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Spezialisiert. DNA-Analystin der Forensischen Genetik im Institut für Rechtsmedizin der Charité.

© Thilo Rückeis

Stanford-Forscher über die Gesundheitsstadt Berlin: „Wissenschaftler brauchen eine Siegermentalität“

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller will Berlin zur Medizinmetropole machen – Spitzenforscher der US-Universität Stanford geben dazu Tipps.

International renommierte Medizinforscher raten Berlin, jungen Wissenschaftlern bessere Perspektiven und den Hochschulen ein deutliches Bekenntnis zu Exzellenz zu ermöglichen. Damit Berlin zur weltweit geachteten Medizinmetropole werde, wie es sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) wünscht, müssten talentierte Forscher von Bürokratie, Lehrverpflichtungen und Patientenversorgung entlastet werden.

„In Berlin sollte man sich das eigene Potenzial vor Augen führen, es grundsätzlich mit jeder Wissenschaftseinrichtung anderswo aufnehmen zu können“, sagte der in Fachkreisen weltweit bekannte US-Gesundheitswissenschaftler John Ioannidis dem Tagesspiegel. „Es braucht dazu aber auch eine Siegermentalität.“ Ioannidis ist einer der meistzitierten Wissenschaftler weltweit, Professor an der Eliteuniversität Stanford in Kalifornien und derzeit Gastforscher am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) der Charité.

"In Berlin erreicht derzeit keine Hochschule das Niveau von Stanford"

Die Universitätsklinik steht im Zentrum der Modernisierungspläne des Senats: Bürgermeister Müller hatte dazu eine Kommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ einberufen, die im März ihren Abschlussbericht vorstellte. Das elfköpfige Gremium unter Leitung des SPD-Bundespolitikers Karl Lauterbach empfahl dem Senat, die größte Branche Berlins - das Gesundheitswesen - umfassend zu modernisieren: Die landeseigenen Klinikkonzerne Vivantes und Charité sollten in einer Dachgesellschaft zusammenarbeiten, eine Ausbildungsakademie sollte aufgebaut, Krankenhäuser, Hochschulen und Pharmafirmen vernetzt und die Digitalisierung vorangetrieben werden.

Noch gelten neben den bekannten US-Hochschulstädten auch Zürich, Stockholm, London und Paris als die erfolgreicheren Medizinmetropolen. Der deutsch-amerikanische Medizin-Nobelpreisträger Thomas Südhof, der ebenfalls Professor an der Stanford University ist, plädiert für mehr Einzelförderungen für die Berliner Forscher und Erleichterungen für die örtlichen Start-ups.

Senatschef Michael Müller (SPD), neben dem langjährigen Charité-Chef Karl Max Einhäupl, der im September 2019 an den Vorstandsvorsitzenden Heyo Kroemer übergegen hat.
Senatschef Michael Müller (SPD), neben dem langjährigen Charité-Chef Karl Max Einhäupl, der im September 2019 an den Vorstandsvorsitzenden Heyo Kroemer übergegen hat.

© Monika Skolimowska/dpa

„In Berlin erreicht derzeit keine Hochschule das Niveau von Stanford“, sagt Südhof dem Tagesspiegel. „Das liegt vor allem an der enormen Zusatzbelastung der Wissenschaftler in der Lehre und Versorgung.“ Um exzellente Forschung zu liefern, aber zugleich massenhaft Patienten und Studierende zu versorgen, dafür reiche derzeit das Personal nicht. Brian Kobilka, Professor an der Stanford-Universität und Chemie-Nobelpreisträger, sagte deshalb: „Berlin sollte talentierte Wissenschaftler in ihrer Unabhängigkeit unterstützen - durch Professuren mit dauerhafter Perspektive.“

Charité-Chef: Kampf um Köpfe wird intensiver

Auch Südhof und Kobilka betreuen in Berlin derzeit Nachwuchsforscher, finanziert durch die Stiftung Charité. Diese arbeitet nicht mit öffentlichen Mitteln, sondern wird von der Familie Quandt finanziert - wodurch Ioannidis', Südhofs und Kobilkas aktuelle Projekte in Berlin ermöglicht wurden.

Im Juli dieses Jahres hatte Senatschef Müller mit Blick auf Berlins Medizinbranche immerhin die Bundesregierung überzeugt. Sie erkennt die Stadt als bedeutsamen Forschungsstandort an und unterstützt das BIG dauerhaft mit 70 Millionen Euro jährlich, was erst seit einer Grundgesetzänderung 2015, als die strikte Trennung zwischen Bund und Ländern aufgeweicht wurde, möglich ist.

Nun intensiviert sich der „Kampf um die Köpfe“, wie es der neue Charité-Chef Heyo Kroemer formulierte. Das der Charité angegliederte BIG betrachten die Nobelpreisträger Südhof und Kobilka dahingehend explizit als vielversprechend. „Sofern die noch offenen Leitungsfragen geklärt werden“, sagte Südhof.

US-Forscher Ioannidis sagte, er kenne seine Stammuniversität Stanford als einen Ort, „an dem es als langweilig gilt, die oder der Beste in einem bestimmen Fachgebiet zu sein“. Man werde ermuntert, Neues zu wagen - auch wenn man scheitern könne. Berlin brauche Zutrauen in „risikoreiche Ideen“, sagte Ioannidis, der als Medizinstatistiker bekannt wurde.

Thomas Südhof erhält den Nobelpreis für Medizin 2013.
Thomas Südhof erhält den Nobelpreis für Medizin 2013.

© p-a/dpa

Noch gilt in Deutschland selbst die digitale Basis-Infrastruktur als vergleichsweise schlecht; in Berlin ist sie nicht besser als in vielen Kleinstädten. Das Wissenschaftliche Institut der AOK hatte das vor einigen Monaten in seinem Krankenhausreport deutlich gemacht: Demnach liegt der Digitalisierungsgrad deutscher Kliniken 40 Prozent unter EU-Durchschnitt, die IT vieler Krankenhäuser befänden sich auf dem Niveau vor der Jahrtausendwende. Noch schicken sich Ärzte untereinander oft Faxe und stapeln kistenweise Papierakten.

Noch sind auch die Daten der Millionen Patienten, die in den Berliner Kliniken vorhanden sind, kaum miteinander vergleichbar: Ein einheitlicher Erfassungsstandard fehlt. Und auch jede der mehr als 100 Krankenkassen arbeitet letztlich mit anderer Software.

Dennoch soll Berlin, so hatte es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angekündigt, zur Modellregion für die Digitalisierung im Gesundheitswesen werden. Auch dabei wird die Charité - die Europas größte Universitätsklinik ist - eine Rolle spielen, Berlins zahlreiche IT-Start-ups kommen hinzu. Dann soll auch die elektronische Patientenakte, die von 2021 an für jeden Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen soll, die Abläufe erleichtern; bislang einigten sich Kliniken, Kassen und Bundesregierung nur auf eine Minimalversion.

Immerhin dahingehend gilt Berlin als Vorreiter. So starteten der Vorstand der Vivantes-Kliniken, die AOK und die Techniker Krankenkasse vor drei Jahren ein eigenes Projekt, um diverse Daten leichter auszutauschen - es ist eine Art Vorläufer-E-Patientenakte. Patienten, die eingewilligt haben, können schon heute ihre Daten über eine App einsehen.

Eine ganzheitliche Digitalisierung aber, wie sie Bundesregierung, Senat und Mediziner für notwendig erachten, kostet viel Geld. Derzeit, so sehen es Berlins Krankenhausleiter, reichen die Mittel, die der Senat in seine Kliniken investieren will, kaum für die Bestandswahrung aus.

Stanford-Professor: Berlin sollte zu völlig Neuem forschen

Die Berliner Krankenhausgesellschaft fordert für die circa 60 Kliniken der Stadt in den nächsten zehn Jahren 3,5 Milliarden Euro, darunter 640 Millionen Euro für die Digitalisierung. Das wären 350 Millionen Euro im Jahr, vom Senat soll es für nächstes Jahr jedoch 175 Millionen Euro geben. Die Krankenhausgesellschaft zog deshalb sogar mit einer Protestkundgebung vor das Rote Rathaus. Kliniken, die für die Landesversorgung erheblich sind, haben Anspruch auf öffentliche Mittel - egal, ob es sich um private, kirchliche oder kommunale Häuser handelt.

Dann wären da noch die Spitzenforscher. Um sie, wie die Nobelpreisträger raten, von der unmittelbaren Patientenversorgung und zeitraubender Lehre zu entlasten, ist zusätzliches Personal in den Kliniken und Hochschulen erforderlich - das kostet ebenfalls Geld.

Damit sich Berlin tatsächlich einen Namen als globale Medizinmetropole machen kann, rät US-Forscher John Ioannidis noch zu Folgendem: Berlins Wissenschaft sollte auf Feldern forschen, die komplett neu sind, um nicht auf Gebieten konkurrieren zu müssen, in denen schon die Elite-Hochschulen im Ausland erfolgreich sind.

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