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Die Justiz braucht neue Vollzugsbeamte, doch es gibt zu wenige geeignete Bewerber.

© Marc Tirl/dpa

Strafvollzug in Berlin: „Ick habe als Kind ooch Prügel gekriegt"

Berlins Justizsenator Dirk Behrendt sucht dringend Auszubildende für den Justizvollzug. Doch wann eignet man sich für den Job? Ein Besuch in der Strafanstalt Plötzensee.

Für Joachim Krüger beginnt die Schicht in der Jugendstrafanstalt Berlin-Plötzensee um 5.45 Uhr. Vor einigen Wochen steht Krüger, kräftig, raspelkurze Haare, im Glaskasten in Haus 6; das ist die Kommandozentrale des Gefängnisses. Seit den Neunzigern arbeitet Krüger hier, vergangenes Jahr hätte er in Rente gehen können. Doch weil Personal fehlt, bat ihn die Anstaltsleitung, zu bleiben. In der Justiz werden Fachleute gesucht – in der Staatsanwaltschaft, an den Gerichten und vor allem hier: im Knast.

Nachdem zur Jahreswende erst vier, dann fünf Häftlinge geflohen waren, kündigte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) an, 2018 mehr als 100 neue Bedienstete einzustellen, 150 weitere Männer und Frauen sollen 2019 folgen. Seit Wochen sollen erst mal 70 – zunächst befristete – Stellen besetzt werden.

Das aber klappt nicht, Behrendt ließ die Bewerbungsfrist aufheben. Unter den 325 Interessenten für diese Stellen waren zu wenige, die den Anforderungen entsprachen. Bewerber müssen mindestens 21 Jahre, Bürger eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union und strafrechtlich unbelastet sein. Dazu Berufsausbildung oder mittleren Schulabschluss besitzen.

Behrendt braucht Erfolge

Der Senator, der Anfang der Woche aus dem Urlaub zurückgekommen ist, wird er sich etwas einfallen lassen müssen. Der Druck wird quasi wöchentlich stärker. In den nächsten zwei Jahren scheiden 600 erfahrene Beamte aus dem Vollzugsdienst aus: Von den rund 2800 Stellen in den acht Berliner Gefängnissen sind schon heute fast 300 unbesetzt.

Findet der Senator keinen Nachwuchs, fehlen noch in seiner Amtszeit also fast 900 Männer und Frauen. Behrendt, der erst nach den Häftlingsausbrüchen zur Jahreswende und dann wegen des Streits um angeblich unsachgemäß behandelte Anis-Amri-Akten in die Kritik geriet, braucht Erfolge.

Er braucht Menschen wie Melanie R., die in der Frühschicht in Plötzensee den langgedienten Beamten Krüger begleitet: Melanie R. ist Auszubildende und wirkt trotz der Vollzugsuniform herzlich, wozu vielleicht auch ihre Sommersprossen beitragen. Nach einem Monat Theorieunterricht kommt nun erst mal Praxis.

Es ist 6 Uhr. Viele der fast 420 Häftlinge schlafen noch – Krüger und R. sind hellwach. Kontrollgang, von Schloss zu Schloss. R. öffnet die Stahltüren, im Dämmerlicht rekeln sich die Insassen im Bett. Folgt auf ihr „Morgen!“ keine Antwort, knurrt Krüger mit tiefer Stimme hinterher. Oft reagieren die Männer erst dann. Manche der Häftlinge befinden sich noch in Untersuchungshaft, andere wurden vor Jahren verurteilt, oft zum zweiten, dritten Mal: Körperverletzung, Raub, Diebstahl, Betäubungsmittelhandel.

Melanie R. ist Mitte 30 – für eine Ausbildung im Justizvollzug ist das nicht alt. Dort schätzt man Lebenserfahrung, Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen. R. ist zudem geeignet, weil sie immer mit Hierarchien, Gewissenhaftigkeit, klaren Ansagen zu tun hatte: Zwölf Jahre war sie bei der Bundeswehr. Wie viele Anwärter landete sie über Umwege hinter Mauern und Stacheldraht.

„Was Insassen und Beamte grundlegend unterscheidet, ist die Resilienz“

In der Bildungsstätte des Justizvollzugs, ebenfalls in Plötzensee, bewerben sich Azubis oft, nachdem sie jahrelang andere Berufe hatten. Weil sie dem Stress im Einzelhandel entfliehen wollten. Weil das Fitnessstudio, in dem sie als Trainer arbeiteten, geschlossen hat. Weil der Rücken nach Jahren der Dachdeckerei nicht mehr konnte. Oft führt ein, nun ja, holpriger Weg auch die Beamten hierher.

„Meine Schüler sind nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen“, sagt Annet Karstedt, die in der Bildungsstätte die Azubis in Kriminologie unterrichtet. Es komme vor, dass sich Beamte in den Biografien der Strafgefangenen wiederfänden, ein schwieriges soziales Umfeld kennen oft beide Seiten.

„Was Insassen und Beamte grundlegend unterscheidet, ist die Resilienz.“ Also die Fähigkeit, sich trotz Schicksalsschlägen nicht vom rechten Weg abbringen zu lassen. Joachim Krüger sagt dazu bloß: „Ick habe als Kind ooch Prügel gekriegt – und trotzdem bin ick hier.“ Er meint selbstverständlich vor der verschlossenen Tür – nicht wie die Insassen dahinter.

Auch Krüger hatte andere Jobs. In der DDR schuftete er im Lausitzer Braunkohlekraftwerk Boxberg, danach steuerte er U-Bahnen in Berlin. Beim Kontrollgang durch die Jugendstrafanstalt müssen jetzt Gefangene abgetastet werden, eine Sicherheitsmaßnahme. Als Frau darf Melanie R. das bei den männlichen Inhaftierten nicht, Krüger übernimmt. Das Klischee vom Schließer, der die Gefangenen bloß in Schach hält, bestätigt sich in Plötzensee nicht.

Es geht darum, den Ablauf zu organisieren, die Gefangenen zu beaufsichtigen, Lieferungen zu kontrollieren und Ansprechpartner zu sein. Während der Ausbildung gibt es dafür rund 1750 Euro brutto im Monat. Nicht üppig, in Berlin aber ein übliches Einkommen, das dann während der Laufbahn steigt.

Doch Senator Behrendt findet die nötigen Leute nicht. „Der Beruf ist eine Berufung“, sagt Thomas Goiny. „Wir benötigen Fingerspitzengefühl, Belastbarkeit und einen starken Charakter.“ Goiny ist Landeschef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten. Er fordert vom Senat mehr Bekenntnis zu seinen Kollegen. Klar, auch die Löhne sollten Goiny zufolge steigen, im Bundesschnitt gebe es ohnehin mehr als in Berlin.

Und es brauche eine „sinnvolle Werbe- und Imagekampagne“, weil viele eben nicht wüssten, was im Vollzug getan wird. „Die Organisation des Tagesablaufes in der Haftanstalt darf nicht Routine werden“, sagt Goiny. „Man muss immer die Augen offen halten, natürlich auch mal klare Ansagen erteilen.“

"Wir fangen hier erst mal damit an, die Leute zu sozialisieren"

Im Jugendstrafvollzug gilt anders als in der Erwachsenenhaft noch ein gesetzlich geregelter Erziehungsauftrag. Joachim Krüger in Plötzensee kann das Reden darüber kaum noch hören: „Wir fangen hier erst mal damit an, die Leute zu sozialisieren.“ Viele der Insassen, Krüger nennt sie „Bengel“, hält er für verzogene Prinzen, die zu Hause alles durften und dann an falsche Vorbilder gerieten. Krüger schimpft über die „Machokultur“. Es frustriere ihn, dauernd die gleichen Typen in der Anstalt begrüßen zu müssen.

Wenn man den Jungen wirklich helfen wolle, sagt er, müsste man sie aus ihrem Leben reißen und an einen weit entfernten Ort bringen: „Für die Jungs ist das hier – im Vergleich zu draußen – oft wie ein angenehmer Hotelaufenthalt.“ Nicht für jugendliche Täter, sondern für erwachsene Langzeithäftlinge wird die Justizvollzugsanstalt Tegel genutzt. Auch dort, mit den mehr als 900 Häftlingen, macht sich der Personalmangel bemerkbar.

Im aktuellen Gefangenenmagazin „Lichtblick“ schreiben Häftlinge über Senator Behrendt: „Aus seiner früheren Tätigkeit als Richter ist ihm sicherlich noch geläufig, dass man an seinen Taten gemessen oder für dieselben verurteilt und bestraft werden kann.“ Statt sich um das Recht auf Kopftücher oder Unisex-Toiletten zu kümmern, hätte Behrendt die Haftanstalten modernisieren sollen. Ja, die Gefangenen aus Tegel nehmen sogar die Beschäftigten in Schutz, indem sie dem Justizsenator „Misstrauen gegen das eigene Personal“ vorwerfen; Behrendt hatte sich zuletzt mit den Justizgewerkschaften angelegt.

Dirk Behrendt, so heißt es in der rot-rot-grünen Koalition, habe durchaus versucht, mehr Personal, mehr Geld, mehr Hilfe zu bekommen – er wird wohl mehr Druck machen müssen.

Zurück ins Haus 6 der Jugendstrafanstalt. Freistunde. Auf den Fluren stehen Kickertische und Tischtennisplatten. Früher spielte Joachim Krüger ab und zu selbst mit den Häftlingen, das verbesserte die Stimmung aller. Weil die Anstalt so schwach besetzt ist, hatte er lange keine Kelle mehr in der Hand.

Auf dem Computerbildschirm im Glaskasten, der Kommandozentrale, blinkt es: Ein „Zugang“ wird erwartet, also ein neuer Häftling hierherverlegt. Als der dann am Tor steht, erkennt Krüger einen alten Bekannten: Bei den Vollzugsbeamten hat der Junge, gerade 16, sogar schon einen Spitznamen.

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