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Stadtverkehr: Die unausweichliche Straßenbahn

Sie beschert der Stadt noch einen Superlativ, ist die größte in ganz Deutschland. Doch das Verhältnis der Berliner zu ihrer Straßenbahn ist gestört. Das merkt auch Fahrer Andreas Völbel auf seiner M13. Es gibt immer mehr Unfälle – und Anfälle.

Nach ein paar Stunden Dienst will Andreas Völbel zum Abendbrot eine Bockwurst essen. Aber im Imbiss am Antonplatz gibt’s keine mehr. Da holt er sich eben im Supermarkt eine kalte. Verspeist sie, während er die Berliner Allee hinuntergeht. Auf zwei Straßenbahngleisen und vier Fahrspuren drängt der Verkehr an ihm vorbei. An der Kreuzung Indira-Gandhi-Straße, wo sich Gleise und Fahrspuren in die Quere kommen, wird gehupt, gebremst und Gas gegeben. Um 20.07 Uhr muss Völbel hier den Fahrer der M13 ablösen. Er raucht zum Nachtisch eine Zigarette. Steht wie Inventar in der Stadt, die laut ist, nervös und unduldsam.

Die M13 ist zwischen den Berliner Bezirken Friedrichshain und Wedding eine Stunde unterwegs. Sie ist auch nachts nie leer. Als Andreas Völbel kurz nach 20 Uhr einsteigt und seinen Arbeitsplatz einnimmt, ist sie voll.

Völbel ist 1,91 Meter groß. Er hat lange Beine. Grätscht sie, beugt sie, schlägt sie übereinander. Ein Lenkrad hat er nicht, nur den Sollwertgeber neben sich, den Hebel, der die Bahn in Bewegung setzt. Sitzt da wie ein König, der über seinen Thron hinausgewachsen ist, und ist doch auch Untertan.

Ein Straßenbahnfahrer kann dem Unglück nicht ausweichen. Die Gefahrenbremsung, die er im Notfall einleitet, ist alles, was er tun kann. Sie bietet alle Möglichkeiten der Technik auf. Die Ankerwelle im Motor wird gebremst, Sand kippt vor die Räder, Elektromagneten greifen nach den Schienen, die Wagenglocke schrillt. Doch Dutzende Tonnen kommen nicht schnell zum Stehen. Manchmal tödlich langsam. Eine Zeitung nannte die Weddinger Gleise der M13 „Mörderstrecke“.

Seit mehr als 25 Jahren fährt Völbel Straßenbahn. Jedes Jahr muss er auf einer Schulung Dienstordnung, Liniennetz und StVO durchkauen. Kontrolleure in Zivil setzen sich in seine Bahn, kontrollieren, wie er fährt, BVG-Autos stehen an der Strecke. Die Verkehrsgesellschaft nimmt das Straßenbahnfahren bitterernst. Sie ist auf der Hut. Sie betreibt in Berlin das größte deutsche Straßenbahnnetz. Fast 190 Kilometer Gleise liegen in der Stadt. An rund 7000 Masten und 2000 Hauswandbefestigungen sind 440 Kilometer Oberleitungen festgezurrt. 22 Linien passieren knapp 800 Haltestellen, an denen jährlich 157 Millionen Menschen einsteigen. Täglich umrunden Berliner Straßenbahnen 1,3 Mal die Erde. Obwohl sie das nur mit durchschnittlich 19,2 Stundenkilometern tun, sind sie zunehmend in Verkehrsunfälle verwickelt. 330 Unfälle, 149 Verletzte, drei Tote notierte die Berliner Polizei 2010. Und die M13 fand sich schon oft in den Unfallschlagzeilen.

Es gibt aber auch Unfälle, die die Polizei nicht zählt. Alles, was sich jenseits von Kreuzungen, also an Strecken und Haltestellen, ereignet, sowie jede Verletzung, die sich ein Passagier bei Gefahrenbremsung in der Bahn zuzieht, wird kurioserweise Betriebsunfall genannt.

An der sich nähernden Haltestelle plaudern zwei Frauen so dicht an den Schienen, dass die M13 sie glatt umreißen würde. Völbel bremst und klingelt. Die Frauen fixieren ihn wie jemanden, der sie begrapscht hat. „Vorsicht“, ruft er durchs geöffnete Fenster. „Sonst jibt’s ’n Ordnungsgong mitm Außenspiegel!“ Er bemüht sich, dem Alltag gut gelaunt zu begegnen. Oft ist er der Einzige, der sich derart anstrengt. Also versucht er obendrein witzig zu sein. Er berlinert dann mehr als sonst. Er hofft, die Stadt könnte ihn verstehen.

Am Loeperplatz, ein paar Minuten später, bewegt sich etwas auf dem Geländer an den Gleisen. Völbel scannt im Dunkeln die Jungen, die da turnen. „Ich wäre schon tot, wenn ich jedes Mal erschrecken würde.“ Auf der Warschauer Straße geriet im Januar 2004 ein Mann unter eine Bahn und kam um. Der Körper wurde mitgeschleift, mehrere Bahnen fuhren über ihn hinweg, ehe ein Fahrer Leichenteile entdeckte: im Silvestermüll, der sich im Gleiskreuz angesammelt hatte, das Völbel im Dienst auf der M13 mehrmals täglich passiert.

Obwohl Völbel zu den kräftigsten unter den Berliner Verkehrsteilnehmern gehört, ordnet er sich der Stadt unter. Ahnt, dass der Fußgänger da drüben seinen nächsten Schritt direkt auf die Weichselstraße setzt. Bemerkt, dass sich der Kopf des Autofahrers, der über die Schienen links in die Frankfurter Allee einbiegen will, nicht weit genug gedreht hat. Völbel pocht nicht drauf, dass er Vorfahrt hat, rechnet lieber damit, dass andere Menschen Fehler machen.

Vielleicht haben sich die Berliner der guten alten Straßenbahn entfremdet, weil die sich verändert hat. Sie ist mit dem „Bordinformationssystem“ ausgestattet, kennt ihre Route allein. Das „Dynamische Abfahrtinformationssystem“ verschafft ihr an den Kreuzungen freie Fahrt. Sechs Kameras beobachten die Fahrgäste. Das „Fahrgastinformationssystem“ verkündet die Haltestellen. Zwar brauchen Straßenbahnen Fahrer und Disponenten, die Kollegen von der Dienstzuteilung, Werkstatt- und Reinigungspersonal. Trotzdem sind sie rollende Computer. Irgendwie nicht leibhaftig.

Völbel wuchs an einer Kreuzung in Friedrichshain auf: vier Jungen, ein Mädchen, vorm Fenster die Straßenbahnhaltestelle. Nach der Schule lernte er in der Großküche der Charité. 1982 war er Koch und volljährig, bewarb sich bei der Straßenbahn. Wenn die Freunde loszogen, arbeitete er auf dem Betriebshof Lichtenberg: am Wochenende, feiertags, nachts. Das hat sein Leben verändert. Die neuen Freunde sind auch bei der BVG. Er war kaum 21, da fuhr er allein eine Straßenbahn durch Berlin. Bestellte seine Freundin an die Strecke, die winkte. Eine Zigarette nach der anderen rauchten die Fahrer in ihren Kabinen, bis es Klimaanlagen gab und der Qualm die Filter verdreckte.

Während die Technik ihnen die Arbeit immer mehr erleichterte, wurde der Stadtverkehr schwieriger. Würde sich Völbel im Berufsverkehr an die StVO halten und eine Kreuzung erst befahren, wenn sie leer ist, „könnt ick die Kiste gleich ausmachen“. Weil Autos nahezu täglich irgendwo zu dicht an den Schienen parken, braucht die BVG nicht mehr die Polizei zu holen, um abschleppen zu lassen. Wenn Linksabbieger die Fahrbahn verfehlen, im Gleisbett landen, wo sie mit dem Unterboden aufsetzen, kann Völbel allerdings nur die Feuerwehr rufen. Wenn er an Haltestellen auf Leute wartet, die gerannt kommen, öffnet er erst die Tür, wenn sie da sind, sonst hören die auf zu rennen. Oft kostet Warten eine Ampelphase. Wartet er nicht, kassiert er böse Blicke. Zwei verpasste Ampelphasen werfen ihn weit aus dem Fahrplan, auch das bringt böse Blicke ein.

Drei Straßenbahnlinien überqueren den Alexanderplatz, wo Touristen nicht auf den Verkehr schauen und Leute von Kaufhaus zu Kaufhaus trödeln oder Feste feiern. Völbel sagt: „Berlin ist die einzige Stadt, die 58 Meter lange Züge durch den Weihnachtsmarkt fahren lässt.“

An manchen Abenden hat jeder dritte Fahrgast ein offenes Bier in der Hand. Zur Abwechslung nahm Völbel neulich eine gut gekleidete Frau mittleren Alters mit, die aus einer Flasche Scotch trank. Wenn er samstagmorgens um vier die M10 übernimmt, die zwischen den Clubs an der Warschauer Straße und dem Nordbahnhof pendelt, stinkt sie wie eine Kneipe. Die Fahrgäste hängen mehr, als dass sie stehen und sitzen, aber wenn er einsteigt, schaffen sie es zu rufen: „Die Fahrscheine bitte!“ Oft ist die Bahn vollgekotzt. Völbel öffnet vorn das Fenster und versucht, bis um neun durchzuhalten. Würde er gleich eine neue ordern, wäre die um halb sieben auch wieder verdreckt.

Wenn die M13 von der Bornholmer Straße über die Bösebrücke fährt, ist sie im ehemaligen Westteil der Stadt. Auf dem Mittelstreifen, der vorm Mauerfall ein Parkplatz war, liegen Gleise im schallschluckenden Gras. Sonntagabends nach dem „Tatort“ sind hunderte Hunde und Herrchen zugange. Selbst unbelaubt schirmen große Bäume die Straßenbeleuchtung von Trampelpfaden ab, die die Schienen queren. Völbel schaltet das Fernlicht ein, um die Übergänge zu sehen. An einem hat unlängst ein Kind sein Leben, die Mutter ihr Bein verloren. Woanders hat es einen Radfahrer erwischt.

Als gehöre es zum Berliner Straßenfahrerdasein, war auch Völbel Anfang der 90er Jahre in einen Unfall verwickelt. An der Langhansstraße trat plötzlich eine Frau hinter einem Baum hervor und ließ sich fallen. Er erinnert sich an Szenen. Wie er nach Vorschrift ausstieg. Dass ein Blick genügte, um zu wissen, dass keiner mehr helfen konnte. Wie er die Leitstelle rief und wartete, dass jemand kommt „und mir die Verantwortung abnimmt“. Dass niemand sich um ihn kümmerte, Leute ausstiegen, gingen. Dass er gefragt hat, wer eine Zeugenaussage machen kann, niemand etwas gesehen haben wollte. Dass die Besatzung des Rettungswagens ihm erklärte, dass ein Schock lebensgefährlich sein kann. Wie er abends in der Kneipe „Selbstmedikation mit Hochprozentigem“ betrieb, krankgeschrieben wurde und nicht schlafen konnte. Dass ihn ein Brief über Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung informierte. Dass die Gewerkschaft ihm den Anwalt besorgte. Dass er auf dem Revier die Akten las und die Tote nun auch noch einen Namen hatte. Dass ein Polizist jemanden fand, der am Fenster an der Langhansstraße alles beobachtet hatte: Ehe sie sich in Völbels Leben warf, hatte die 76-Jährige fein säuberlich die Schuhe am Straßenrand abgestellt. Dass er in einen Selbstmord verwickelt worden war, half ihm, den Unfall zu verkraften. Als er nach 14 Tagen wieder zum Dienst kam, setzte man ihn auf dieselbe Linie. Er wehrte er sich nicht. „Man testet sich aus“, sagt er. „Man will funktionieren.“

Seit Mitte der 90er Jahre kümmert sich die BVG nach Unfällen um Schockbetreuung, behandelt Traumata, um Kollegen in den Dienst zurückzuführen und psychische Folgeerkrankungen zu verhindern. Der betriebsärztliche Dienst und dafür ausgebildete Fahrerinnen und Fahrer sind in das Betreuungskonzept eingebunden. Wer nach einem Unfall nicht mehr fahren kann, wird woanders im Unternehmen eingesetzt.

Vor einiger Zeit, Andreas Völbel wollte aus der Haltestelle am Bahnhof Alexanderplatz fahren, sah er im Rückspiegel drei Mädchen, die über die Kupplung hinweg zwischen den Wagen seiner Bahn hindurchgestiegen kamen. Er stürzte nach draußen, brüllte. Ob sie lebensmüde seien. Dass sie nicht mehr gut aussehen würden, wenn er mit sechs Achsen über sie hinweggerollt ist! Er verbot den Mädchen einzusteigen. Er vermutet: Als er weg war, haben sie gekichert.

Nicht nur die Straßenbahn ist in den Jahren eine andere geworden, auch die Fahrgäste haben sich verändert, Völbel sagt: „Zu ihrem Nachteil.“ Nicht die Touristen, die lobten die Bahn, aber die Berliner. Wenn die gut drauf sind, drücken sie auf die Knöpfe der Sprechstellen, die sich an den Türen in der Bahn befinden, um mit Völbel zu sprechen. Sie rufen: „Eine Pizza bitte!“ Oder: „Zwei Döner!“ Er antwortet: „Kräuter- oder Knoblauchsoße?“, bis es ihm reicht. Dann sagt er: „Das hier ist für Notfälle.“

Er ist angewiesen, zum eigenen Schutz vorsichtig zu sein. Tätliche Angriffe nehmen nicht zu, heißt es bei der BVG, aber werden gewalttätiger. Die Bereitschaft der Berliner, einander zu verletzen, steigt. Auch Deeskalationstraining und „Stressimpfung“ gehören zum Betreuungskonzept des Unternehmens.

Kürzlich, an einem sonnigen Märztag, war Völbels Bahn defekt. Er musste die Fahrgäste in eine andere umsteigen lassen, das kostete Zeit. An der Prenzlauer Promenade stieg dann ein Mann zu und klopfte mit der Faust bei ihm an. Was er sich einbilde, brüllte der Mann, wo er jetzt herkomme, ob sie alle spinnen bei der BVG! Völbel berichtete. Fragte: „Sind Sie mit der Erklärung zufrieden? Denn ich nehme Sie nicht mit.“ Warum?, brüllte der Mann. „Weil ihr riesiger Kampfhund keinen Maulkorb trägt.“ Der Mann tobte, Völbel zitierte die Beförderungsbestimmungen, der Mann weigerte sich auszusteigen. „Dann hole ich die Polizei“, sagte Völbel. Da spuckte der Fahrgast ihm ins Gesicht.

Wieder funktionierte er. Fuhr weiter, weil eine Bahn weiterfahren muss. Rief die Leitstelle. Man hörte ihn außer sich vor Wut. Ein Auto brachte einen anderen Fahrer, fuhr Völbel nach Hause, wartete, bis er geduscht und sich umgezogen hatte, brachte ihn wieder auf die Bahn.

In der Nacht, als sein Dienst auf der M13 zu Ende ist, verlässt er die Route und fährt zum Betriebshof. Die Straßen sind leer, er hat niemanden an Bord. Fahren pur. Er fährt 60, er rast also, denn schneller kann die Bahn nicht. Er schwärmt. Von den vielen Fahrgästen, die alle in seine Bahn passen. Von den Tagen nach dem Mauerfall, an denen er die Leute die Bornholmer Straße hochgefahren und ihnen dann nachgeschaut hat, wenn sie in den Westen zogen. Von dem Blinden, der immer an der Mollstraße steht, wo mehrere Linien halten, und dem er dann zuruft, welche Nummer er ist.

Vorm Betriebshof schaut er nach, ob doch noch ein Fahrgast in der M13 eingeschlafen ist oder in einer Ecke liegt. Die Weichen auf dem Hof muss er mit der Hand stellen. Im Nebel, der über das riesige Gelände mit 35 Gleisen kriecht, wandeln die schwarzen Schatten der Reinigungsfrauen. Völbel stellt die M13 auf Gleis 18 ab, schaltet das Licht im Innern aus und geht. Noch zweimal dreht er sich nach der Bahn um.

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