Ortsteil für Ortsteil. Nicht lange überlegen, keinen Grund suchen, einfach blind hinfahren und loslaufen. Stromern, stöbern, Leute anquatschen, Abenteuer erleben. Die toten Winkel und blinden Flecken meines inneren Stadtplans mit städtischem Leben füllen, alle Puzzlestücke entdecken, aus denen Berlin zusammengesetzt ist, um am Ende das vollständige Bild sehen zu können. Ziemlich genau zwei Jahre habe ich damit insgesamt verbracht.

Grauer Schwan auf dem Weißen See. Auch hier kam Mühling auf seiner Reise durch die Bezirke vorbei.
Grauer Schwan auf dem Weißen See. Auch hier kam Mühling auf seiner Reise durch die Bezirke vorbei.

© Jens Mühling

Berlin ist nicht überall schön, nicht überall interessant

Von A bis Z, von Adlershof bis Zehlendorf bin ich durch die Stadt gereist, um in jedem Ortsteil einen Tag lang mein Berlin-Bild mit der Wirklichkeit abzugleichen. Nicht immer, aber verblüffend oft fühlten sich diese Touren tatsächlich wie Reisen durch eine fremde Stadt an. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass Berlin überall schön ist. Oder auch nur, dass die Stadt überall interessant ist. In weiten Teilen besteht sie aus drögen Einfamilienhausvierteln, tristen Betonblocksiedlungen, gesichtslosen Einkaufsstraßen und grauen Industriegebieten, aus austauschbaren Gartencentern, Parkplatzwüsten und Autobahnknoten.

Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Ödnis solcher Ecken auszukosten. Trotzdem gab es keine Kieztour, die nicht auf ihre Weise bereichernd gewesen wäre, weil sie mir eine Ecke der Stadt erschloss, von der ich vorher wenig bis gar keine Ahnung hatte. Neben unzähligen lokalen Entdeckungen verdanke ich diesen Ortsteilwanderungen auch ein paar allgemeinere Erkenntnisse über Berlin. Etwa, dass es in kaum einer anderen Stadt so viele Friseure mit Kalauer-Namen geben dürfte (mein Favorit: „Mata Haari“ in Friedenau).

Oder, dass in Berlins zentralen Bezirken zwar die typischen fünfstöckigen Mietshäuser dominieren, gleichzeitig aber ein überraschend großer, wenn nicht gar der größere Teil der Stadtfläche mit Einfamilienhäusern bebaut ist, deren Bewohner im öffentlichen Stadtgeschehen unproportional wenig von sich reden machen. Erwandert habe ich mir außerdem Antworten auf die Frage, was Berlins Unterteilung in Ortsteile eigentlich bedeutet - und warum es 96 davon gibt.

Die Stadtstruktur folgt nicht immer einer Logik

Die Stadt erlebte ihre letzte maßgebliche Ausdehnung im Jahr 1920, als die alten preußischen Gemeindegrenzen ruckartig auf Metropolenformat erweitert wurden. Seitdem haben sich die äußeren Stadtgrenzen nur noch unwesentlich verschoben - bis heute hat Berlin ziemlich genau die Silhouette von 1920, die mit etwas Phantasie an ein Kotelett erinnert. Berlins innere Grenzen dagegen blieben nach 1920 in ständiger Bewegung. Zahllose Gebiets- und Bezirksreformen haben die Anzahl und Dimensionen der Berliner Ortsteile stetig verändert.

Die Borussia-Statue im Preußenpark trägt Hertha-Schal.
Die Borussia-Statue im Preußenpark trägt Hertha-Schal.

© Jens Mühling (tsp)

Das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Grenzverschiebungen ist eine nicht immer ganz logische Stadtstruktur, deren Unstimmigkeiten mir bei meinen Wanderungen auf Schritt und Tritt begegneten. Der Halensee etwa liegt aus unerfindlichen Gründen nicht im gleichnamigen Ortsteil Halensee, sondern im Nachbarortsteil Grunewald. Der Wasserturm Hermsdorf findet sich in Frohnau, das Hundeauslaufgebiet Frohnau dagegen in Hermsdorf. Erkennbar decken sich die heutigen Grenzen der Ortsteile also nicht immer mit den historisch gewachsenen Stadtbereichen, deren Namen sie tragen.

Welchen Sinn haben die Ortsteile?

Konsequenzen hat das keine, da die Ortsteile verwaltungstechnisch ohnehin kaum von Bedeutung sind – die politische Gestaltungsmacht liegt bei den übergeordneten zwölf Bezirken, die anders als ihre 96 Untereinheiten eigene Rathäuser, Bürgermeister und Volksvertretungen haben. Die Ortsteile dagegen sind mehr oder weniger symbolische Einheiten. Sie sind weder mit den Wahlbezirken identisch noch mit den Postleitzahlbereichen, den Kirchgemeinden oder den Planungsräumen der Berliner Statistiker.

In vielen Fällen sind sie nicht einmal deckungsgleich mit dem, was die Berliner als Anfang und Ende ihres jeweiligen Kiezes wahrnehmen – viele, die im Südwestteil von Schöneberg leben, halten sich für Friedenauer, viele Gesundbrunnener nennen sich Weddinger. Ihren Sinn haben die Ortsteile trotzdem, denn in der Regel sind sie in Berlin die kleinste Messeinheit der Selbst- und Fremdverortung. Sie sind die städtischen Schubladen, in die man sich und andere steckt, um miteinander über Berlin reden zu können, sie sind die simple Antwort auf die Frage: Und wo wohnst du so? Man könnte auch sagen: Sie sind Heimat.

96 Ortsteile, die in den Knochen stecken

Genau das macht sie so wichtig für Lokalpatrioten wie die Separatisten von Schlachtensee. Deren Unabhängigkeitskampf war übrigens bisher nicht von Erfolg gekrönt. Knapp ein Jahr nach meiner Begegnung mit Dirk Jordan und seinem Dissidententrupp wird Schlachtensee von offizieller Seite nach wie vor als Teil von Nikolassee und Zehlendorf betrachtet. Es ist nicht ausgemacht, dass es dabei bleibt. Im Berliner Nordwesten schafften es 2012 zuletzt die Borsigwalder, ihren Kiez aus Wittenau herauslösen und zum jüngsten Berliner Ortsteil erklären zu lassen. Geändert hat sich dadurch für sie allerdings wenig.

Ich erinnere mich gut an das Ende meiner Wanderungen. Angekommen beim Buchstaben Z stand ich an einem nasskalten Januartag in Zehlendorf vor den nachgebauten Mittelalterhütten des Museumsdorfs Düppel. So also, dachte ich, während der Winterregen von den reetgedeckten Dächern troff, sah es in Berlin aus, als alles anfing: als sich im Spreeraum des 12. und 13. Jahrhunderts jene Siedler niederließen, aus deren Dörfern unsere Stadt wurde.

Und wie im Zeitraffer spielte sich vor meinem inneren Auge ab, wie es weitergegangen war: wie die Stadt aus ihrer historischen Mitte am Spreeufer herausgewachsen und stetig größer geworden war, wie sie ein Dorf nach dem anderen verschlungen und überwuchert, wie sie ihr Umland allmählich erobert und gefressen hatte, bis sie am Ende aus jenen 96 Ortsteilen bestand, die mir nun in den Knochen steckten.

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