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Vorne eine "planlose" Favela, hinten Hochhäuser in Sao Paulo. Können Wohngebiete nach den Regeln einer Favela besser geplant werden?

© Ralf Hirschberger/dpa

Tagesspiegel-Debatte: Lernen von Favelas: Diskussion über "Sonderzonen" gegen Wohnungsnot

In Berlin werden neue Wohngebiete geplant, ohne die künftigen Bewohner zu kennen. Das geht auch anders, wie eine Diskussion der Tagesspiegel-Reihe "Confronting the Future" zeigte.

Eine bisschen mehr brasilianische Favela, dafür deutlich weniger deutsche Bauordnung – nur eine charmante Utopie? Die Redner beim Tagesspiegel-Podium „Confronting the Future“ im historischen Kornversuchsspeicher am Nordhafen arbeiteten sich am Dilemma deutscher Wohnungsbauplanung ab: Während zehn Jahre lang eine Armada von Architekten, Ingenieuren und Interessenvertretern ein neues Viertel auf der grünen Wiese plant, weiß niemand, wer später mal hier einziehen wird. Klar ist nur, dass die Nachbarn des neuen Viertels in der Regel lautstark Widerstand leisten.
In den brasilianischen Favelas ist das genau umgekehrt: Die Bewohner sind längst da, haben auch schon irgendwelche Behausungen gezimmert und verhandeln anschließend mit den Behörden, wie sich ihre illegal errichtete Siedlung weiter entwickeln könnte. „Das ist eine starke Verhandlungsbasis“, sagt Rainer Hehl, Stadtplaner an der ETH Zürich und der TU Berlin. Hehl hat eine Zeit lang neben einer Favela in Brasilien gelebt und studiert, wie sich „informelle, situative“ Planungsprozesse vollziehen.

Man dürfe das Leben dort nicht romantisieren, es gebe viele Konflikte und Gewalt, aber auch klare Vorzüge: Eine Favela wächst aus sich heraus dynamisch, orientiert an den jeweiligen Bedürfnissen der Bewohner, während ein durchgeplantes Wohngebiet, abgeworfen am Stadtrand, auch als soziales Ghetto enden kann, wie Märkisches Viertel und Gropiusstadt in den 1980er Jahren. Die Kernfrage des Abends, den Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner provokant moderierte: Lassen sich Konzepte aus den Favelas auf die deutsche Planungswirklichkeit übertragen?

Die Gemeinschaftsgärten auf dem Tempelhofer Feld - auch ein Resultat alternativer Planungprozesse von unten.
Die Gemeinschaftsgärten auf dem Tempelhofer Feld - auch ein Resultat alternativer Planungprozesse von unten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Hehl forderte eine „Neuverhandlung von Regeln für eine soziale Entwicklung“ und eine Förderung neuer Wohnformen, die zwar längst auf dem Markt sind, aber häufig nur als Randerscheinungen: Mietshaussyndikate, Baugruppen und Genossenschaften.

Eine "Sonderzone" auf dem Tempelhofer Feld

In Brasilien würden gesetzlich fixierte Bauregeln auch mal außer Kraft gesetzt, in sogenannten „Sonderzonen“ – vielleicht könne man ja das Tempelhofer Feld zur Sonderzone erklären, als Großexperiment für neues Planen und Bauen. Kurioserweise war genau das in Ansätzen mal geplant: als eine Internationale Bauausstellung. Die „IBA 2017“ wurde aber noch in der Vorbereitungsphase vom Senat gestoppt, angeblich aus Kostengründen. 2014 beendete der Volksentscheid gegen die Randbebauung alle Wohnungsbaufantasien.
Die Gegenrede zum informellen Favela-Stil hielt Steffen Kercher, in der Münchener Stadtverwaltung für neue Wohngebiete zuständig. Eines für 10.000 Menschen werde gerade vorbereitet. Da versuche die Verwaltung, auch Bewohner der Innenstadt für das Projekt zu interessieren, mit „Events wie Picknicks oder Streichelzoo“. Doch meistens meldeten sich nur die üblichen Verdächtigen, Leute aus dem Bildungsbürgertum, Lehrer, Freiberufler. Leute aus den unteren Einkommensschichten erreiche man kaum.

Dennoch: „Wir bauen abwechslungsreich“, mit unterschiedlichen Eigentümern und Konzepten. Ähnlich wie in Berlin werde ein Drittel der Wohnungen für Geringverdiener reserviert. Turner bohrte nach, wollte wissen, was die Bauverwaltung denn von den Favelas lernen könne. Da fiel Kercher nur das Beispiel „Bayernkaserne“ ein, dort sind 4000 Wohnungen geplant.

Die Bauherren müssten pro Quadratmeter Baufläche eine Abgabe von fünf Euro zahlen, als Anschubfinanzierung für eine Art Quartiersmanagement. Man könne auch mal eine „einzelne Parzelle“ direkt an eine alternative Baugemeinschaft vergeben, müsse dann aber aushalten, dass sich jahrelang über die Architektur gestritten werde.

Begeisterung für Plattenbauten

Als künstlerische Inspiration war der Beitrag von Anett Zinsmeister gedacht, die an der Kunsthochschule Weißensee unterrichtet und sich mit Plattenbauten auseinandergesetzt hat. Die in Verruf geratenen Standardbauten hätten eigentlich „viel Potenzial“, auch für individuelle Gestaltungen. Turner konnte diese „Begeisterung für die Platte“ nicht nachvollziehen, was ihm den Vorwurf einer Architektin aus dem Publikum einbrachte, alte Vorurteile zu reproduzieren. Die Nachteile der Plattenbausiedlungen seien weniger die Bauweise als die Lage am Stadtrand, fern von Kulturstätten und den belebten Plätzen der Innenstadt. Ob sich Favela-Bewohner für die Platte aussprechen würden, blieb offen.

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