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Stadtleben: Die Polexpedition

Wo beginnt, wo endet Berlin? Eine Reise ans Ost- und Westende der Stadt

Im Osten, hinter dem Flakensee, geht die Sonne auf. Ein paar Stunden lang quert sie den Himmel über Berlin. Im Westen, hinter dem Jungfernsee, geht sie unter. Das ist die ganze Geschichte.

Wo beginnt, wo endet eine Stadt? Am Flughafen, am Bahnhof, am Autobahnring? Bei den Baumarktbrachen und Parkplatzwüsten? Zwischen Grün und Grau? In den Herzen ihrer Bewohner? Viele Wege führen nach Berlin. Wo anfangen?

Genau hier: 52 Grad, 26 Minuten, 21 Sekunden nördlicher Breite, 13 Grad, 45 Minuten, 47 Sekunden östlicher Länge. Da steht ein Baum, eine Linde, umschlungen von Efeu, durch die Blätter bricht gerade die Morgensonne. Die Linde markiert, auch wenn das Zufall ist, Berlins östlichsten Punkt. Einen Schritt weiter hört die Stadt auf. Genauer gesagt bekäme man nasse Füße, wenn man weiterginge, denn Berlins Ostpol liegt am Ufer des Flakensees, Ortsteil Rahnsdorf, Bezirk Treptow-Köpenick.

Pole sind konstruierte Orientierungspunkte, nichts weiter. Man braucht sie, um verorten zu können, was zwischen ihnen liegt. Wie es am Nordpol aussieht oder am Südpol, war den Menschen lange gleichgültig. Die ersten, die es wissen wollten, wurden ausgelacht. Was wollt ihr denn da entdecken?, fragten die Leute. Da ist doch nichts!

Auf den ersten Blick ist auch hier, am Berliner Ostpol, nichts. Nicht viel jedenfalls, außer einer Zufallslinde. Verwilderter Wald säumt das Seeufer, etwas nördlich gibt es ein Stück Sandstrand, ein Motorboot ankert dicht an der Wasserkante. Modell Ibis-2, verrät die Besitzerin, ein Sportboot aus DDR-Produktion, aufgerüstet mit Trabant-Lenkrad, ansonsten Originalzustand und bis heute zuverlässig: „Da geht nix dran kaputt.“ Am Bug steht der Bootsname: Ossi. Auch das ist nicht mehr als ein Zufall, wenn auch ein schöner.

Vom Sandstrand führt ein schmaler Pfad ins Waldesinnere, Richtung Westen, stadteinwärts. Nach ein paar Schritten tauchen die ersten Berliner Behausungen auf: Wohnwagen. Dicht an dicht stehen sie zwischen den Bäumen. Plastikstühle und Kisten voller Küchenzubehör drücken sich in den Waldboden, der Ostpol ist ein Campingplatz. Heute ist Saisonschluss bei den „Naturfreunden Springeberg e.V.“, die meisten Stellplätze sind verwaist, nur ein paar Dauercamper sind noch unterwegs, um ihre Wohnwagen winterfest zu machen.

Auch der Chef ist noch da, Herr Lange, ein eher kurzer Herr von 72 Jahren, der viel jünger aussieht, weil er seinem Körper keine Zeit zum Altern lässt. „Boxen, Schwimmen, Rudern, Tanzen“, zählt Herr Lange auf. Im Schwimmen hat er es bis zum Pioniermeister gebracht, was natürlich ein Weilchen her ist, aber im Sommer springt er immer noch jeden Morgen in den Flakensee.

Auch reden kann Dieter Lange ziemlich ausdauernd. Über das Früher und das Heute und den Weg, der dazwischenliegt. Das mit dem Campingplatz ist nämlich eine lange Geschichte. 1953 begann sie, kurz nach Stalins Tod, da ebnete man am Flakensee die Schützengräben aus dem Zweiten Weltkrieg ein und stellte die ersten Zelte auf. Zehn Pfennig kostete damals eine Übernachtung, das Publikum war nicht wohlhabend, Arbeiterklasse, was ja im Grunde die Klasse aller DDR-Bürger war, seit der Klassenkampf die Klassen weggekämpft hatte.

Herr Lange, Schneider von Beruf, kennt diesen Teil der Campingplatzgeschichte nicht mehr persönlich, er selbst hat hier erst 1976 die ersten Heringe in den Boden gerammt. Da residierte nebenan schon die Stasi. Die Herren vom Geheimdienst hatten sich ein Stück weiter nördlich ein paar Bungalows ans Seeufer gebaut, die wollten schließlich auch mal ausspannen, der Klassenkampf war kein leichtes Geschäft.

Man blieb unter sich. Im Süden zeltete die Arbeiterklasse, im Norden urlaubte ihr Wachschutz, man war sich nahe, ohne sich näherzukommen. Dann aber, Mitte der 80er Jahre, geschah etwas Seltsames. Herr Lange, zu dieser Zeit schon aktiv im Zeltplatzbeirat, besuchte eines Tages das Woltersdorfer Rathaus. In einem Büro fiel sein Blick zufällig auf eine Staffelage. Weißes Millimeterpapier hing über dem Gestell, der Bauplan skizzierte eine Freizeitsiedlung, Bungalows, gruppiert um einen „Flanierpark“. Moment mal, dachte Herr Lange. Flanierpark? Das ist doch unser Zeltplatz!

Eilige Krisensitzung der Arbeiterklasse. Die Stasi will uns wegflanieren? Was tun? Protestieren? Gegen die Stasi? Langes Hin und Her. Am Ende spannte Herr Lange einen Bogen Papier in die Schreibmaschine und tippte, was Bürger der DDR üblicherweise tippten, wenn ihnen etwas stank: E - I - N - G - A - B - E - !

Als das Schreiben fertig war, beratschlagte die Arbeiterklasse, wer da nun seine Unterschrift druntersetzen sollte. Es war ja nicht ganz ohne, sich mit der Stasi anzulegen, man fürchtete berufliche Schikanen. Herr Lange war Schneider. Gut, sein Arbeitgeber war das Regierungskrankenhaus, angesiedelt beim Ministerrat, wo Herr Lange Gardinen zuschnitt und Teppiche kürzte – aber trotzdem, er war Schneider. Was sollte einem Schneider groß passieren? Er unterschrieb.

Der Brief ging an den Rat des Bezirks Frankfurt-Oder, eine Kopie hat Herr Lange noch, die wichtigsten Stellen sind unterstrichen: ... unvereinbar mit der sozialistischen Demokratie ... Zerstörung eines Naherholungsgebiets mit reichen Traditionen in der Arbeitersportbewegung ... Erholung für Produktions- und Schichtarbeiter, Kinderreiche, Veteranen der Arbeit, die viel für den Staat geleistet haben ...

Der „Krieg“, wie Herr Lange es immer noch nennt, zog sich ein paar Jahre hin. Wer gewonnen hat, sieht man ja. Der Zeltplatz ist noch da. Die Stasi ist weg.

Geblieben sind vom Wachschutz des Sozialismus nur die Bungalows. Ein Stück nördlich vom Campingplatz stehen sie verlassen im Wald, ramschige Plastikkonstruktionen, die Fenster kaputt, die Türen aus den Angeln, das Mobiliar über den Waldboden verstreut. Drinnen sieht es wüst aus, zertretene Schrankwände, gefledderte Polstergarnituren. In einem Küchenschrank gibt es noch ein Glas vom guten alten Bautz’ner Senf, mittelscharf, und neben einem verwaisten Aquarium steht eine halb volle Packung Wurzener Instant-Reismehl.

Drei der Bungalows sind vor ein paar Monaten ausgebrannt, wofür auf dem Campingplatz verschiedene Erklärungen kursieren. Alkis, sagen die einen. Andere wittern Brandstiftung. Vielleicht, sagen sie, spekuliert da jemand auf ein Baugrundstück und will das Gelände freiräumen.

Von einem DDR-Bungalow bleibt nicht viel übrig, wenn er abbrennt. Ein paar verrußte Alu-Träger und eine unförmige, schwarze Kunststoffpfütze. Das konnten sie schon immer gut bei der Stasi: verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Die Stasi ist weg, und der Ostpol gehört bis heute der Arbeiterklasse. Worauf die Arbeiterklasse bis heute ein bisschen stolz ist. Herr Lange hat den ganzen kriegerischen Schriftverkehr von damals aufbewahrt, auch den Friedensvertrag, der kurz vor der Wende eintrudelte: Werter Herr Lange ... Befürchtungen unbegründet ... mit sozialistischem Gruß, Rat des Bezirks Frankfurt (Oder).

Neben dem Schriftverkehr hat Herr Lange in seinem Barackenbüro noch so einiges aufbewahrt, man könnte hier lange stöbern. Allein die Fotoalben! Blätternd bleibt Herr Lange bei einer Faschingsfeier hängen, der ganze Zeltplatz in Märchenkostümen, Frau Lange als Schneewittchen, ihr Gatte als tapferes Schneiderlein.

Wobei Herr Lange das bitte nicht missverstanden haben will mit der Tapferkeit, er mag das nicht, wenn sich Leute als Widerstandskämpfer aufspielen, die nie welche waren. Er war selbst Parteigenosse, da macht er keinen Hehl draus.

„Trotzdem, eine Sache werde ich nie verstehen“, sagt er. Seit 23 Jahren wählen sie ihn hier Jahr für Jahr in die Führungsebene, erst war er Platzbeirat, wie es damals hieß, heute ist er Vereinsvorsitzender. „Und immer wählen sie mich mit hundert Prozent. Immer, bis heute. Da muss es doch mal einen geben, der sagt: Nee, nicht der Lange! Gibt es aber nicht. Werde ich nie verstehen.“

Und noch etwas versteht Herr Lange nicht. Während die Wende anderswo Grenzen verschwinden ließ, hat sie hier, auf dem Campingplatz, in gewisser Weise neue geschaffen. Herr Lange kann ein Lied davon singen. Quer durch seinen Platz verläuft ein schmaler Streifen Berlin, vielleicht 200 Meter breit. Der Ostpol ist nämlich ein etwas rätselhafter, dem eigentlichen Stadtgebiet vorgelagerter Zipfel, der von der Woltersdorfer Landstraße quer durch den Wald bis zum Seeufer führt, eingeklemmt von den brandenburgischen Gemeinden Erkner im Süden und Woltersdorf im Norden. Warum sich das historisch so entwickelt hat, weiß heute kein Mensch mehr, weder beim Vermessungsamt noch im Bezirksrathaus noch beim Heimatverein.

Auch Herr Lange weiß es nicht. Aber er kann viele Geschichten erzählen über die Verwaltungsgrenzen, die seinen Campingplatz in drei Teile zerschneiden, Woltersdorf, Berlin, Erkner. Das war schon zu DDR-Zeiten so, bloß spielte es damals keine große Rolle. Heute aber muss Herr Lange mit drei verschiedenen Rathäusern verhandeln, wenn die Pachtverträge erneuert werden sollen. Feuerwehr, Polizei, Forstamt – alles in dreifacher Instanz zuständig.

Die Geschichte mit dem Fuchs zum Beispiel! Ein paar Jahre ist es her, da stromerte ein tollwütiger Fuchs über den Platz. Der Förster, angereist aus Brandenburg, brachte ihn mit einem wohlgezielten Schuss zur Strecke. Dann ließ er die Flinte sinken, sah sich um – und erbleichte. „Verdammt“, fragte er nervös, „wo habe ich denn jetzt hingeballert?“ Um forstpolitische Komplikationen zu vermeiden, einigte man sich platzintern auf die Sprachregelung, dass der Fuchs sein Leben auf brandenburgischem Boden ausgehaucht hatte.

Oder die Neonazis! Wenn die unten am Sandstrand ihre Lagerfeuer anzünden, müsste Herr Lange eigentlich die Berliner Polizei anrufen, aber bis die vor Ort ist, haben die Nazis längst den Wald abgefackelt. Lieber ruft Herr Lange die Wache in Erkner an und lässt offen, wo genau nun das Nazifeuer brennt.

Zum Glück sind die Nazis jetzt schon lange nicht mehr aufgetaucht. Mit allen anderen jungen Leuten, die manchmal am Strand kokeln, kommt Herr Lange selbst zurecht, da braucht er keine Polizei. „Ich sage denen immer: Kalifornien! Ihr habt doch bestimmt im Fernsehen gesehen, wie leicht da die Wälder Feuer fangen. Das verstehen die sofort. Wenn ich jetzt sagen würde: Kinder, ihr wisst doch, wie schnell in Russland die Taiga brennt – das würden die nicht verstehen. Das kennen die ja heute gar nicht mehr.“

Wie gesagt, Herr Lange ist ein ausdauernder Redner. Was nicht heißen soll, dass er weitschweifig wäre, denn wenn er will, kann er die Dinge auch sehr präzise auf den Punkt bringen. Um zum Beispiel zusammenzufassen, wie das nun alles war mit dem Osten, dafür braucht Herr Lange ganze zwei Sätze.

„Es war damals eine ganze Menge schlechter. Aber heute ist ganz schön viel schlechter.“

Das also wäre der Ostpol. Nun ab durch die Mitte, zum Westpol.

Unterwegs sieht die Stadt plötzlich anders aus. Wer vom Pol kommt, betrachtet alles vom Pol her. Sätze, die sonst verklingen, hallen plötzlich nach. Eine Stellwand mit Immobilienanzeigen verspricht „Grundstücke mit bevorzugter Westausrichtung“. Eine Mutter ermahnt ihr Kind: „Nicht auf die andere Seite gehen, hörst du?“ Das Gemeindebrett einer Kirche gebietet: „Einer trage des anderen Last“, Galater 6,2. Und so weiter, quer durch das ganze ungeteilte Berlin, bis die Stadt nach 45 Kilometern wieder merklich ausdünnt und sich am Ende in Wald auflöst. Buslinie 316, die letzten Haltestellen vor dem Westpol werden durchgesagt, es geht vorbei an Nikolskoe, dem historischen russischen Gasthaus im Glienicker Park. „Nikolskö“ sagt die Lautsprecherstimme, mit Umlaut, obwohl es „Nikolskoje“ heißen müsste, aber die Fahrt geht nun einmal Richtung Westen, und von hier aus ist Russland mit seinen Taiga-Bränden fremd und fern.

Endhaltestelle: Glienicker Brücke. Drüben, auf der anderen Seite, ist Potsdam, in der Brückenmitte endet Berlin. Es ist ein sonniger Tag, und an sonnigen Tagen, vor allem an sonnigen Sonntagen, ist hier die Hölle los. Man kennt den westlichsten Zipfel Berlins aus Film und Fernsehen. „Guck mal“, sagt ein Tourist, „das ist doch die Brücke, wo sie immer die Spione ausgetauscht haben.“ Es klingt, als sei diese konspirative Choreografie des Kalten Krieges hier früher so regelmäßig aufgeführt worden wie die Fütterung der Delfine im Zoo.

Die eigentliche Attraktion dieser Gegend aber ist der Park. An den Ufern des Jungfernsees liegt eine Sehnsuchtslandschaft. Fantasievillen, die hier nicht heimisch sind, säumen die Uferwege, hier träumt Berlin vom Westen, von England, von Frankreich, von Italien. Es ist ein Traum des 19. Jahrhunderts, aber man reibt sich am Jungfernsee bis heute die Augen.

Das westlichste Ende Berlins ist unbewohnt. Man besucht ihn zum Flanieren und kehrt traumbeladen zurück in die Stadt. Im Strom der Ausflügler aber kann man mit ein bisschen Glück einen weißhaarigen Mann treffen, der hier so gut wie heimisch ist. Michael Seiler, inzwischen pensioniert und in seinen Siebzigern, verbringt immer noch viel Zeit in den Parklandschaften, deren Gartendirektor er einst war. Zu Mauerzeiten hatte Herr Seiler damit nicht nur den westlichsten Arbeitsplatz der Stadt, sondern auch einen der westlichsten Wohnorte, er lebte nämlich – und lebt dort bis heute – auf der Pfaueninsel. Auch das hat berufliche Gründe. Ende der 70er Jahre berief man ihn zum Oberkustos des kleinen Eilands nördlich von Glienicke. Als Oberkustos war Herr Seiler auf der Insel „residenzpflichtig“, wie es im Arbeitsvertrag hieß, als sei es eine Last, auf der Pfaueninsel zu leben, und keine Lust.

Gut, zu Mauerzeiten war es mitunter ein zwiespältiges Vergnügen. Man blickte auf die Mauer, die die östlichen Ufer des Sees einfasste, die ganze Nacht über war sie grell angestrahlt. Mitunter explodierten Leuchtraketen über dem Niemandsland, und von den russischen Kasernen her wehte Panzergrollen über den See. Beim Rudern mit den Kindern musste man aufpassen, dass man der Wassergrenze nicht zu nahe kam, denn dann konnten sehr plötzlich die Schnellboote der Grenztruppen auftauchen.

Ironischerweise war Michael Seiler, dem die Mauer so dicht vor Augen stand wie nur wenigen Berlinern, gleichzeitig ausnehmend gut darin, sie zu übersehen. Es war sozusagen sein Beruf, die Mauer zu ignorieren. Die Parklandschaften rund um die Havel, Sacrow im Norden, Babelsberg im Süden, Sanssouci im Osten, Glienicke im Westen, all das war in Seilers Vorstellung immer ein Ganzes geblieben, die Gärten gehörten zusammen, auch wenn eine zufällige Grenze sie nun voneinander trennte. Als Einheit waren sie im 19. Jahrhundert angelegt worden, damals lag die ganze Region noch weit außerhalb des Berliner Stadtgebiets. Erst 1920, als Klein-Berlin zu Groß-Berlin erweitert wurde, zog man die Stadtgrenze quer durch den Jungfernsee, mehr oder weniger willkürlich, was für die Gärten damals keine große Rolle spielte. Wer hätte ahnen sollen, dass der städtische Horizont vier Jahrzehnte später zur Betonmauer werden würde?

Als Herr Seiler Ende der 70er Jahre Gartendirektor von Glienicke wurde, begriff er seinen Beruf als einen grenzüberschreitenden. Er stand in engem Kontakt mit den Gartenbaukollegen auf der anderen, der östlichen Havelseite. Oft besuchte er sie, auch wenn er dafür immer den mühsamen Umweg über den Kontrollpunkt Drewitz in Kauf nehmen musste, anstatt einfach über die Glienicker Brücke laufen zu können, was damals leider nur die Spione durften.

Auf der anderen Seite traf Herr Seiler Kollegen, für die die Gärten noch viel mehr als für ihn selbst eine Sehnsuchtslandschaft waren, denn hier mussten sie das echte England und Frankreich und Italien nicht nur widerspiegeln, sondern ersetzen. Bis heute spricht Herr Seiler über seine Ostkollegen mit einer rührenden Ehrfurcht. Ihr Bemühen um die Gärten, sagt er, sei von einer Intensität gewesen, die er im Westen selten erlebt habe.

Ihre gärtnerische Not machte die Kollegen nämlich erfinderisch, mitunter sogar tollkühn. Einmal, Mitte der 80er Jahre, besuchte Herr Seiler den Neuen Garten in Potsdam. Ein Unwetter war kurz zuvor über die Uferlandschaft hinweggefegt, und die Grenztruppen hatten die Gärtner gebeten, im Niemandsland die Sturmschäden zu beseitigen. Die Gärtner ergriffen die Gelegenheit beim Schopf: Heimlich misteten sie den Mauerstreifen etwas gründlicher aus als vorgesehen, um nebenbei gleich noch ein paar historische Sichtachsen freizulegen. Als Herr Seiler eintraf, nahmen die Kollegen ihn konspirativ beiseite: Schauen Sie mal, sagten sie, sehen Sie sich das an! Herr Seiler folgte den ausgestreckten Zeigefingern und sah: das Schloss Pfaueninsel. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte man es vom Neuen Garten aus wieder sehen. Herr Seiler erinnert sich noch, wie merkwürdig ihm das vorkam, von Osten aus den eigenen Wohnort zu betrachten und sich dabei wie der Mitwisser eines politischen Vergehens zu fühlen.

Als die Wende kam, kam mit ihr eine große Dunkelheit. Rund um den See wurden die Scheinwerfer ausgeknipst, die nachts das Niemandsland ausgeleuchtet hatten. Michael Seilers Kinder waren ein bisschen enttäuscht, sie hatten sich sehr an den Anblick der Ufermauer gewöhnt, die nachts wie der angestrahlte Lido vor ihnen lag. Dem Vater dagegen, der inzwischen Gartendirektor der gesamten, grenzübergreifenden Parklandschaft geworden war, gefiel die neue Dunkelheit. Wenn er nachts am Ufer der Pfaueninsel stand und auf den schwarzen See hinaussah, dann wusste er, dass ringsum die Wunden der Gärten heilten.

Seitdem ist, ähnlich wie am Ostpol, am Westpol manches anders geworden und anderes gleich geblieben. Zwei Beispiele nur, die abseits von allem Offensichtlichen liegen. Neu sind die Wildschweine. Früher gab es sie nur vereinzelt in Glienicke, denn ihre Migrationswege waren zugemauert. Seit sie das nicht mehr sind, radelt Herr Seiler lieber ein bisschen schneller, wenn ihm im Park mal wieder ein dreißigköpfiges Schweinerudel begegnet. Nichts geändert hat sich dagegen an den Autokolonnen. Heute wie damals parken sie an sonnigen Sonntagen die gesamte Königstraße zu, bis runter zur Glienicker Brücke. Herrn Seiler wundert das manchmal ein wenig, weil es aussieht, als hätten die Berliner immer noch nicht gemerkt, dass man inzwischen auch über die Brücke hinweg fahren kann, hinter der doch ganz Brandenburg liegt.

Das also wäre der Westen. Am einen Ende der Stadt kampiert die Arbeiterklasse, am anderen flaniert das Bürgertum. Ein Zufall, der erwartbar klingt, ohne es zu sein, denn genauso gut hätte ja am Ostpol eine Bibliothek und am Westpol eine Currywurstbude stehen können.

Nun ist allerdings der allerwestlichste Punkt der Stadt gar nicht die Glienicker Brücke, jedenfalls nicht, wenn man es geografisch genau nimmt. Nördlich von ihr, und ein kleines Stück weiter westlich, läuft die Stadtgrenze in den Jungfernsee hinein, bevor sie in der Seemitte scharf nach Osten abknickt. Genau an diesem Knick, mitten im Wasser, liegt der eigentliche Westpol. Um hinzukommen, bräuchte man ein Boot. Was tun, wenn man keins hat? Vielleicht einen der Wochenend-Skipper ansprechen, deren Jachten am Ufer vertäut sind. Vielleicht den Mann mit dem blau gestreiften Hemd, der ein bisschen nach Abenteurer aussieht. Stirnrunzelnd hört er sich die Geschichte an. Ein paar Sekunden lang guckt er, als wollte er sagen: Westpol? Geht’s noch? Dann aber sagt er etwas völlig anderes. „Ick bin für jeden Blödsinn zu haben.“ Und wirft den Motor an.

Unterwegs stellt sich heraus – wieder ein Zufall, wenn auch ein seltsamer –, dass der Zufallskapitän dieses Zufallsboots weder ein Wessi ist noch ein Ossi, sondern ein Wossi, ein Grenzgänger. Im politischen Einzugsgebiet des Ostpols geboren, zog es Christopher Kirsten früh Richtung Westen, wobei eine Mauer zu überwinden war, was beim ersten Fluchtversuch leider misslang. Ein Jahr saß er im Knast, dann kam er doch noch rüber. 30 Jahre ist das jetzt her, und Herr Kirsten, der mit seinem Boot viel rumgekommen ist auf Berlins Gewässern, kann gar nicht glauben, dass er in all den Jahren nicht wusste, wie der Westpol aussieht.

Zitternd verstummt der Bootsmotor. Es wird still an Bord. Eine glitzernde Spur teilt die Wellen, in ihrer Flucht sinkt die Abendsonne. Hier, genau hier, ist die Geschichte zu Ende: 52 Grad, 25 Minuten, 16 Sekunden nördlicher Breite, 13 Grad, 5 Minuten, 24 Sekunden östlicher Länge.

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