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In seiner Akte fand sich auch Isak Binders polnischer Pass, das Foto ist dunkel und vernebelt und verknittert.

© Repro/Labo

Update

Suche nach dem jüdischen Vormieter: Ein Blind Date mit der Vergangenheit

Beim Renovieren findet Elisabeth Peter alte Briefe an ihren jüdischen Vormieter. Wer war Isak Binder? Hat er überlebt? Sie beginnt zu recherchieren.

Von Christian Hönicke

Elisabeth Peter ist feierlich angezogen. Funkelnde Kette, dunkle Bluse, als würde sie zu einem Familienfest gehen. Ein bisschen ist es wohl auch so.

Die 58-Jährige steht vor einem Hauseingang am Fehrbelliner Platz, die Aufregung ist ihr anzumerken. „Man hat ja nicht so oft ein Blind Date“, sagt sie lächelnd. In zehn Minuten hofft sie dem Mann zu begegnen, den sie seit mehr als drei Jahrzehnten sucht. Ihren jüdischen Vormieter, den sie schon so lange kennt und von dem sie doch nur den Namen weiß: Isak Binder.

Frau Peter erinnert sich noch genau an den Moment, in dem er in ihr Leben trat. Es muss 1987 gewesen sein. Sie stillte gerade ihren Sohn, als ihr damaliger Mann die Briefe bei Bauarbeiten in der Wohnungstür fand. Briefe, die nicht an sie gerichtet waren. Sie stammten aus den 1930er Jahren.

Frau Peter ist am Arkonaplatz in Mitte aufgewachsen. Als sie schwanger wurde, bekamen sie die Wohnung im nahen Scheunenviertel zugewiesen. Sie freute sich über die Lage – angesichts der Wohnungsnot in Ost-Berlin „wie ein Lottogewinn“. Das galt nicht fürs Interieur. Sie bezogen eine „FDJ-Ausbauwohnung“, ein Euphemismus für eine besonders heruntergekommene Behausung, die die Mieter selbst bewohnbar machen mussten.

Die Dreiraumwohnung in der Max-Beer-Straße hatte keine Fußböden, kein Bad, keine Heizung. Eine Ruine im Schatten des protzigen Fernsehturms. Fast zwei Jahre dauerte die Sanierung. Dabei stießen die Peters auf einen Zettel im Boden, den der Zimmermann beim Bau des Hauses 1880 hinterlassen hatte. Es blieb nicht die letzte Nachricht aus der Vergangenheit.

Am Ende der Bauarbeiten entschieden sich die Peters, auch noch die Wohnungstür aufzuhübschen. Irgendwann hatte ein Vormieter auf der Innenseite ein unansehnliches, türhohes Feuerschutzblech angebracht. Früher einmal hatte die Tür einen Briefschlitz gehabt, durch den der Postbote die Sendungen steckte. Auch das Blech hatte deswegen einen Schlitz.

Frau Peter hörte aus der Stube, wie ihr Mann an der Tür herumhämmerte. Plötzlich wurde es still. Als sie zur Tür ging, sah sie neben dem abgebauten Blech einen Stapel Briefe.

Beim Zustellen waren sie zwar durch den Schlitz in der Tür gekommen, nicht aber durch den im Feuerschutzblech. Stattdessen waren sie in den Hohlraum gefallen, der sich zwischen Blech und Türrelief gebildet hatte. Dort lagerten sie, ungeöffnet, ungelesen, ein halbes Jahrhundert lang.

Der letzte Brief kam aus New York

Die meisten Briefe waren an Isak Binder adressiert. Etwa der einer Verwandten aus Neustrelitz. Lieber Isak, ich fahre demnächst zur Kur nach Thüringen und habe viel Gepäck. Kannst du mir bitte helfen? Ich muss am Bahnhof Friedrichstraße umsteigen und schaffe das mit den Koffern nicht allein. Doch Isak Binder tauchte nie am Bahnhof Friedrichstraße auf, später schrieb die Verwandte eine weitere Karte. Lieber Isak, schade, ich hatte so gehofft, dass du mir hilfst.

Dann war da noch die Einladung zu einem Zusammentreffen der Jüdischen Gemeinde Berlin, und ein weiterer Mahnbrief, in dem man sein Fernbleiben rügte. Man müsse doch in diesen Zeiten zusammenhalten und aufeinander achten.

Der letzte Brief an Isak Binder kam aus New York und war in Hebräisch verfasst. War es eine Warnung, eine Aufforderung, auch dorthin zu fliehen? Auf jeden Fall hat sie ihn nie erreicht.

Kurz darauf verschwand Isak Binder aus seiner Wohnung, Ende der 1930er zogen andere ein. In der Tür fand Frau Peter weitere unzugestellte Post an die neuen Bewohner, „mit deutschen Namen“. Die letzte Nachricht stammte aus der Nachkriegszeit. Anfang der 1950er Jahre landeten ein paar Lebensmittelmarken in der Tür, die die Mieter vermutlich dringend gebraucht hätten. Danach wurden Briefkästen unten im Hausflur installiert, der Briefschlitz in der Tür wurde verschlossen.

Seither lebte Frau Peter gemeinsam mit Isak Binder unter einem Dach. Wie er wohl ausgesehen hat? Ob er Familie hatte? Bestimmt tausend Mal hat sie darüber nachgedacht. Und jedes Mal landete sie schließlich bei denselben unausweichlichen Fragen. Wurde er ermordet? Oder hat er es rechtzeitig geschafft, Deutschland zu verlassen?

Die Jahre vergingen, die Fragen nicht. Sie blieben einfach in ihrer gemeinsamen Wohnung, versteckten sich hinter jedem Vorsprung. Stand hier sein Bett? Dort sein Schreibtisch? „Seine Geschichte ist auch zu meiner geworden", sagt Frau Peter. „Er saß ja quasi bei mir am Küchentisch.“

Heute stehen zwei Chanukka-Leuchter auf Frau Peters Küchenschrank. Ihr Sohn Martin lebt inzwischen in Israel, bei seiner Freundin Sharon. Frau Peter selbst ist nicht jüdisch, zumindest nicht offiziell. Doch seit Kindheitstagen hat sie sich so gefühlt, irgendwie. Ihre Oma war die DDR-Kinderbuchautorin Lilo Hardel. „Die lustige Susanne“ war ihr erfolgreichstes Buch. „Das hat sie über mich geschrieben“, sagt Frau Peter, „über meine Kindheit.“ Aber das ist eine andere Geschichte.

Zu den Freunden ihrer Großeltern zählten viele intellektuelle Juden, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, „so bin ich aufgewachsen“, sagt Frau Peter. Schon als Kind bemerkte sie den latenten Antisemitismus in der DDR. Der religionsfeindliche und israelkritische Staat ließ die Reste jüdischen Lebens durch systematische Ausblendung verschwinden. Auch die Freunde der Großeltern hätten sich zu ihren Wurzeln indifferent verhalten, sogar im engsten Kreis. „Es hat selten eine Rolle gespielt.“

Elisabeth Peter.
Elisabeth Peter.

© Doris Spiekermann-Klaas

Sie spürte eine Verbindung

Dennoch empfand sie sich als Teil einer speziellen Familie, sie spürte eine Verbindung, „die war dicker als Blut“. Zum Beispiel zu Manni, der jüdischen Jugendliebe der Oma. Er war aus der Zelterstraße in Prenzlauer Berg in die USA emigriert. Hin und wieder kam er in die alte Heimat, mit seinen Kindern. Frau Peter erzählt von gemeinsamen Besuchen auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.

Durch den mysteriösen Fund hatte ihre Familie unverhofft ein neues Mitglied bekommen. Zehn, vielleicht 20 Briefe an Isak Binder seien in der Tür eingeschlossen gewesen, erinnert sich Frau Peter, genau kann sie das nicht mehr sagen. Die Briefe sind seit 1987 verschollen. Ihre Schwiegermutter arbeitete als Sekretärin beim DDR-Fernsehen und hatte davon auf der Arbeit erzählt. Daraufhin habe ein Fernsehkollege gefragt, ob er die Schriftstücke für sein privates Museum benutzen dürfe. Bald darauf starb der Mann und auch die DDR.

Die Schwiegermutter ist nun Ende 80, ihr fällt der Name des Mannes nicht mehr ein. Frau Peter glaubt, dass die Briefe irgendwo auf einem Dachboden in einer Kiste liegen. Sie sahen sie jedenfalls nie wieder. Sie hörten nur noch einmal von ihnen.

Es war kurz vor der Wende, ihr Mann kam von der Arbeit nach Hause. Im Taxi lief Westradio, Rias. Und da erzählten sie die Geschichte ihrer Briefe, er war sich hundertprozentig sicher. „Es ging darum, dass sie hinter einem Blech in der Tür gefunden worden waren“, sagt Frau Peter, „das gibt es doch nicht zweimal.“

Ohne die Briefe lebte Isak Binder allein in der Erinnerung seiner Nachmieter weiter. Frau Peters Kinder wuchsen mit ihm auf, sie hörten seine Geschichte wieder und wieder. Mal am Kaffeetisch, mal am Telefon. Mal änderten sich die Jahreszahlen, mal die Orte, mal die Namen. Wen lässt die Erinnerung denn nicht im Stich, nach so langer Zeit?

2017 erzählte Frau Peter ihre Geschichte erstmals öffentlich, in einer Talkrunde. Ein weiteres Jahr später erfuhr Stephan Zakow aus dem Tagesspiegel davon (siehe Ende des Artikels). Er arbeitet im Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten. Abteilung I, Entschädigungsbehörde für Opfer des Nationalsozialismus. Herr Zakow sah in der Zentralkartei nach, Raum 7 im Erdgeschoss. Dort lagern 250 000 Kärtchen, jedes verweist auf eine Akte. 250 000 Mal Tränen, Flucht, Schreie, Schläge, Schüsse, Entsetzen, alphabetisch sortiert in kleinen Holzschubladen. „Wir haben hier eine Akte zu einem Isak Binder. Vielleicht ist es derselbe?“

Zwei Wochen später ist der feierliche Moment gekommen. Frau Peter steht mit klopfendem Herzen vor der Tür, hinter der sie die Antworten auf ihre Fragen erhofft. Sie betritt das Entschädigungsamt am Fehrbelliner Platz in Wilmersdorf.

Frau Peter war noch nie hier, und sie wäre wohl von allein auch nie auf die Idee gekommen. Entschädigung – in dem Land, in dem sie aufgewachsen ist, existierte dieses Wort nicht. Die DDR sah sich nicht als Nachfolger des Nazireichs und damit auch nicht in der Verantwortung. Antisemitismus und Rassismus seien hier ausgerottet, damit habe man seine Wiedergutmachungspflichten erfüllt. Wer mehr als solche zynischen Zeilen sehen wollte, der musste sich an den Westen wenden.

"Lassen Sie es nicht zu sehr an sich ran", rät man ihr

Herr Zakow führt sie in den Akteneinsichtsraum. Die Einrichtung ist karg, es riecht nach altem Papier, das Neonlicht lässt Frau Peters Kette funkeln. Auf dem achteckigen Furniertisch liegt ein dünner Hefter mit einer sechsstelligen Nummer.

„Lassen Sie es nicht zu sehr an sich ran“, rät Herr Zakow, mehrfach. „Sie sind nicht die Erste, die entdeckt, dass sie jüdische Vormieter hatte.“ Er hat erlebt, was man in solchen Akten finden kann, und dass nicht jeder damit umzugehen vermag. Doch Frau Peter hört kaum zu. Ob es wirklich ihr Isak Binder ist? „Ich hab richtig Gänsehaut“, sagt sie.

Zweimal schon war Frau Peter ihrem Vormieter ganz dicht auf der Spur. Das erste Mal Anfang der Neunzigerjahre. Sie stolperte in eine kleine Menschentraube vor ihrem Haus, ein alter Mann hielt den anderen offensichtlich einen Vortrag. „Kennen Sie die Geschichte unseres Hauses?“, fragte sie und erzählte ihm von den Briefen an Isak Binder. Der Mann habe daraufhin ihre Hände in seine genommen. Er sei selbst Jude und damals noch ein Kind gewesen, seine Eltern hätten im Erdgeschoss einen Milchladen betrieben. „Die Binders von oben waren unsere besten Kunden.“ Der Mann lebte inzwischen in New York. Was aus Isak Binder geworden war, das wusste er nicht sofort. Vielleicht wäre ihm später mehr eingefallen? Doch Frau Peter war in Eile und vergaß, sich die Nummer des alten Mannes geben zu lassen. Noch heute ärgert sie sich darüber (siehe "Die Spur, die zu Josef Lautmann führte" am Ende des Textes).

Mitte der 90er spürte Frau Peter sogar Isak Binders Frau auf. „Durch unsere jüdischen Kontakte hatte ich auch gute Verbindungen in die Jüdische Gemeinde.“ Dort machte man nach ihrer Anfrage Scheindel Binder ausfindig. Sie „verstarb eines natürlichen Todes“ und wurde 1931 in Weißensee beigesetzt, teilte ihr die Friedhofsverwaltung mit. „Die Anmeldung zu der Beisetzung erfolgte durch den Ehemann Isaac Binder.“ Zu ihm aber „blieb unsere Recherche ohne Erfolg“, hieß es bedauernd.

Das war das Letzte, was Frau Peter von ihm hörte, zwei Jahrzehnte lang. Sie fügte sich in den Gedanken, Isak Binder niemals zu finden. Bis zur Nachricht von Herrn Zakow. „Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagt sie. Man schaue bei solch öffentlichen Fällen hin und wieder, ob es eine Akte gebe, sagt Herr Zakow. „Unsere Intention ist es, die Vergangenheit verständlich zu machen.“

Frau Peter kennt diese Vergangenheit. Sie ist Lehrerin, hat Geschichte studiert und viele Bücher über ihr Scheunenviertel gelesen. Es war jahrhundertelang ein Hauptschauplatz des jüdischen Berlins. Auf Befehl Friedrich Wilhelms I. hatten alle Juden ohne eigenes Haus ab 1737 dorthin ziehen müssen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Gegend rund um die Dragonerstraße zum Hauptziel der ostjüdischen Auswanderung. Die Flüchtlinge suchten in Berlins Armenstube eine neue Heimat und Schutz unter Gleichgesinnten, den sie angesichts von Pogromen in Polen, Litauen und der Ukraine nicht mehr fanden. Eine trügerische Hoffnung.

Nach der Machtergreifung durch die Nazis konnten sich viele der meist ärmeren Bewohner eine weitere Flucht nicht leisten. Vor allem polnische Juden wurden ab 1938 gewaltsam aus dem Scheunenviertel deportiert, viele fanden später den Tod in Konzentrationslagern. „Ich weiß, was sich an den Türen abgespielt hat, wie die Abtransporte organisiert und die Leute auf Laster geschmissen wurden“, sagt Frau Peter. Plötzlich verband sich mit den Szenen ein Name. „Was wohl an meiner Tür passiert ist? Das hat mich immer belastet.“

Sie schüttelt ungläubig den Kopf. Er ist es

Gefunden! Die Kartei von Isak Binder.
Gefunden! Die Kartei von Isak Binder.

© Kai-Uwe Heinrich

An diese Szenen erinnern heute nur noch ein paar Stolpersteine und Gedenktafeln. Auch im Scheunenviertel breitet sich das schicke Rollkoffer-Berlin aus, neue Menschen ziehen ein, eine neue Zeit, wieder einmal. Wo früher der Milchladen war, ist jetzt ein Designbüro. Frau Peter ist die einzig verbliebene DDR-Mieterin in ihrem Haus. Noch vor der Wende wurde es saniert, sie sollten ausziehen, nach Marzahn. „Wir haben zwei Eingaben an Honecker persönlich geschrieben.“ Sie hat einen ganzen Aktenordner dazu.

Am Ende durften sie bleiben, als Einzige, doch sie mussten in die Nachbarwohnung ziehen. Da wohnt Elisabeth Peter noch heute, Wand an Wand mit den Erinnerungen an ihren jüdischen Vormieter. Wie kann sie das nicht an sich heranlassen? Frau Peter schaut auf die vergilbte Akte, die vor ihr liegt. Sie schlägt sie auf, ihre Hand zittert leicht. Dann schüttelt sie den Kopf, ungläubig. Er ist es.

Ihr Isak Binder, aus der Dragonerstraße, der heutigen Max-Beer-Straße.

Vorsichtig blättert sie durch den Ordner, den 50 Jahre lang niemand mehr geöffnet hat. Ein Leben, abgeheftet auf vielleicht 70 Seiten. Angelegt, weil Binders Sohn Joseph nach dem Krieg eine Entschädigungsforderung stellte.

Mit jedem Umblättern erhält Frau Peter neue Puzzleteile. Ein Mensch, der einmal selbst Teil Berlins war, wird Stück für Stück wieder sichtbar.

Isak Binder, geboren 1863 in Neu Sandec (heute Nowy Sacz) in Galizien im heutigen Polen. Ein polnischer Jude und Kaufmann. Drei Kinder sind in der Akte vermerkt, die Söhne Joseph und Juda und die Tochter Sofie, doch Frau Peter ist sich sicher, dass er mehr gehabt haben muss.

„Meine Wohnung, ich fasse es nicht!“, ruft Frau Peter plötzlich. Sie ist auf ein Pergamentpapier mit dem Grundriss gestoßen. Gezeichnet hat ihn Joseph Binder aus der Erinnerung. Die skizzierte Wohnung hat fünf Zimmer, Frau Peter kennt nur drei davon. „Wir haben uns immer gefragt, ob die Wohnung mal größer war. Man konnte genau sehen, wo Türen zugemauert worden waren.“ Nun erblickt sie, was sich dahinter verbarg.

Es gibt eine Auflistung der Wohnungseinrichtung: der „Toilettentisch mit zwei Seitenflügelspiegeln, beweglich“ im Schlafzimmer. Der „deutsche Maschinenteppich 3 auf 4 m“, gekauft im Warenhaus Tietz am Alexanderplatz. Diverse Ölgemälde, darunter eines „von Professor de Silva, nach einem Fresko aus einer pompeianischen Villa. 1924 in Neapel gekauft“. Die „Standuhr zwei Meter hoch mit Gongschlag“ aus dem Salon. „2 Bücherschränke Biedermeierstil zweiflügelig aus Nussholz mit Kristallscheiben“.

In der Akte liegt auch Isak Binders Pass. Es ist ein polnischer, ausgestellt in seiner Heimatstadt. Frau Peter schlägt den Pass auf. Und dann sieht sie ihn.

Sieht einen alten Mann im Anzug, mit Halbglatze und grauem Rauschebart, die Augen sind kaum zu erkennen. Das Passfoto ist dunkel und vernebelt und verknittert, unwirklich.

Frau Peter schaut und schweigt. „Das ist er also“, sagt sie schließlich und lächelt verlegen. „Ich hatte ihn mir immer jünger vorgestellt, und auch nie mit Bart.“ Der Pass wurde Anfang der 1930er ausgestellt, Isak Binder war damals schon knapp 70 Jahre alt.

Die Seiten bröseln wie Konfetti, Geschichte löst sich auf

Frau Peter fotografiert den Pass, die vielen Stempel. Dann blättert sie weiter in der Akte. Schließlich stößt sie auf die Seite E3. Auf ein paar Schreibmaschinenzeilen, 60 vielleicht, stehen da die Antworten auf all die Fragen, die Frau Peter sich so lange gestellt hat. Joseph Binder beschreibt das Leben seines Vaters für das Entschädigungsamt.

Isak Binder war der älteste Sohn eines polnischen Gerbereibesitzers. Er erbte das Geschäft, verkaufte es aber 1910 und siedelte nach Berlin über. Seit spätestens 1912 lebte er im Haus in der Dragonerstraße. Mit zweien seiner Söhne betrieb er dort eine Sack- und Leinwandgroßhandlung, dafür hatte er auch den Keller und womöglich auch einen Laden im Erdgeschoss angemietet.

Beim Stichwort Ladengeschäft fällt Frau Peter eine weitere Geschichte ein, die ihr der alte Mann aus New York erzählt hat. „Die damalige Hauseigentümerin soll ein alte Deutschnationale gewesen sein. Aber sie soll sich, groß und dick, in der Reichspogromnacht 1938 schützend vor die Ladenfenster gestellt und den wütenden Mob vertrieben haben.“ Schützte sie auch Isak Binders Geschäft?

Herr Zakow deutet auf das Regal hinter Frau Peter. Darin stehen alte Adressbücher. Er nimmt eines von 1938 heraus, der Buchrücken fällt ab, die Seiten bröseln wie Konfetti auf den Tisch. Geschichte, die sich auflöst. Ist wohl zwecklos.

Doch Frau Peter will nicht aufgeben. Will mehr erfahren, über ihr Haus, ihre Vormieter, den alten Mann aus New York und den Milchladen, über die Eigentümerin und all die Menschen, die sie nicht mehr fragen kann. „Manchmal wünschte ich mir, dass man alle, die in so einem Haus gewohnt haben, mal zusammenführen könnte.“

Sie öffnet ein Adressbuch von 1932. Da, Dragonerstraße. Isak Binder ist als Bewohner aufgelistet. Außerdem steht dort: Horlboge, M., Eigentümerin. „Tatsächlich eine Frau“, sagt Frau Peter. Ein Milchladen ist nicht vermerkt, dafür der Bäcker M. Beigel. „Oder war es doch ein Bäcker?“, fragt Frau Peter. Sie seufzt. „Kennen Sie das, wenn die Erinnerung so bruchstückhaft kommt? Im nächsten Leben muss ich alles besser dokumentieren.“

Dann nimmt sie die Akte und liest weiter.

„Gleich nach der Machtergreifung Hitlers wurde mein Vater, der einen langen Bart trug, stark belästigt“, schreibt Joseph Binder. Daraufhin „liquidierte er in überstürzter Weise das Geschäft und kam im Juni 1933 hierher“. Joseph Binder hatte Berlin wie auch zwei seiner Schwestern schon 1925 in Richtung Palästina verlassen. Er lebte als Landwirt in Ramatayim, 20 Kilometer nördlich von Tel Aviv.

Dorthin floh auch Isak Binder. Über Österreich, deshalb die Stempel im Pass. „Aus Verfolgungsgründen ausgewandert“, lautet der Aktenvermerk.

„Er hat überlebt“, flüstert Frau Peter.

Isak Binder arbeitete noch bis ins hohe Alter auf der Orangenplantage seines Sohnes. „Er erfreute sich außergewöhnlicher körperlicher und geistiger Rüstigkeit“, schreibt Joseph Binder, ein eigenes Geschäft habe er aufgrund fehlender Mittel aber nicht mehr aufbauen können. Seine Schilderung endet mit den Worten: „Mein Vater ist am 15. 5. 1946 in meiner Wohnung gestorben.“ Mit 83 Jahren.

Frau Peter ist gerührt und glücklich. Darüber, dass es die Szenen, die ihr seit Jahrzehnten im Kopf herumspuken, nicht gab. Nicht an ihrer Tür.

Sein Enkel ist gerade 90 Jahre alt geworden

Auch Herr Zakow wirkt erleichtert. Näher an ein Happy End kann man im Entschädigungsamt nicht kommen. „Sie haben Glück, dass es keine von den blutrünstigen Geschichten ist“, sagt er zu Frau Peter. Er nickt leicht nach rechts in Richtung der Zentralkartei, wo zigtausendfach das unaussprechliche Grauen lauert. „Wenn Sie wüssten, welche Akten manchmal auf meinem Schreibtisch landen.“

Isak Binder wurde nicht ermordet, er verlor nur sein Berliner Leben. Einer von Tausenden Fällen, in denen die frühe Flucht glückte, sagt Herr Zakow. Unspektakuläre Schicksale angesichts dessen, was anderen Zeitgenossen widerfuhr. Meist werden sie vergessen, kaum je erinnert ein Stolperstein an sie.

Als Entschädigung bewilligte die Bundesrepublik exakt 12.050 DM. 5.000 Mark für das „Imstichlassen einer Wohnungseinrichtung“, 7.000 für entgangene Einkünfte. Und 50 DM für „Auswanderungskosten“. Gezahlt wurde der Betrag 1964 an neun Nachfahren Binders, alle in Israel lebend. Nur eine Sure Wolff, geborene Binder, verschlug es der Liste nach in den US-Bundesstaat New Jersey. „Die hebräische Karte aus New York!“, sagt Frau Peter.

Nachdem sie jahrzehntelang bei ihrer Suche nicht vorankam, geht dann alles ganz schnell. Frau Peter schreibt die Nachricht ihrem Sohn Martin. Der wohnt bei Haifa, nur eine Autostunde entfernt von dem Ort, an dem Isak Binder begraben liegt. Er sucht im Internet nach Binders Nachfahren und stößt noch am gleichen Abend in Ramatayim auf Isaks Urenkelinnen Dorit und Dafna.

Sechs Kinder habe Isak Binder gehabt, erfahren sie. Sein Enkel Amos, der Vater von Dorit, ist gerade 90 Jahre alt geworden. „Sie feiern in großer Familie“, sagt Frau Peter. „Alle sind ganz aus dem Häuschen über die Nachricht.“

An den Menschen Isak Binder kann sich in der Familie keiner wirklich erinnern. Auch sie haben nur ein paar Schriftstücke mit Daten, Orten und Stempeln. Amos hat ihn noch gesehen, als Kind, aber die Erinnerungen sind verblasst und das Sprechen fällt ihm schwer. Doch die Urenkel wollen mehr über ihre Wurzeln erfahren. Dorit nimmt die Einladung von Frau Peter an und will mit zwei Schwestern nach Berlin kommen, eine reist extra aus den USA an. Im Dezember soll es so weit sein. Es fühlt sich an, als werde ein Familientreffen anberaumt. Ein bisschen ist es wohl auch so. „Ich konnte mich ja über 30 Jahre darauf vorbereiten“, sagt Frau Peter. „Aber das ist auch für mich eine Nummer zu groß.“

Und es wird noch größer. Es gibt eine neue Spur zu den verschollenen Briefen. Ein Bekannter ist im Netz auf eine Kurzmeldung im „Neuen Deutschland“ gestoßen, vom 28. August 1987. In der Rubrik „Auch das gibt’s“. 17 Briefe aus der Zeit von 1923 bis 1955 seien in einer Wohnungstür in der Max-Beer-Straße gefunden worden. Bei den Sendungen aus dem In- und Ausland handele es sich „unter anderem um eine Einladung, eine Mahnung, zwei Besuchsnachrichten mit der Bitte um Abholung vom Bahnhof und drei Arbeitsbescheinigungen. Aus einer Leserzuschrift von Peter Braun, Berlin 1020.“ – „Das muss der Kollege der Schwiegermutter gewesen sein“, sagt Frau Peter. So dürfte es die Meldung ins Westradio geschafft haben.

Am nächsten Morgen steht Elisabeth Peter wieder vor der Tür, an der alles begann. Es ist eine schmucklose Holzflügeltür, die graue Farbe ist an vielen Stellen rissig und aufgeplatzt. Der Briefschlitz, seit Jahrzehnten mit Holzkitt verschmiert, ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Wie eine alte Narbe, die nicht ganz zugeheilt ist.

Vor mehr als 85 Jahren hat Isak Binder diese Tür das letzte Mal hinter sich geschlossen. Bald schon wird sie sich für seine Nachfahren wieder öffnen.

DIE SPUR, DIE ZU ISAK BINDER FÜHRTE

Im September 2017 erzählte Elisabeth Peter die Geschichte der verschwundenen Briefe an Isak Binder erstmals öffentlich. In einem sogenannten Erzählsalon, der Bürgern Raum für ihre Lebensgeschichten geben soll. Veranstaltet werden die Salons von der Firma „Rohnstock Biografien“ aus Prenzlauer Berg, die sich auf das Schreiben von Autobiografien, Familien- und Firmengeschichten spezialisiert hat.

Die Geschichte rührte die Anwesenden, darunter Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn, der auch eine Anekdote beisteuerte. Doch beim Versuch, die Frau später zu kontaktieren, um ihre Erinnerungen zu veröffentlichen, gab es Probleme. Wer war sie? Sie hatte ihren Namen unleserlich hinterlassen, keine Adresse, keine Telefonnummer. Die Mitarbeiter schrieben alle Teilnehmer an, doch niemand kannte sie. Es gab nur ein Foto von ihr. Und den Namen ihres Vormieters.

Ab April 2018 veröffentlichte der Tagesspiegel in loser Folge Geschichten aus den „Rohnstock“-Erzählsalons, im Pankow-Newsletter und auf seiner Internetseite. Anfang Oktober erschien die mysteriöse Story um die Briefe der namenlosen Frau. Ein paar Tage später kam eine Nachricht der Firma. Die Frau hatte sich gemeldet, sie heiße Elisabeth Peter. Ein Bekannter hatte ihr den Artikel geschickt, daraufhin hatte die Lehrerin den Unterricht unterbrochen und ihren Schülern davon erzählt.

Am gleichen Tag rief Stephan Zakow aus dem Entschädigungsamt in der Redaktion an. Er war als Tagesspiegel-Leser über den Artikel zu Isak Binder gestolpert und suchte sogleich in der Zentralkartei nach ihm.

In der Schublade „Bil–Bk“ wurde er fündig.

DIE SPUR, DIE ZU JOSEF LAUTMANN FÜHRTE (Update 29.11.2018)

Nach der Veröffentlichung der Geschichte um Isak Binder und Elisabeth Peter erreichten uns viele Zuschriften. Darunter war auch eine unseres Lesers Karl Tietze. Er konnte den "alten Mann aus New York" identifizieren, dessen Eltern einst im Haus von Frau Peter eine Milchhandlung betrieben. Dabei handelte es sich um Joseph Lautmann, genannt "Jossel", der sich selbst stets als "meine Wenigkeit" bezeichnete.

Josef Lautmann wurde 1916 als Sohn aus Polen eingewanderter Juden in der Dragonerstraße geboren. Seine Eltern betrieben im heutigen Haus von Frau Peter einen Laden für Milchprodukte „en gros und en detail“. Dort gab es Butter, Milch, Käse – alles koscher.

Als die Nazis an die Macht kamen war Josef Lautmann 17 Jahre. 1936 verließ sein Vater Deutschland, sein Bruder und eine Schwester wenig später. Er selbst floh 1938 im Alter von 22 Jahren. Eine Schwester blieb, sie wurde 1942 im KZ ermordet. Joseph Lautmann kehrte später nach Deutschland zurück, er starb 2005.

Im Jahr 2000 nahm Herr Tietze an einer Führung von Lautmann durchs Scheunenviertel teil. Er verfasste damals eine kleine Geschichte über die Begebenheit, in der Lautmann seine Vergangenheit und die des Scheunenviertels rekapitulierte. Sie entführt uns unmittelbar in das jüdische Berlin der Vorkriegszeit. Sie können sie hier in voller Gänze lesen.

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