zum Hauptinhalt
Ein Tempo-30-Schild vor einer Kirche: Die Grünen haben Angst vor der Debatte um reduzierte Geschwindigkeiten.

© Ottmar Winter/PNN

Exklusiv

Streit bei den Grünen: Verkehrspolitiker drängen auf Tempo 30 als Standard in ganz Berlin

Berlins Grüne sorgen sich vor einer neuen Tempo-30-Debatte. Aber ihre Fachpolitiker sehen die Zeit reif: Die Grünen sollen nicht ängstlich sein, fordern sie.

Fachpolitikerinnen der Grünen aus Bund und Land fordern von den Berliner Grünen ein mutigeres Eintreten für Tempo 30 in der ganzen Stadt. Die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Mobilität, die niedersächsische Landtagsabgeordnete Susanne Menge, und die Vorsitzende der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Mobilität, Karin Hieronimus, sagten dem Tagesspiegel am Dienstag: „Wir haben diese wundervolle Vision einer menschengerechten Stadt, deshalb waren wir überrascht über die Botschaften der Berliner Grünen-Parteispitze. Wir brauchen Tempo 30 als einen von mehreren unabdingbaren Faktoren, um eine menschengerechte Stadt zu schaffen.“

Vergangene Woche hatte die Verkehrsverwaltung von Senatorin Regine Günther (Grüne) angekündigt, stadtweit die Möglichkeit von Tempo 30 auf Hauptstraßen zu prüfen – für mehr Lärmschutz. Doch sofort hatte die Grünen-Spitze erklärt: „Es geht mitnichten darum, stadtweit Tempo 30 einzurichten.“ So sagte es die Landesvorsitzende Nina Stahr am Tag darauf.

Es handele sich lediglich um eine Untersuchung der Verkehrsverwaltung und kein erklärtes Vorhaben der Grünen, außerdem gehe es nur um die Reduzierung der  Geschwindigkeit „an einigen Stellen“. Spitzenkandidatin Bettina Jarasch schwieg ganz zum grünen Kernthema. Noch immer scheint den Grünen das Trauma von 2011 zuzusetzen, als Spitzenkandidatin Renate Künast mit ihrer  Forderung nach  Tempo 30 in der ganzen Stadt die Wahl verlor.

Fachleute sprechen von einer „angstgetriebenen“ Haltung

Die Grünen-Fachpolitikerinnen sind enttäuscht von dieser „angstgetriebenen“ Haltung. Mühsam hatten Grüne aus ganz Deutschland das Bekenntnis zu Tempo 30 in das Bundeswahlprogramm verhandelt.

[Schon 250.000 Abos: Suchen Sie sich Ihren Bezirksnewsletter vom Tagesspiegel aus! Für jeden Berliner Bezirk und kostenlos jetzt hier: leute.tagesspiegel.de]

Dort steht: „Um mehr Sicherheit auf den Straßen zu erreichen, wollen wir in geschlossenen Ortschaften das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren. Tempo 30 ist dann die Regel, Abweichungen wie Tempo 50 werden vor Ort ausgewiesen.“

Die Bundesvorsitzende der AG Mobilität, Susanne Menge, erklärt deshalb zum zögerlichen Kurs der Hauptstadt-Grünen: „Gerade Berlin muss ein Vorbild sein, damit andere auf unsere Hauptstadt gucken und sehen: Ah, so geht die Mobilitätswende!“ Die Grünen müssten „trotz zig Anfeindungen souverän und selbstbewusst bleiben“, erklärt die niedersächsische Abgeordnete.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Karin Hieronimus leitet die AG Mobilität in Berlin. „Das Künast-Trauma ist jetzt zehn Jahre her, immer mehr Menschen begreifen seitdem, dass wir unsere Art der Fortbewegung ändern müssen“, sagt sie.

Die Grünen müssten den Menschen im Wahlkampf erklären, was niedrigere Geschwindigkeiten für sie positiv veränderten. Hieronimus sagt: „Wir hätten weniger Angst, weniger Lärm, weniger Geruchsbelästigung, wir würden uns besser im öffentlichen Raum fühlen. Ich bin sicher, sobald wir Tempo 30 haben, werden wir drei Monate später sagen: Oh, mein Gott, was haben wir all die Jahre gemacht?“

Hamburg gilt bei den Grünen als Vorbild, Berlin eher nicht

Das Durchschnittstempo für Autos liege in der Stadt schon jetzt nur bei 25 Kilometern pro Stunde, argumentiert sie, niemand verliere also wirklich Zeit. „Die Leute werden vor allem nicht mehr wie Verrückte auf rote Ampeln zurasen!“

Beide Mobilitätsexpertinnen kritisieren die Verkehrsbilanz des rot-rot-grünen Senats und der Verkehrssenatorin Regine Günther. „Bezirke und Senat arbeiten in Berlin zu oft zu schlecht zusammen, auch deshalb geht die Mobilitätswende zu langsam voran“, sagt Hieronimus.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Menge hebt dagegen die Arbeit des neuen Hamburger Verkehrssenators Anjes Tjarks (Grüne) hervor: „Er hat sich ein konkretes Ziel für seine ersten 100 Tage im Amt gesetzt und eine Hauptverkehrsstraße in Hamburg sukzessive zu einer verkehrsberuhigten Zone umgebaut, jetzt wird Tempo 30 an vielen Straßen eingeführt. Genau so muss man es anpacken!“

Verkehrsaktivisten: Kaum Fortschritte durch Mobilitätsgesetz

Erst am Montag hatten Verkehrsaktivisten eine ernüchternde Bilanz der vergangenen knapp fünf Jahre grüner Verkehrspolitik gezogen: Zwar sei das Mobilitätsgesetz schon vor drei Jahren beschlossen worden, aber kaum etwas geschehen.

So wurden nur 1,4 Prozent der gesamten Streckenlänge von 2778 Kilometer, die das Berliner Radverkehrsnetz laut Entwurf bis 2030 aufweisen soll, entsprechend ausgebaut. Auch die Überprüfung von Tempo 30 an Hauptstraßen kommt erst jetzt, nach knapp fünf Jahren – in Hamburg dauerte es nur etwas mehr als 100 Tage.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false