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Berlin: Tadeusz Okuljar (Geb. 1929)

Die Sprache war das Einzige, das ihn an Wagner störte

Tadeusz Okuljar liebte die Landschaft, die sein Schicksal ihm als Kindheitskulisse aufgestellt hatte: die polnischen Beskiden. Schon als kleiner Junge streifte er allein darin herum und bestieg die Romanka, von deren Höhen aus er Geist und Seele schweifen ließ. Sein Vater hingegen, ein Landarzt, rumpelte in seiner Kutsche durch die Täler, um die Kranken zu besuchen.

Dieser Vater war der Held jener Kulissen. Sein Arztauge erkannte das Wesen des Sohnes adlerscharf. So kam der Tag, an dem er, der selbst keinerlei musische Ambitionen hegte, seinem Kind eine Geige überreichte. Mit diesem Instrument dehnte Tadeusz Okuljar seine Wanderungen in die Landschaften der Musik.

Zwölf Jahre alt war er, als er darin ein Gebilde namens Wagner entdeckte, das zu erforschen er zeit seines Lebens nicht müde wurde. Ort der Entdeckung war die Wiener Staatsoper, in die sein Onkel ihn mitnahm, während der Vater ein Nervenleiden des älteren Bruders behandeln ließ.

Wieder daheim, drängte Tadeusz seinen Vater, bei deutschen Musikverlagen Wagner-Werke zu bestellen. Der Arzt verabreichte dem Sohn, wonach dieser verlangte. Seltener griff der Junge für seine musikalischen Exkursionen zur Geige; stattdessen traf man ihn still über die Noten gebeugt, während er in seinem Kopf ganze Orchester aufspielen ließ. Oder aber mit mathematischer Genauigkeit den Aufbau dieser Werke untersuchte.

So war es folgerichtig, dass er sich entschied, Musikwissenschaften zu studieren. Doch halt. Bevor er Direktor des Musik-Lyzeums seiner Geburtsstadt Bielsko-Biala wird – war da nicht ein Weltkrieg?

Tadeusz Okuljar liebte es nicht, über die komplizierten Dinge seines Lebens zu sprechen. Anders gesagt: Er fand die Komplexität seines Seins viel realer in der Musik gespiegelt als in dem Gestammel der Münder. Harmoniebedürftig sei er gewesen, sagen die, die ihn kannten. Ein Harmoniebedürftiger bedarf der Harmonien, um sich mitzuteilen – weshalb er, wenn es schon um die schwierigen Dinge des Daseins ging, lieber über Wagners Tristan-Akkord sprach als über die eigene Biografie.

Aus der Kriegszeit erzählte er, dass daheim deutsche Offiziere einquartiert wurden, und dass sie in dieser Zeit deutsch sprachen. Die Sprache kannte er von seiner aus Schlesien stammenden Mutter, fühlte sich in ihr jedoch nie zu Hause. Die Sprache war im Übrigen auch das Einzige, das ihn an Wagner störte.

Als das Deutsch dann nicht nur wieder verschwand, sondern dessen Gebrauch ausdrücklich verboten wurde, durfte Tadeusz Okuljar sich an der Universität endlich ganz dem Studium der Musik widmen. Andere auf seine Forschungsreisen durch die musikalischen Universen mitzunehmen, bereitete ihm größtes Vergnügen, vor allem, wenn die Reise in die Spätromantik ging. Noch als alter Mann gedachte er mit leuchtenden Augen seiner Zeit als Direktor des Musik-Lyzeums.

Umso härter muss der Bruch im Jahr 1963 gewesen sein, als er mit seiner damaligen Frau eine Schwedenreise nutzte, um im Westen zu bleiben. Zurück blieb neben der Schule sein Sohn aus einer früheren Beziehung, den zu sich zu holen, er sich jahrelang vergeblich mühte.

Befragt nach den Gründen für die Flucht, gab er in gewohnter Art nur knappe Auskunft, etwa, dass er Tschaikowski liebe und verehre, jedoch den Druck, der auf ihm als Staatsdiener lag, nicht länger aushielt.

Nachdem er sich in Schweden eine Zeit lang als Apfelpflücker durchgeschlagen hatte, gelangte er nach Westdeutschland, wo ihm wieder jener Wien-Onkel eine Tür öffnete, diesmal zu dem Mainzer Musikverlag „Schott“. Dort war man froh über den Experten und sandte ihn 1969 nach Berlin, wo er als Mitherausgeber einer Schönberg-Gesamtausgabe arbeitete.

So saß er wieder still über Noten gebeugt, hinter dem Fenster nicht die Beskiden, sondern die Bundesallee. In den Bilderrahmen an der Wand wie auf seinem Tisch spielte Schönberg. Tadeusz Okuljar lauschte sämtlichen Varianten, glich sie ab mit Vorwerken und Schönbergs Theorien, und fügte das, was er hörte, sanft und klug in Fassungen, die in festlich gebundenen Ausgaben an die Öffentlichkeit gegeben wurden.

Des Abends warf er sich ins bunte Leben. Welliges Haar, das ihm in die Stirn fiel, ein treuherzig-verschmitzter Blick aus braunen Augen, so saß er in einer Studentenkneipe und stolperte über die deutschen Artikel, als er die Studentin Ulla kennenlernte. Er lud sie in die Deutsche Oper. Während auf der Bühne die Elektra von Richard Strauss an die Grenzen der Tonalität getrieben wurde, nahm schlicht und schön Tadeusz Okuljars dritte Ehe ihren Anfang.

Mitte siebzig war er, als er am Fuße der Romanka, die er seit der Wende wieder mehrmals im Jahr aufsuchte, stürzte. Umso glücklicher war er, dass es diese andere Landschaft gab, die er auch als schwer an Krebs Erkrankter weiter durchwandern konnte. In seinem letzten Lebensjahr reiste er nach Freiburg, um dort den kompletten „Ring“ zu sehen, und nach Bayreuth, wo er „Parzifal“ und „Tannhäuser“ lauschte. Die drei Operationen, die er ebenfalls in diesem Jahr überstand, gerieten zur Nebensache. Mit Richard Strauss’ „Letzten Liedern“ ist er gegangen. Anne Jelena Schulte

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