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Selbsthilfeprojekt Büchertisch: Nahrung für die Seele

"Wer Bücher braucht, dem geben wir welche". Wie aus der belächelten Idee des Berliner Büchertischs ein Riesenerfolg wurde.

Ernst Wenger hat sich den „Weißen Hai“ und ein Buch über Architektur ausgesucht. „Ich komme jede Woche“, sagt der Hartz-IV-Empfänger und steckt die geschenkten Bücher in seine Jutetasche. In einer Tempelhofer Kirche gibt es dienstags neben einer Tüte Lebensmittel für einen Euro kostenlose Bücher des Vereins Berliner Büchertisch. Nahrung für die Seele, sagt Wenger.

Die Kirche ist einer von etwa 15 Orten, an denen der Verein Bücher verschenkt, darunter Schulen, Bibliotheken und soziale Einrichtungen. Auch der Büchertisch selbst lebt von Spenden: Bis zu tausend Bücher täglich holen die Mitarbeiter aus Privathaushalten ab. „Über die Website und Mundpropaganda hat sich herumgesprochen, dass man seine alten Bücher hier bequem und für einen guten Zweck loswerden kann“, sagt Ana Lichtwer, die den Büchertisch vor fünf Jahren gründete. Jetzt ist der Bestand auf über 30 000 Bücher angewachsen, die trocken und warm im Keller des Vereins lagern. Ein Teil davon geht in den Verkauf, um den Büchertisch zu finanzieren – in drei eigenen Buchhandlungen in Kreuzberg und Weißensee und im Internet. Der Rest wird verschenkt. „Wer Bücher braucht, dem geben wir welche“, sagt Lichtwer.

Die 42-Jährige mit den dicken graublonden Locken sitzt in einem der Verkaufsläden am Kreuzberger Mehringdamm. Der Raum ist in warmem Gelb gestrichen und wie ein gutes Antiquariat sortiert. In einer Ecke stehen Bananenkisten mit großgeschriebenen Stichworten: Hölderlin, Benin, Björn Schulz. „Die Björn-Schulz-Stiftung ist mein Lieblingsprojekt, das wir beschenken“, sagt Lichtwer – ein Kinderhospiz, das eine Bibliothek zum Thema Übergang und Tod aufbaut. Kennengelernt habe man sich, als die Stiftung dem Büchertisch selbst alte Bücher schenkte, sagt Lichtwer und lacht. Auf diese Weise ergeben sich häufig Kooperationen.

Die studierte Volkswirtschaftlerin und Slawistin Lichtwer erzählt mit großer innerer Ruhe, wie sie vor fünf Jahren auf der Suche nach einer Geschäftsidee war. Leben und Arbeiten, sagt sie, sollten sich damit verbinden lassen. Als sie privat aus Platzmangel Bücher aussortierte und diese nicht wegschmeißen, sondern gerne weitergeben wollte, entstand die Idee zum Büchertisch: „Zu Büchern haben die meisten eine persönliche Bindung. Eine Couch oder einen Fernseher schmeißt man weg. Bücher nicht.“ Ob Pärchen zusammenziehen und die Wohnung zu klein für den literarischen Bestand ist, ob jemand stirbt, der viel Lesestoff besaß, oder ob einfach alte Krimis und Romane aussortiert werden – der Service des Büchertischs, die Ware abzuholen, sprach sich herum. 2003 mietete Lichtwer die ersten Räume.

Dass ein Teil der Leseobjekte kostenlos den Besitzer wechselt, ist allerdings nicht die einzige Besonderheit des Vereins. Der Berliner Büchertisch ist ein Selbsthilfeprojekt. „Unsere Leute sind zwischen 17 und 71“, sagt Ana Lichtwer, „und vom ehemaligen Drogenabhängigen ohne Schulabschluss bis zum Akademiker mit Doktortitel ist alles dabei.“

Dreißig Mitarbeiter hat der Büchertisch mittlerweile. Ob die Bücherkisten gestapelt, die Neuzugänge in Kataloge eingegeben oder die Verschenkorte betreut werden müssen – für jeden fand sich eine passende Aufgabe. „Wer anklopft, kann eintreten, erzählen und mitmachen“, sagt Lichtwer. Minijobs wurden vergeben, Honorarkräfte oder Ehrenamtliche beschäftigt. „Eine Arbeit zu haben, gibt den Menschen die Würde wieder. Und ich selbst versuche mit dem Projekt, einen Traum von mir zu leben. Mir kann nicht egal sein, was in meiner Umgebung passiert.“ Weil es noch mehr Bücher werden sollen, sind sie auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Auf den Lesezeichen, die im Laden ausliegen, steht: „Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.“

Kontakt unter Tel. 6120 9996 und im Internet bei www.berliner-buechertisch.de

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