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Ein durch das Sturmtief Herwart entwurzelter Baum liegt in Berlin an der Paulsborner Straße.

© dpa

Sturm, Klima, Sparzwang: Warum die Berliner Bäume bedroht sind

Es ist ein einzigartiger Naturschatz, doch der Bestand der Berliner Straßenbäume nimmt ab. Daran sind nicht nur Stürme schuld. Eine Bestandsaufnahme.

Hunderte Baumwipfel auf der Insel Valentinswerder leuchten im morgendlichen Dunst. Auf einer kleinen Fähre queren vier Männer den Tegeler See. Vor ihnen Seile, Schubkarren, Kletterausrüstung, Kettensägen. Einer der Männer ist Jakob von Recklinghausen, Baumpfleger. Noch einmal durchatmen, den Ausblick genießen. Gleich werden die Kettensägen aufheulen und den Rest des Tages nicht mehr verstummen.

Der Sturm Xavier hat auf der Insel übel gewütet. Was er zerstört hat, muss jetzt von Menschenhand aufgeräumt werden. Die Männer sind auf einen langen Arbeitstag gefasst. Wenn sie am Abend wieder übersetzen, werden sie einige prächtige, aber beschädigte Baumkronen abgetrennt, mächtige Äste entfernt haben. Zur Sicherheit, damit sich später niemand verletzt. Und in Berlin wird es wieder einige Bäume weniger geben.

Riesige Wälder rahmen die Hauptstadt ein, fast 20 Prozent von Berlins Fläche besteht aus Forsten. 437000 Bäume stehen entlang der Straßen, im Schnitt 80 pro Kilometer. Parks und Grünanlagen machen 6400 Hektar des Stadtgebiets aus. Doch der Naturschatz ist bedroht.

Mindestens 46.000 Bäume hat Xavier in den Berliner Wäldern umgelegt. Weitere 10000 Park- und Straßenbäume sind im Stadtgebiet umgekippt oder abgebrochen. Ein spürbarer Verlust. 1,2 Millionen Euro Soforthilfe hat der Senat den Bezirken zugesagt, allein für die Aufräumarbeiten. Aber Herbststürme sind nicht das einzige, das dem Berliner Baum zu schaffen macht. Das Problem ist größer, vielschichtiger. Klimawandel, Verdichtung, Sicherheit, Finanzen. Die drängenden Themen der Gegenwart – sie alle betreffen auch die Bäume.

Ein Streifzug mit Baumexperten und Baumliebhabern offenbart, worunter die Linden, Ahorne, Eichen, Platanen der Stadt leiden – und was getan werden muss, damit Berlin Hauptstadt der Bäume bleibt.

"Das große Thema ist Angst", sagt der Baumpfleger

Auf Valentinswerder hat Jakob von Recklinghausen mittlerweile den ersten Baum zu Fall gebracht. Vorsichtig ist er mit seinen Steigeisen hinaufgestiegen in die abgebrochene Krone, hat Ast um Ast abgesägt, während die Kollegen am Boden die Spannseile im Auge behielten. 50 Jahre oder älter war der Ahorn, vermutlich wild gewachsen. Der lange Stamm, auf einer Höhe von acht Meter glatt durchgebrochen, wird am Ufer der Insel stehen bleiben. „Der kann da rotten“, sagt von Recklinghausen. Klingt morbide, dient aber Artenvielfalt und Naturschutz.

Berlin, Baumpfleger der Firma Baumliebe GmbH bei einem Einsatz auf der Insel Valentinswerder in Tegel. Nach dem Sturmtief Xavier gab es viele Baumschäden an den Gewächsen in Berlin und den Wäldern.
Berlin, Baumpfleger der Firma Baumliebe GmbH bei einem Einsatz auf der Insel Valentinswerder in Tegel. Nach dem Sturmtief Xavier gab es viele Baumschäden an den Gewächsen in Berlin und den Wäldern.

© Kai-Uwe Heinrich

Dass Baumruinen stehen bleiben dürfen, ist die Ausnahme. Die meisten seiner Kunden wünschen sich aufgeräumte Gärten. „ Aber Bäume sind nicht ordentlich“, sagt der 37-Jährige. Vor neun Jahren hat er seine Firma gegründet, sie trägt den Namen „Baumliebe GmbH“. Jakob von Recklinghausen meint das so. Wenn der Baumpfleger der Ansicht ist, dass ein Baum zu schön, zu stattlich oder zu gesund ist, um gefällt zu werden, dann legt er sich mit seinem Auftraggeber an.

Nicht nur im öffentlichen Raum, auch auf Privatgrundstücken ist in den vergangenen Jahren deutlich mehr gefällt worden als früher. „Das große Thema ist Angst.“ Angst vor den Stürmen, Angst vor der gewaltigen Kraft der Natur. Was, wenn beim nächsten Mal der Baum aufs Auto kracht? Aufs Haus? Auf Menschen? Einige Menschen sind während des Sturms Xavier gestorben. Immer waren Bäume im Spiel.

Das Risiko lässt sich nicht ausschalten

Sie zu fällen scheint vielen Baumbesitzern als unvermeidliche Vorsichtsmaßnahme. Auch wenn der Baum im eigenen Garten steht, muss das beim Bezirk beantragt werden. Laubbäume mit mehr als 80 Zentimeter Stammumfang sind per Gesetz geschützt. Wer sich lediglich mehr Sonne auf der Terrasse wünscht, hat mit einem Antrag schlechte Karten. Anders sieht es aus, wenn der Baum bereits Sturmschäden oder nachweisbare Malaisen hat. Dann bleibt den Ämtern meist nichts anderes übrig, als der Fällung zuzustimmen.

Das Risiko lässt sich damit aber nicht ausschalten. „Wir müssen damit leben, dass wir nicht wissen können, was beim nächsten Sturm passiert“, sagt von Recklinghausen. Der nächste Orkan kann die alten, ausgehöhlten, wackeligen Bäume treffen. Die bereits von Pilzen befallen sind oder von Schädlingen geschwächt. Es kann aber auch, das hat Xavier gezeigt, gesunde, bestens verwurzelte Exemplare umhauen.

„Wir brauchen eine breitere Debatte über das Thema“, sagt er, damit nicht nur die Angstmacher Gehör finden. Sonst sei irgendwann jeder Baum ein Problem. Weil: potenziell gefährlich.

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UMKÄMPFTE PLATANE

Hier steht Christian Hönigs Lieblingsbaum. Weit ausgebreitete Krone, 167 Jahre alt. Eine Kaiserplatane an der Potsdamer Straße nahe der Staatsbibliothek. Hönig, Baumreferent beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), kennt die Geschichte des Baums.

„Zweimal schon haben Bürger um diesen Baum gekämpft“, erzählt Hönig. Einmal 1857, kurz nach der Pflanzung, als die Platane einer Straßenverlegung weichen sollte. Und noch einmal in den 1960ern. „Wie man sieht: mit Erfolg.“ Die Liebe zum Baum sei tief in der DNA der Berliner verwurzelt, meint der Naturschützer. Dutzende Bürgerinitiativen gab und gibt es in der Hauptstadt; erbittert kämpfen Nachbarschaften um einzelne Bäume. Manchmal siegen sie, oft verlieren sie. Am Landwehrkanal in Kreuzberg blieben Hunderte Bäume nach einem jahrelangen Mediationsverfahren erhalten. In Friedrichshagen, wo Anwohner kürzlich um eine heiß geliebte Kastanie kämpften, wurde der Baum zuletzt doch radikal gekappt. Heute steht er komplett ohne Krone da.

Im Krieg schrumpfte der Baumbestand dramatisch

Die Berliner und ihre Bäume. Wer ihre innige Beziehung erklären will, muss historisch weit ausholen. Muss über die Könige und Kurfürsten reden, über die Prachtalleen, Schlossgärten und Jagdreviere, mit denen Preußen der Welt die eigene Bedeutsamkeit demonstrieren wollte. Und womit lässt sich Machtwille besser ausdrücken als mit der Anpflanzung mächtiger Bäume? Unter den Linden - nehmt das, ihr Franzosen! Gartenkünstler und Landschaftsarchitekten, allen voran Peter Joseph Lenné und Gustav Meyer, haben die Stadt geformt.

Bedroht. Die Platane hält an der Potsdamer Straße seit 167 Jahren durch.
Bedroht. Die Platane hält an der Potsdamer Straße seit 167 Jahren durch.

© Thilo Rückeis

Noch prägender für die Berliner aber war eine andere Erfahrung. Das kahle, zerbombte, abgeholzte Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg - auch das ein Bild, das sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Dramatisch war der Baumbestand während des Krieges und in den harten Wintern nach 1945 geschrumpft. Jahrzehnte dauerte es, bis die Wunden im Stadtbild verheilt waren und die seit den 1950ern neu gepflanzten Linden und Pappeln wieder stattliche Höhen erreicht hatten. „Die nachwachsenden Bäume waren für die Berliner ein sichtbares Zeichen des Wiederaufbaus“, sagt Hönig. Ungemein tröstlich. Dass Berlin nun so satt und grün erstrahlt, das soll nie wieder aufs Spiel gesetzt werden.

Wird es aber.

Der Straßenbaumbestand ist nach Berechnungen des BUND von 2005 bis 2011 um 10 000 Bäume zurückgegangen. Hönig macht dafür vor allem die leeren Kassen der Stadt verantwortlich. Bäume hatten nach der Wiedervereinigung lange keine Priorität.

Die Bürger sind misstrauisch geworden

Und man hört ja die Kettensägen, sieht wie Bäume in Parks verschwinden, Straßenbäume Baustellen weichen. Die Bürger sind misstrauisch geworden. Denn wer entscheidet das? Und auf welcher Grundlage? Hönig spürt das jeden Tag. Viele Menschen rufen beim BUND an, besorgt, wütend, manchmal geradezu außer sich. „Man hat den Berlinern zu oft erzählt, dieser oder jener Baum sei krank und müsse deshalb weg.“ Die Krankheitsdiagnose sei zwar oft richtig. Aber heißt das immer gleich Fällung? Früher habe es sich die Stadt leicht gemacht. „Man hat gar nicht ausreichend untersucht, wie weit sich das Ausmaß der Krankheit auf die Standfestigkeit auswirkt.“ Bei guter Pflege und regelmäßiger Kontrolle könnten auch kränkelnde Bäume noch lange erhalten bleiben. Trotzdem werde meist die radikale Lösung vorgezogen. Diese Politik hat den Baumbestand schrumpfen lassen.

Dazu kommt, dass immer mehr Menschen in die städtischen Grünanlagen drängen. Berlin wächst, die Stadt ist bei Touristen so beliebt wie nie - und alle wollen zur Erholung unter Laubdächern chillen, joggen, Fußball spielen. Der Tiergarten liefert den besten Beweis. An einem Wochentag zur Mittagszeit sind die Wiesen und Wege voll. Überall Hunde, Fahrräder, Kinderwagen. Und mitten hindurch grölt eine Gruppe von Teenagern auf einem rollenden Biergefährt. „Konstante Übernutzung“, nennt Hönig das. Für die städtische Vegetation sind das keine guten Bedingungen.

Eigentlich müsste man dringend gegensteuern. Mehr Grün- und Erholungsflächen ausweisen, neue Bäume pflanzen. Doch das Gegenteil passiert.

„Im Schnitt bräuchte man 90 Euro pro Baum und Jahr"

Wolfgang Leder kann das erklären. Er ist beim Bezirksamt Mitte für die Straßenbaumpflege zuständig. 27 Mitarbeiter kümmern sich um 27.000 Bäume. Viel zu wenig Personal sei das. Dazu komme der chronische Geldmangel. „Im Schnitt bräuchte man 90 Euro pro Baum und Jahr, wenn man den Bestand ordentlich pflegen will.“ Zur Verfügung haben die Bezirke aber nur 45 Euro pro Baum. Straßenbäume sind derart üblen Bedingungen ausgesetzt, um die muss man sich gut kümmern. Muss sie beschneiden, „erziehen“, nennt es Leder, dann können sie gesund bleiben und halbwegs alt werden.

Schon seit Jahren wird in den Bezirken viel weniger gepflegt, als eigentlich nötig wäre. An Neupflanzungen ist kaum noch zu denken. Dazu kommt, dass der Bestand überaltert ist. Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg gepflanzten Stadtbäume haben ihren Zenit überschritten. Sie werden die nächsten Jahrzehnte nicht überstehen. Mit jedem Herbststurm klaffen größere Lücken. „Wir müssen endlich sorgsamer mit dem umgehen, was wir haben“, sagt Leder. Die Bezirksämter brauchen dafür mehr Geld. Und mittelfristig auch mehr Technik, zum Beispiel Bewässerungssysteme für den Sommer, wie man es von Straßenbäumen aus Südeuropa kennt. Denn dass man die Berliner Bäume bald wird gießen müssen - das ist keine Schwarzmalerei, sondern ein realistisches Szenario.

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ANGEBOHRTE KIEFER

Tock. Tock. Tock. So klingt das, wenn zwei Studenten versuchen zu ergründen, wie sich das Mikroklima in einzelnen Straßenzügen verändert. Britz-Süd, eine namenlose Grünanlage nahe der Fritz-Reuter-Allee. Auf die beiden, die sich da an einer alten Kiefer zu schaffen machen, achtet kaum jemand. Gerade haben sie einen langen Metallstab an die Rinde angesetzt. Jetzt treiben sie mit aller Kraft einen Bohrer ins Bauminnere. Das Geräusch beim Drehen klingt wie das Klopfen eines Spechts, ab und zu quietscht es laut.

Es ist schon vorgekommen, dass Passanten die Polizei geholt haben. Bäume verletzen - ja, geht's noch?

Aber das hier ist keine mutwillige Zerstörung, sondern wissenschaftliche Grundlagenforschung. Mit den Proben aus Neukölln betreibt Christoph Schneider, Professor für Klimageographie an der Humboldt-Universität (HU), Studien zur Stadterwärmung. Bäume sind komplexe Archive. Wertvolle Wissensspeicher. Und außerdem sehr empfindliche Zeitgenossen. An ihren Jahresringen lässt sich vieles ablesen. Ob es warm oder kalt, trocken oder feucht war. Wenn es ihm gelingt, die Bäume in Neukölln zum Sprechen zu bringen, will Schneider das Projekt auf ganz Berlin ausdehnen.

Schadet das Anbohren den Bäumen?

Für den Fall, dass wütende Passanten einschreiten, haben die Forscher immer einen Zettel dabei. Amtliche Genehmigung vom Grünflächenamt Neukölln. Trotzdem muss die erste Frage natürlich lauten: Schadet das Anbohren den Bäumen? Der Wissenschaftler kann beruhigen. Die Methode wird seit Jahrzehnten angewendet. Und ebenso lange werden die Heilungsprozesse beobachtet. Ergebnis: Den Eingriff verkraften die Bäume gut.

Dass das Klima sich rasant verändert, ist bekannt. Dass es in eng bebauten Städten zukünftig noch heißer wird als auf dem Land, ebenfalls. Doch Stadtgebiet ist nicht gleich Stadtgebiet. Die Hitze breitet sich nicht gleichmäßig aus. Wie trocken und stickig es wo ist, hat viel mit Versiegelung, mit Baumaterialien und Geschosshöhen, aber auch mit Wiesen und Bäumen zu tun. Sie verschaffen Linderung. „Eine einzelne Baumaßnahme verändert das Klima nicht, aber alle Baumaßnahmen über Jahrzehnte hinweg tun das durchaus.“ Berlin hat sich im 19. und 20. Jahrhundert gewaltig in der Fläche ausgedehnt. Dass es dabei dennoch grün geblieben ist, hat mit der Mehrkernigkeit der Stadt zu tun. Aus Dutzenden Dörfern wurde langsam eine Metropole. „Was wir jetzt seit der Wende erleben, ist die Umwandlung der mehrkernigen Stadt in einen Hochverdichtungsraum.“

Und die Frage ist, ob die vorhandenen Stadtbäume für diese Umwandlung und die daraus resultierenden höheren Temperaturen gewappnet sind.

Im Jahr 2100 könnte Berlin sich anfühlen wie Zentralspanien

„Sicher nicht“, sagt Schneider. Von durchschnittlich drei Grad Temperaturanstieg von 1850 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts gehen die Forscher derzeit in Mitteleuropa aus. „Dann kommt der Stadtklimaeffekt noch oben drauf.“ Berlin um 2100? Das könnte sich anfühlen wie heutige Städte in Zentralspanien.

Bäume wachsen langsam. Stadtplaner und Architekten schaffen Fakten für Jahrzehnte, manchmal für Jahrhunderte. Wie sollte man also heute schon bauen und pflanzen, damit es kommenden Generationen in der wachsenden Großstadt halbwegs gut geht?

„Fürs Stadtklima sind viele kleine Grünflächen besser als wenige große Grünflächen“, sagt Schneider. Der Parkeffekt - Luftreinigung und Kühlung - wirke nur ein paar Häuserblocks weit. Noch ist Berlin ganz gut aufgestellt. Doch mit jedem Neubau wird es definitiv heißer. Gute Nachrichten für den Wohnungsmarkt bedeuten schlechte Nachrichten für die Bäume.

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VERGESSENER MAULBEERBAUM

Wenn es einen typischen Berliner Baum gibt, dann ist das wohl die Linde. Jeder dritte Straßenbaum in der Hauptstadt ist eine Linde. Aber vielleicht nicht mehr lange. Die alten Linden sind vielfach pilzgeplagt: eine bereits spürbare Folge des Klimawandels. Zwar werden die hier heimischen Winterlinden immer noch nachgepflanzt, aber längst experimentieren die Bezirksämter mit neuen Sorten, mit Amerikanischer Linde, Japanischer Linde, Mongolischer Linde. Vor allem sollen zukünftig kleinere Bäume mit kompakteren Kronen gepflanzt werden. Die gelten als robuster. Und sie bremsen den Wind in den Straßenschluchten nicht allzu sehr. Unter großen, eng stehenden Alleebäumen bleiben die Abgase länger hängen. Die Hitze staut sich.

Den Bäumen, die schon da sind, wird der Mensch helfen müssen. „Die Bäume können ja nicht weg“, so hatte es BUND-Mann Hönig formuliert. Sie stehen, wo sie stehen, und müssen sehen, wie sie mit dem Wandel der Stadt klarkommen. Verkehr, Großbaustellen, Kabelverlegungen, Grundwasserabsenkungen, radikale Rückschnitte, Wurzelverletzungen - das gehört alles zum üblichen Stadtbaumschicksal.

Seit 20 Jahren sind Bäume seine große Leidenschaft

Im Innenhof der Friedrichstraße 129, Ecke Claire-Waldoff-Straße, hat ein imposanter Überlebender seinen Platz. Er ragt über Parkplätze und Straße. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich der Stamm des Maulbeerbaumes weit zur Seite geneigt. Schon zu DDR-Zeiten hat man ihm einen metallischen Stützpfeiler verpasst und Teile des Stamms mit Beton ausgegossen. Beide Fremdkörper hat sich der Baum mittlerweile einverleibt. Sieht ziemlich tapfer aus.

Besorgt. Christian Hönig ist Baumreferent beim BUND.
Besorgt. Christian Hönig ist Baumreferent beim BUND.

© Thilo Rückeis

Andreas Gomolka besucht den Baum regelmäßig, begutachtet, fotografiert, vermisst ihn. Der 50-Jährige arbeitet als IT-Fachmann. Aber eigentlich, das sagt er selbst, hat er seinen Beruf verfehlt. Seit 20 Jahren sind Bäume seine große Leidenschaft. Mit Fahrrad und Kamera ist er ununterbrochen unterwegs. 3 000 besonders schöne, alte Bäume hat er in Berlin entdeckt und in einer Datenbank eingetragen. Gomolka ist Baumnerd und Stadtforscher in einem: Er recherchiert die Geschichte der Bäume, kennt sich mit Sorten und Besonderheiten aus. Er sucht sogar in antiquarischen Büchern und auf vergilbten Postkarten nach frühen Spuren „seiner“ Bäume.

Über den Maulbeerbaum in Mitte weiß er einiges. Maulbeerbäume hatten einst Kurfürst Friedrich Wilhelm und Friedrich der Große nach Berlin gebracht, in der Hoffnung, mit den Blättern die Seidenspinnerraupe füttern zu können. Die Seide war für den Preußischen Adel bestimmt, der Baum nur Mittel zum Zweck. Die Monarchie ist lange abgeschafft, aber einige der Maulbeerbäume stehen immer noch. Drei davon auf dem Kirchfriedhof in Alt-Zehlendorf, ein weiterer auf dem Althoffplatz in der Nähe des S-Bahnhofs Steglitz. Und dann noch dieser hier, eingeklemmt zwischen Häusern, Spielplatz, Baucontainer.

Rund 600 Bäume sind in Berlin als Naturdenkmale geschützt

Geschätzte 330 Jahre ist er alt. Als sich Ende des 17. Jahrhunderts in der Gegend die Hugenotten niederließen, wurde der Baum vermutlich gepflanzt. So ganz genau weiß es niemand.

Rund 600 Bäume sind in Berlin als Naturdenkmale geschützt, um sie muss und will sich die Stadt besonders kümmern. Sie werden nicht drastisch gestutzt. Im Gegenteil: Jeder Eingriff, und sei es das Absägen eines toten Astes, wird sorgfältig abgewogen. Trotzdem ist der Bestand an Naturdenkmalen seit den 1990ern geschrumpft. Etliche wurden aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht gefällt. So heißt das im Amtsdeutsch, wenn Sicherheitsbedenken über den Naturschutz siegen. „Die Verkehrssicherungspflicht macht den alten Bäumen ziemlich zu schaffen“, sagt Gomolka. Da übersteht ein Baum unter widrigsten Bedingungen 300 Jahre - und geht dann an der modernen Bürokratie zugrunde.

Weitaus mehr Berliner Bäume könnten theoretisch den Naturdenkmalstatus bekommen. Die Kriterien sind so subjektiv wie schwammig: „Seltenheit, Eigenart, außergewöhnliche Schönheit und Mächtigkeit“, nennt die Verordnung zum Schutz von Naturdenkmalen in Berlin als Voraussetzung. Was nicht explizit in der Verordnung erwähnt wird: Dass die Aufnahme von mehr Bäumen in diese Liste auch wieder eine Frage des Geldes ist. Und der politischen Prioritäten.

„Die Bäume gehören zur Stadtgeschichte“

Für Andreas Gomolka, den Baumliebhaber, greift aber dieser Schutz ohnehin zu kurz. „Mit Natur hat das ja alles wenig zu tun.“ Die Bäume in der Stadt seien fast alle von Menschen gepflanzt worden, oft aus einem konkreten historischen Anlass. Der spiegelt sich auch in den Namen wider: Friedenseiche, Kohlhaseiche, Jahneiche. „Die Bäume gehören zur Stadtgeschichte, sie sind eigentlich Kulturdenkmale.“ Und so sollte man sie auch behandeln, findet Gomolka.

Nieselregen hat eingesetzt. Leise wiegt der uralte Maulbeerbaum seine Blätter. Den Bauboom des 19. und die Kriege des 20. Jahrhunderts hat er überstanden. Ob er er auch die kommenden 100 Jahre übersteht? Auf der Liste der Naturdenkmale in Mitte fehlt der Baum.

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ZARTE ULME

Herbst ist Fällsaison. Aber gleichzeitig auch: Pflanzsaison. Man erkennt die Baumneulinge an ihren weiß gestrichenen Stämmen und den grünen Plastiksäcken, mit denen sie umwickelt sind. Wasserspeicher sind das. Einer dieser Bäume soll nun Hans-Joachim Zeletzky, Jahrgang 1941, gewidmet werden.

Er selbst wird das nicht miterleben. Im Mai ist er gestorben. Zeit seines Lebens hat der Feuerwehrmann in Berlin gelebt, war in der Nähe des Barbarossaplatzes - die Baummetapher trifft es am besten - tief verwurzelt. „Mein Vater hat die Stadt sehr geliebt“, erzählt seine Tochter Sabina Turner. Als er starb, waren sich seine drei Kinder einig, dass die üblichen Beerdigungskränze nicht das richtige für ihren Vater sind. „Wir haben stattdessen um Geldspenden gebeten.“ Der Plan der Geschwister: dem Vater posthum einen Baum zu pflanzen. Nicht in einem privaten Garten, sondern mitten in der Stadt. Und natürlich in Schöneberg.

Die Kampagne „Stadtbaum“ hat einen Nerv getroffen

Seit 2012 bittet der Berliner Senat die Bürger, für Bäume zu spenden. Rund 800.000 Euro sind in den letzten fünf Jahren zusammengekommen, 7500 neue Straßenbäume konnten damit gepflanzt werden. Auf einer Karte im Internet können die Spender sich den Standort aussuchen. Die Kampagne „Stadtbaum“ hat einen Nerv getroffen. Viele Anwohner und Firmen wünschen sich junge Bäume in ihrer Nachbarschaft. Nach Xavier ist das Spendenaufkommen spontan noch mal deutlich gestiegen. 500 neue Bäume werden in diesem Herbst gepflanzt.

Berührt. Sabina Turner wird für ihren toten Vater einen Baum pflanzen.
Berührt. Sabina Turner wird für ihren toten Vater einen Baum pflanzen.

© Thilo Rückeis

Doch die Erfolgsgeschichte hat erste Kratzer bekommen. Die Rechnung der Stadt geht längst nicht mehr auf. Zu Beginn der Kampagne kostete es die Senatsverwaltung 1 000 Euro, einen jungen Baum einzukaufen, einpflanzen und für drei Jahre pflegen zu lassen. Die Hälfte, 500 Euro pro Baum, kam in der Regel von den Spendern. Mittlerweile muss Berlin rund 2 000 Euro pro neuem Straßenbaum ausgeben. Das heißt, bei einer Spende von 500 Euro schießt die Stadt noch mal das Dreifache hinzu. Und trotzdem hat die Senatsverwaltung Not, überhaupt Firmen zu finden, die das Einpflanzen übernehmen. Die Auftragsbücher der Baumpfleger sind voll, es mangelt an Kapazitäten und Fachkräften. Das wirkt sich spürbar auf die Preise aus. Auch 2 000 Euro pro Baum werden bald schon nicht mehr reichen.

Hans-Joachim Zeletzkys Bäumchen wird zumindest für die nächsten drei Jahre gut versorgt sein. Der gespendete Baum wird nicht exakt dort gepflanzt, wo die Familie lange gewohnt hat. Sondern in der Freisingerstraße. Die Ecke ist der Tochter dennoch vertraut. „Mein Schulweg führte da entlang.“ Der Vater bekommt zum Andenken eine Ulme - mitsamt Namensschild. Sabina Turner bewegt das. „Was gibt es Schöneres als einen Baum, um an einen Menschen zu erinnern?“ Dass sie regelmäßig nach dem Bäumchen gucken wird, steht außer Frage. Auch die Enkel werden kommen. Vielleicht ja irgendwann sogar Urenkel. Und dann sagt Turner: „Ein Baum kann so alt werden. Der steht da und wächst und gehört zur Stadt dazu.“

Wenn man ihn lässt.

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