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Die Schriftstellerinnen Tamara Tenenbaum und Ulrike Draesner.

© Thilo Rückeis

Städtepartnerschaft Berlin und Buenos Aires: Die Stadtschreiberinnen

Kopfsteinpflaster und „Judengang“: Die Lyrikerin Ulrike Draesner zeigt der argentinischen Autorin Tamara Tenenbaum ihr Berlin.

Geschichte lauert überall in Berlin. Das merkt die argentinische Schriftstellerin Tamara Tenenbaum schon, bevor die Erkundungstour so richtig beginnt. Tenenbaum kommt aus Buenos Aires, sie ist 30 Jahre alt, derzeit zum zweiten Mal in Berlin und zu Besuch bei Ulrike Draesner, ebenfalls Autorin, vor allem Lyrikerin. Die Wohnung der 57-Jährigen ist voller Bücher und eine Besonderheit, denn sie lebt mit ihrer Tochter im Pilotprojekt „E3“ im Bötzowkiez – mit sieben Geschossen das höchste Holzhaus der Stadt.

Draesner und Tenenbaum lernen sich gerade erst kennen. Sie sind eines von drei Schriftsteller-Tandems, die im Rahmen von Veranstaltungen zum 25-jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft von Berlin und Buenos Aires zu zweit spazieren gehen und im Anschluss Texte über ihre Begegnung schreiben.

„Komm mit aufs Dach“, ruft Draesner Tenenbaum zu. Das Haus wurde von der Projektgruppe basisdemokratisch mit Materialien aus der Region geplant. Vom Dach der Esmarchstraße 3 blicken sie wenig später hinab auf mehrere angrenzende Gärten mit viel Rasen. Unbebautes Brachland. „Als ich 1996 nach Berlin kam, war hier alles leer, unten konnte man Garagen mieten, das war’s“, erinnert sich Draesner.

Seit dem Hausbau kennt sie auch den Grund dafür: 1943 war ein britischer Kampfflieger genau hier abgestürzt. Er war abgeschossen worden vom nahe gelegenen Friedrichshainer Flakturm aus, dessen Reste heute Teil des Bunkerbergs sind. „Wenn man hier buddeln würde, würde man Flugzeugteile und persönliche Gegenstände von Piloten finden“, sagt Draesner. „Wohin auch immer du in Berlin gehst, findest du Geschichte.“

Im Bötzowviertel findet Ulrike Draesner ihre Geschichten

Und auch sonst eignet sich dieses Dach mit Blick auf Fernsehturm, Bunkerberg und Wasserturm gut, um über Berlin zu sinnieren. Wenn man wollte, könnte man auf den flachen, miteinander verbundenen Hausdächern einmal quer übers Bötzowviertel laufen, das sich seit der Wende so sehr verändert hat und wo Draesner Inspiration für ihre Geschichten und Protagonisten findet, zum Beispiel für den Erzählband „Hot Dogs“.

Sie beobachtet den Kiez schon seit 1994 und wurde als Zugezogene zunächst selbst skeptisch beäugt, bis die Nachbarschaft befand: Sie kommt zwar aus München, hat aber keinen Job, kein Auto und keine ausgefallene Kleidung. Man kann mit ihr sprechen.

„Interessanterweise sind mir 50-jährige Berliner, vor allem die aus dem Osten, viel näher als 30-Jährige“, sagt die Argentinierin Tenenbaum. Bei den Jüngeren merke man einen gewissen Konsumismus, man sehe ihnen an, dass sie in den Kapitalismus hineingeboren wurden. Klar, in Buenos Aires gibt es auch den einen oder anderen Hipster, aber dazu muss man Geld haben.“ Und das fehlt in Argentinien allzu oft, vor allem, seit die Landeswährung wegen der Inflation rasant verfällt.

Auf den jüdischen Spuren des Bötzowviertels

Einen personalisierten Spaziergang mit jüdischer Geschichte hat Draesner für Tenenbaum zusammengestellt. Oder besser, eine Spazierfahrt. In der Hufelandstraße leiht sich Tenenbaum ein Fahrrad. Draesner fährt schwungvoll voraus, Tenenbaum etwas wacklig hinterher. „In Buenos Aires würde ich niemals Fahrrad fahren, das wäre viel zu gefährlich“, sagt sie, während es auf die Greifswalder Straße geht. „Berlin ist so ruhig.“

In der Immanuelkirchstraße geht es über Kopfsteinpflaster holprig weiter. Draesner erzählt ihrer Besucherin, dass in der Hausnummer 29 einst Franz Kafkas Verlobte Felice Bauer lebte. Schließlich hält sie vor Stolpersteinen. Für Tamara Tenenbaum ist das besonders wichtig, denn jüdische Spuren gehen in Argentinien meist nur bis in die 30er Jahre zurück. „Was mich fasziniert an Berlin, ist, dass es hier so viel jüdische Geschichte aus der Zeit vor dem Holocaust gibt.“ Auch Tenenbaums Urgroßeltern waren in diesem heiklen Jahrzehnt von Polen und Litauen nach Argentinien ausgewandert.

In Buenos Aires ist die größte jüdische Community Lateinamerikas

Inzwischen hat Buenos Aires 200.000 jüdische Einwohner, nirgends sonst in Lateinamerika gibt es eine so große jüdische Community. Was das für ihr Selbstverständnis bedeutet, wird Tenenbaum erst in Berlin bewusst: Ein junger Berliner, den sie auf seinen jüdisch klingenden Vornamen angesprochen habe, entgegnete aufgebracht: „Ja, aber ich trag das nicht auf meinem Ärmel, okay?“ Die junge Autorin macht aus ihrem Jüdischsein kein Geheimnis.

Weiter geht die Radtour zur Knaackstraße, vorbei am russisch-jüdischen Restaurant Pasternak, am Käthe-Kollwitz- Museum, mit einem Abstecher beim jüdischen Ronald-Lauder-Lehrhaus, angesiedelt in der Synagoge in der Rykestraße, bis zu einer mit Graffiti besprühten, schwarzen Eisentür mit zwei Fenstern aus Davidsternen. „Diese Tür hat mich schon immer fasziniert“, erzählt Ulrike Draesner, „kaum jemand kennt sie“.

Beim „Judengang“ liege Geschichte brach, sagt Draesner

Es ist der sogenannte „Judengang“, der hintere Eingang zum Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee. Ein Gang mit Sichtschutz, damit Friedrich Wilhelm III. bei seinen Fahrten zum Lustschloss keine trauernden Juden sehen musste. Für Draesner ist er ein „nationales Mahnmal“.

Auf dem verwilderten und mit Efeu bewachsenen Friedhof bleiben die Frauen stehen. Tenenbaum erzählt, ihre Mutter rede immer wieder auf sie ein, sie solle sich doch schon mal einen Grabplatz auf einem jüdischen Friedhof in Buenos Aires kaufen. Aber: Sie hat ja noch viel vor, vor allem als Schriftstellerin.

Sie und Draesner verarbeiten die Eindrücke ihres Treffens jetzt in Texten, die bei einer Veranstaltung in der Kreuzberger Lettrétage vorgestellt werden. Sie schreiben weiter an der Geschichte ihrer beiden Städte, die so viel unterscheidet und so vieles eint.

Lesung und Gespräch mit Ulrike Draesner und Tamara Tenenbaum am Donnerstag, den 23. Mai, um 19 Uhr in der Lettrétage, Mehringdamm 61, Kreuzberg.

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