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Das Mehrgenerationenhaus in Berlin Kreuzberg bietet Essen für Kinder aus dem Kiez.

© Doris Spiekermann-Klaas

Tagesspiegel-Aktion "Menschen Helfen": Jede Menge Spenden - auch für die Rettungsinsel in Kreuzberg

370 000 Euro spendeten die Tagesspiegel-Leser für die 60 Projekte von „Menschen helfen!“ 2015/16. Vor dem Start der neuen Weihnachtsaktion hier die Bilanz – und ein Kreuzberger Beispiel für viele.

Sertac steht nur einen halben Meter von den Salatschüsseln entfernt, er müsste jetzt nur zugreifen. Aber er wartet, er steht da in seinem grauen Pullover, als Vierter in der Reihe, bis er drankommt. Dann schnappt er sich einen Teller, schöpft Salat und geht an seinen Platz. Auf dem Teller liegt auch noch eine türkische Pizza und geschnittenes Fladenbrot.

Dann wartet Sertac wieder. Er wartet, bis alle Kinder ihr Essen haben und an ihrem Platz sitzen. Dann, erst dann, beginnt er auch zu essen. Höflich, rücksichtsvoll, ein wohlerzogenes Kind.

Im Mehrgenerationenhaus lernen die Kinder Regeln und Werte

Es ist derselbe Junge, über den Adem Eren sagt: "Er war früher der Frechste in der Gruppe. Früher hatte er beim Essen gedrängelt. Er hat die größte Entwicklung gemacht." In der Wassertorstraße 48, dem Mehrgenerationenhaus in der Nähe des Moritzplatzes in Kreuzberg, hat eine bemerkenswerte Verwandlung stattgefunden.

Eren arbeitet als Organisator im Haus, er steht im Essensraum, wo jetzt 20 Kinder Salat und Pizza genießen und beobachtet fast bewundernd den kleinen Sertac. "Früher hat er nie Hausaufgaben gemacht, jetzt sind sie für ihn ein Muss." Alle Eltern haben andere Kinder zu Hause, seit die im Mehrgenerationenhaus sind. Hier erhalten Kinder jeden Tag ein warmes Essen, sie können hier ihre Freizeit verbringen, in Ruhe Hausaufgaben machen, hier lernen sie viele Regeln und Werte kennen.

Hier finden Kinder aus schwierigen Verhältnissen wieder Halt

Die Wassertorstraße ist eine Art Rettungsinsel in einer Umgebung, für deren Problem eine Zahl steht. Das Sozialranking von Berlin hat 432 Plätze. Je schlechter die Zahl, umso größer die soziale Not und Verwahrlosung des Gebiets. Die Wassertorstraße liegt auf Platz 431. Der Moritzplatz belegt Rang 432. Das Mehrgenerationenhaus fängt Kinder auf, die aus schwierigen Verhältnissen kommen. Sie haben teils Eltern, die Hartz-IV-Geld für Tabak und Handygebühren ausgeben, die ihren Kindern Süßigkeiten statt Pausenbrote in die Schultasche stecken. Sie erhalten hier, was in der rauen Umgebung des Moritzplatzes selten ist: soziale Wärme, Zuwendung, Lob, Selbstwertgefühl.

Der Tagesspiegel hatte im Dezember 2015 über die Wassertorstraße geschrieben. Das Projekt benötigte dringend Geld für Lebensmittel und für eine neue Küche. Die alte war zu eng, mehr als zwei Personen konnten kaum darin arbeiten.

Die Spenden der Tagesspiegel-Leser haben viel möglich gemacht

Durch die Spenden der Tagesspiegel-Leser kann sich das Projekt jetzt endlich eine neue Küche leisten. Sie sollte eigentlich schon im August stehen, aber der Anbieter konnte den Termin nicht halten, ein neuer baut die Küche in einer Woche ein. Doch das, was die Leserinnen und Leser und die Spendenaktion bewirken, geht eben übers rein Finanzielle weit hinaus.

Erst mal hat Gabi Döring jetzt Salat geschnippelt, sie steht jetzt vor dem Herd und sagt: "Wir brauchen die neue Küche dringend. Sie ist eine große Entlastung für uns." Ein Rolltresen kommt, damit kann man bei Bedarf mehr Platz schaffen. Es kommen auch zusätzliche Küchenschränke für Tassen, Teller, Gläser. Damit kann endlich ein Geschirrschrank an der Wand entfernt werden. "So gewinnen wir Raum für weitere zwölf Kinder-Sitzplätze", sagt Eren. Und in seinem Büro erklärt Sozialarbeiter Thomas Brockwitz: "Wir platzen aus allen Nähten."

35 bis 40 Kinder, zwischen sieben und 13 Jahren, kommen jeden Tag zum Essen. Sie werden nicht bloß gesund ernährt – jeden Tag in der Regel von ehrenamtlichen Helfern –, sie lernen auch Regeln für den Alltag. "Früher haben die beim Essen herumgehampelt, sie waren unruhig, sie haben keine Hausaufgaben gemacht", sagt Murat Akkas, der zum Erzieher ausgebildet wird. Jetzt fassen sich die Kinder vor dem Essen an die Hände und führen das "Piep, piep, piep"-Ritual auf, sie schreien nicht, und mitunter geht auch ein Kind mit der Wasserflasche zwischen den Tischen entlang und gießt die Becher wieder voll. Und wer neu ist in der Wassertorstraße und vor dem Essen nicht am Wasserhahn gestanden hat, der hört von den anderen Kindern: "Ohne dass du dir die Hände gewaschen hast, brauchst du dich hier gar nicht hinzusetzen."

Auch eine Pädagogin unterstützt vor Ort

Vor allem lernen die Kinder eine Tagesstruktur. Hausaufgaben gelten nicht als lästige Aufgabe, die man getrost ignorieren kann. Jetzt verhalten sie sich wie Emir Ali, der achtjährige Deutschtürke mit der runden Brille. "Früher hat er immer gesagt, er habe keine Hausaufgaben", sagt Murat Akkas, "jetzt ist er der Erste, der nach dem Essen die Schultasche auspackt und seine Hausaufgaben macht." Und wenn er Fragen hat, spricht er Lena Wiese an. Sie ist Pädagogin, sie betreut die Kinder, nicht bloß bei ihren Schulaufgaben, auch bei allen Fragen, die Kinder haben. Sie ist eine Art Ersatzmama für einen Nachmittag. Und sie ist hier, weil eine Stiftung ihr Gehalt finanziert. Die Stiftung wurde durch den Tagesspiegel auf das Projekt aufmerksam.

Durch ihr Geld können die Projektverantwortlichen seither für fünf Tage in der Woche Lebensmittel kaufen. Vor einem Jahr servierten die Helfer nur an zwei Tagen warmes Essen, für mehr reichte das Geld nicht. "Allerdings müssen wir immer noch für die Lebensmittel Geld zuschießen", sagt Brockwitz. "Wir können nicht alle Lebensmittel mit Spendengeldern bezahlen." Deshalb benötigt das Projekt weiterhin Geld, deshalb ist die Wassertorstraße auch 2016 Teil der Spendenaktion des Tagesspiegels. Lena Wiese redet auch mit Eltern, sie erzählt ihnen, was ihr an an deren Kindern auffällt, sie fragt nach, wenn sie familiäre Probleme vermutet, sie gibt Tipps, wenn sie spürt, dass Eltern überfordert sind. Dass Eltern überhaupt in die Wassertorstraße kommen, ist neu. "Früher haben sie ihre Kinder einfach abgeliefert", sagt Brockwitz. "Aber seit zwei, drei Monaten kommen sie selber, teilweise mit ihren Kleinkindern, die noch zu jung sind für unser Projekt."

Die Eltern integrieren sich immer mehr in das Projekt

Sie tauchen ein in eine neue Welt. Sie stellen zu Hause fest, dass ihre Kinder ruhiger, ausgeglichener werden, sie wollen sehen, vorsichtig, abwartend, was in dieser Welt passiert, aus der ihre Kinder verändert auftauchen. Und sie tauchen nun selber ein in in diese Welt, mit Gesten großer Dankbarkeit. Die türkische Pizza, welche die Kinder an diesem Tag essen, hat eine Mutter mitgebracht. Eine andere Mutter stellte mal Rosen auf den Tisch. Ihre Antwort auf die Hilfe.

An einem Tisch, ein paar Meter von den zufrieden essenden Kindern entfernt, sitzt an diesem Tag eine Frau mit türkisfarbenem Kopftuch. Sie hat die Hände auf dem Schoß gefaltet, sie sagt nichts, aber ihre Augen drücken tiefe Dankbarkeit aus, als sie das höfliche Kind im grauen Pullover beobachtet. Es ist die Mutter von Sertac.

Zu Adem Eren hat sie gesagt: "Das Kind, das ich von früher kannte, gibt es nicht mehr."

Die aktuelle Weihnachtsspendenaktion 2015/16 „Menschen helfen!“ startet der Tagesspiegel am Adventssonntag.

Dann stellen wir in unserer Spendenserie wieder stellvertretend einige der ausgewählten Projekte in unserer Serie vor.

Spenden kann man schon jetzt: Spendenaktion Der Tagesspiegel e. V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse (BLZ 100 500 00), Konto 250 030 942; Namen und Anschrift für den Spendenbeleg notieren. Online-Banking ist möglich. BIC: BELADEBE, IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. Im Internet: www.tagesspiegel.de

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