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Foto: Sven Darmer

© Sven Darmer

Tagesspiegel-Aktion „Menschen helfen!“: Suppenköche der Berliner Aidshilfe wollen mehr bedürftige Erkrankte versorgen

Rund 16500 Menschen mit HIV leben in Berlin. Ihre Situation verschärft sich durch die Pandemie. Tagesspiegel-Leser können helfen.

In diesem Jahr bittet der Tagesspiegel-Spendenverein „Menschen helfen!“ für Unterstützung in der Coronakrise um Spenden. Stellvertretend für alle 30 Initiativen für Berlin, Brandenburg und die Welt stellen wir zwölf Projekte in unserer Spendenserie bis Weihnachten vor. Heute: das „Ulrichs - Café, Küche & Kultur“ der Berliner Aids-Hilfe.

Die bauchigen Einweckgläser mit orange Gummibändern warten aufgereiht auf einem Tisch im Café „Ulrichs“, gleich hinter der zum Verkaufstresen umfunktionierten Eingangstür. In jedem Glas steckt eigentlich eine ganze Mahlzeit. Es gibt Hähnchen in Paprika-Sauce, Linseneintopf mit Tofu oder Geflügelwienern, Minestrone oder Kartoffel-Pastinaken-Suppe.

„Die Einmachgläser kennen viele aus ihren Kindertagen“, sagt Thomas Sielaff, der das Café der Berliner Aids-Hilfe leitet. „Und manche haben so etwas wie einen Steckrüben-Eintopf lange nicht mehr gegessen.“ Denn einige der Gäste des ehrenamtlich betriebenen Cafés in der Karl-Heinrich-Ulrichs-Straße 11 in Berlin-Schöneberg sind nicht nur HIV-positiv, sondern leben in ärmlichen Verhältnissen.

„Wer zu uns kommt, hat zum Teil mit mehr als nur einem Problem zu kämpfen“, sagt die Geschäftsführerin der Berliner Aids-Hilfe, Ute Hiller. „Die HIV-Erkrankung ist dabei nicht die größte Herausforderung.“ Für viele seien das vielmehr Probleme wie etwa, mit sehr wenig Geld auszukommen.

Dringende Bitte um Spenden

Im „Ulrichs“ fanden sie vor der Pandemie eine günstige und warme Mahlzeit. Doch das Café hat seit dem Teil-Lockdown geschlossen. Um die Stammgäste weiter zu versorgen, kocht das Personal nun das Essen für sie ein. Dafür braucht die Einrichtung dringend Spenden. „Wir sind inzwischen fast schon zu Experten fürs Einwecken geworden“, sagt Hiller und lächelt.

Die 52-Jährige mit den kurzen Haaren und dem warmen Blick hinter der Brille erläutert, wie das geht: Die Ehrenamtlichen kochen die Gerichte und füllen das Essen in die Einmachgläser. Die mit den Gummiringen und Klammern geschlossenen Gläser kommen dann für eine Stunde in den „Hans Dampf“, den Konvektomaten – so heißt der große stahlgraue Heißluftofen, der mit Dampf gart. Dort werden sie erhitzt – dabei werden Bakterien abgetötet, die Luft entweicht zudem aus den Gläsern.

In ein Weckglas passt ein halber Liter Essen

Nach der Abkühlung kommt keine Luft mehr hinein und somit auch keine Bakterien, das Vakuum sorgt dafür, dass das Essen lange frisch bleibt. Sielaff berichtet, das Prinzip habe sich bewährt. Ein halber Liter gekochtes Essen passt seinen Angaben zufolge in ein Glas – das ist etwas mehr als ein tiefer Teller. „Das macht gut satt“, sagt Sielaff. Ein Teil der Weckgläser wird, wie vorher auch das Essen im Café, regulär verkauft. Ein Glas kostet 2,50 bis 3,50 Euro – plus zwei Euro Pfand. Einziger Unterschied: Die früheren Café-Gäste, die beispielsweise in den umliegenden Gebäuden arbeiten, kaufen ihr Mittagessen jetzt an der Tür und nehmen es dann ins Büro mit.

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Ein weiterer Teil der Weckgläser wird allerdings kostenlos verteilt. Die Berliner Aids-Hilfe vergab bis zur Schließung des Cafés Essensgutscheine an Menschen in einer akuten Notlage, oder deren Einkommen noch weniger als Hartz IV betrug. Im fünften Stock über dem Café liegt die dafür zuständige Beratungsstelle. Dort bekommen diejenigen, die keine Wohnung haben, oder deren Strom wegen Zahlungsunfähigkeit abgestellt worden ist, nun ihr eingekochtes Essen in der Mikrowelle warm gemacht. Allein im vergangenen Jahr hatte die Einrichtung nach eigenen Angaben rund 5000 Gutscheine für ein Frühstück oder ein Mittagessen und ein Getränk im „Ulrichs“ ausgegeben.

Viele Hilfsangebote sind durch die Pandemie weggefallen

Die Corona-Pandemie hat die Lage noch einmal verschärft. Zahlreiche Hilfsangebote, wie etwa die Tafeln, sind weggefallen. Dabei waren manche HIV-Positive in Berufen wie der Sexarbeit tätig gewesen, die in der Pandemie nicht mehr ausgeübt werden durften. Ihre Einnahmen brachen vollständig weg. Aber auch diejenigen, die sich mit Flaschensammeln oder kleinen Aufträgen im Kiez gerade noch so übers Wasser gehalten hatten, traf die Corona-Krise nun mit voller Wucht.

„Sie hatten beispielsweise in ihrer Lieblingsbar ausgeholfen und dafür etwas von dem Essen bekommen, das übrig war“, sagt Sielaff. Beides war mit einem Mal nicht mehr möglich. „Manche sind deshalb zum ersten Mal zu uns in die Beratung gekommen.“

Menschen mit Migrationshintergrund machen etwas mehr als die Hälfte aller Beratungskunden der Berliner Aids-Hilfe aus. Sie haben mit ganz eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen. So arbeiten einige zwar in Berlin, sind allerdings in ihren Heimatländern in der EU krankenversichert. Vor Corona fuhren oder flogen sie regelmäßig dorthin, um sich ärztlich untersuchen zu lassen und ihre Medikation zu bekommen.

Mit der Schließung der Grenzen kamen sie aber nicht mehr an ihre Medikamente. Ließen sie sich diese stattdessen per Post schicken, blieben die Pakete oft im Zoll stecken. Versuchten sie, die Arzneimittel auf eigene Rechnung zu kaufen, konnte das schnell „sehr, sehr, sehr teuer“ werden, wie Hiller sagt: „Das hat die finanzielle Not nur noch größer gemacht.“

Viele derjenigen, die sich nun bei der Aids-Hilfe meldeten, wüssten deshalb einfach nicht mehr weiter. „Wir wollen ihnen durch den Winter helfen“, sagt Sielaff. Seine Stimme klingt fest. „Deshalb rufen wir zu Spenden auf.“ Der 41-Jährige ist einer von zwei hauptamtliche Mitarbeitern im Café „Ulrichs“. Die Senatsgesundheitsverwaltung finanziert dabei die Gehälter und die Räume. Die übrigen Kosten sollen durch Spenden abgedeckt werden. So sieht es das Förderkonzept vor. „Dafür machen wir jedes Jahr eine Benefizgala“, sagt Hiller. „Aber das geht in diesem Jahr auch nicht.“

Es wurde 40 Prozent weniger gespendet als im Vorjahr

Die Spenden an die Berliner Aids-Hilfe waren Ende vergangenen Oktober im Vergleich zum Vorjahr bereits um 40 Prozent gesunken. „Dabei ist unsere Arbeit gerade jetzt wichtiger denn je“, merkt Sielaff an. Denn das Café hilft nicht nur gegen den Hunger. Den meisten Menschen, die in der Anlaufstelle in der Nähe vom Nollendorfplatz Hilfe suchen, droht auch Vereinsamung. Das war für manche schon vor der Pandemie so. „Wenn die Gesellschaft einen aufgrund der Diagnose stigmatisiert, sucht man eher Kontakt zu Menschen, die in ähnlicher Lage sind und einen deshalb nicht in die Ecke stellen“, sagt Sielaff.

Rund 16.500 Menschen mit HIV leben laut einem aktuellen Bericht des Robert-Koch-Institutes in Berlin. Dabei wissen etwa 1500 von ihnen nichts von ihrer Erkrankung. Damit ist Berlin nach Nordrhein-Westfalen das am stärksten betroffene Bundesland. Im vergangenen Jahr hatten sich 310 Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Die meisten Übertragungen (220) sind demnach auf Sex zwischen Männern zurückzuführen, 50 auf Sex unter Heterosexuellen und 40 auf Drogenkonsum. Bundesweit leben rund 90 700 HIV-positive Menschen. 2019 hat es insgesamt 2 600 Neuinfektionen gegeben.

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Rund 30 ehrenamtliche Helfer mit und ohne HIV halten im „Ulrichs“ den Betrieb am Laufen. Und seit der Eröffnung vor nunmehr sieben Jahren schauen bei Weitem nicht nur HIV-positive Gäste vorbei. „Im Café treffen Menschen aller möglichen Hintergründe und sozialer Schichten aufeinander“, sagt Hiller. „Die Begegnungen helfen dabei, Vorurteile abzubauen und wirken so der Ausgrenzung entgegen.“

Selbst die kurzen Treffen vor dem Verkaufsfenster seien in Corona-Zeiten von großer Bedeutung, erläutert die Geschäftsführerin. Denn nicht wenige HIV-Positive fürchten sich, das Haus zu verlassen.

Wer HIV-positiv ist, gehört nicht automatisch zur Risikogruppe

„Dabei gehören HIV-positive Menschen nicht per se zur Risikogruppe“, betont Hiller. Nur wer unter einem besonders stark geschädigten Immunsystem leide und zusätzliche Risiken etwa durch Diabetes oder ein fortgeschrittenes Alter habe, müsse besonders aufpassen. Dennoch seien die Ängste groß.

[Das Spendenkonto: Unter Empfänger bitte eintragen: Spendenaktion Der Tagesspiegel e.V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“; Berliner Sparkasse; BIC: BELADEBE; IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. Bitte Namen und Anschrift für den Spendenbeleg notieren. Auch Online-Banking ist möglich.]

Manche hätten sich überwinden müssen, um mit dem Fahrrad zum Café zu kommen und ihr Mittagessen abzuholen. Dabei täten die kurzen Ausflüge vor allem denjenigen gut, die sonst kaum über soziale Kontakte verfügen. „Einmal Hallo sagen und kurz erzählen, wie es einem so geht, ist deshalb alles andere als unwichtig“, sagt Sielaff. Zumal die üblichen Selbsthilfegruppen mit insgesamt rund 300 Mitgliedern sich im Augenblick nicht treffen können.

Auch die Weihnachtsfeier der rund 200 Ehrenamtlichen der Aids-Hilfe findet in diesem Jahr nicht wie gewohnt statt. Stattdessen sollen alle ein Weihnachtsessen im Glas per Post nach Hause bekommen – als persönliches Dankeschön, wie Hiller sagt: „Wer will, kann dann mit anderen zusammen vor dem Bildschirm speisen und sich so doppelt stärken.“

Die Planungen dafür laufen bereits: Da keine Ente mit Rotkohl, vor allem aber keine Klöße ins Weckglas passen, wird es vermutlich auf Gulasch oder Chili sin Carne hinauslaufen. Keine schlechte Wahl, wie es scheint: „Das lieben sowieso ganz viele“, sagt Sielaff. „Und dazu gibt es Plätzchen.“

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