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Die Yorckbrücken an der Grenze zwischen Schöneberg und Kreuzberg.

© Kai-Uwe Heinrich

Stadtentwicklung: Lasst doch mein Berlin, wie es ist!

Nirgendwo sonst weht der Berliner Esprit so authentisch wie unter den Yorckbrücken. Wagt es nicht, diesen magischen Ort zu berühren! Eine Liebeserklärung.

Berlin ist für mich weder das Brandenburger Tor noch der Fernsehturm. Noch weniger ist es der Reichstag und am allerwenigsten dieses brandneue alte Schloss, das sich wie ein Wiedergänger aus den Tiefen unter den Linden herausgräbt. Wenn man mich fragt, welcher Ort am besten den Geist meiner Wahlheimat wiedergibt, zögere ich keine Sekunde: die Yorckbrücken.

Nirgendwo sonst weht der Berliner Esprit so authentisch wie hier, unter diesem Spalier von Eisenbahnbrücken zwischen Schöneberg und Kreuzberg. Mit seinen gusseisernen, antiquierten Säulen erinnert dieses rußschwarze Bauwerk an einen griechischen Tempel, mit der fein dekorierten Gründung und von korinthischen Kapitellen geschmückt. Diese Säulen tragen zwei Dutzend verlassene Eisenbahnbrücken, deren Schienen von Unkraut überwuchert sind.

Ich liebe es, langsam mit dem Auto daran vorbeizufahren, den Blick nach oben zu richten und die Weisheiten zu lesen, die dort in weißer Farbe und großen Letter mahnend auf den Balken der Viadukte prangen. Diesmal ist die Botschaft eine umweltfreundliche: keine Rinderzucht auf Regenwaldboden! Boykottiert! No Burger!! Im Laufe ihrer Geschichte haben unzählige existenzielle Wahrheiten die Yorckbrücken geschmückt, manchmal auch nur die simple, amouröse Sehnsucht, ein Vorname, von einem Herz umschlossen. Ich liebe diesen geschäftigen Halbschatten vor der S-Bahn-Haltestelle, diesen Transitort. Nie würde jemand auf die Idee kommen, unter den Yorckbrücken spazieren zu gehen.

Berlin, damals, im Größenwahn!

Dieser Ort ist emblematisch für diese kleine Insel, die fast ein halbes Jahrhundert lang in der Zeit erstarrt blieb. Einige Berliner Wände – es werden immer weniger – tragen noch heute die Einschusslöcher der letzten Kriegswochen mit sich herum. Und die Brücken über die Yorckstraße sind ein unversehrtes Relikt aus der Zeit davor, wo die Zukunft noch strahlend zu werden versprach.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wollte die frisch gekürte Hauptstadt des vereinigten Deutschland dem Rest der Welt zeigen, dass sich genau hier die Speerspitze von Technik und Fortschritt einfindet. Die Ingenieure schufen hier ihr chef d’œuvre, ihr Meisterwerk, 24 alte Bahnbrücken überspannen die Straße in einem einzigen Schwung. Darauf befördert wurden Güter, um diese riesige, neugeborene Metropole zu ernähren. Berlin, damals, im Größenwahn!

Und ebenso wie die Yorckbrücken sich nicht verändert haben, hat sich auch in der Umgebung seit dem Mauerfall nichts bewegt. Weit weg vom hippen Berlin- Mitte, findet man hier den Spätkauf mit seinen Plastikstühlen, das Koreanische Restaurant, vom darüber gebauten Neubau eingequetscht, die Shisha Lounge, die sich unheimliche Mühe gibt, cool zu sein. Hier, unter den Yorckbrücken, sind die Raucher noch keine Aussätzigen. Hier sieht man sie noch, früh am Morgen, die Kippe im Mundwinkel.

„Raucherlokal. Zutritt unter 18 Jahren verboten!“, warnt das Schild vor einem türkischen Café. Hier serviert man Multi-Kulti-Cocktails: Instant- Zimt-Drink mit Absolut Wodka, löslicher Früchtetee und Chivas Regal. Hier bietet ein Musikgeschäft selbstgebaute orientalische Instrumente an. Eine Fahrschule wirbt mit dem Führerschein für kleines Geld. Und ein Verkleidungsgeschäft verkauft Spezialeffekte, Ballongas und Bärte. Und was sich wohl hinter dem purpurnen Samtvorhang des Tattoo-Ladens verbirgt? Oder hinter dem Kaktusdschungel in der Vitrine des Frisörsalons?

Mein Herz zog sich zusammen

Kürzlich entdeckte ich ein Schild, darauf die Renovierungsankündigung der Yorckbrücken. Mein Herz zog sich zusammen. Auf keinen Fall! Wagt es nicht, diesen magischen Ort zu berühren!

Keine andere europäische Hauptstadt entfesselt so sehr meinen Erhaltungsinstinkt. Den Status quo präservieren, auf keinen Fall etwas ändern! Lasst doch den Rost sich langsam durch die Brücken und ihre Pfeiler nagen. Lasst doch die Natur ihren Platz auf den Schienen zurückerobern. Lasst doch mein Berlin wie es ist! Es braucht eure Flickereien nicht! Ich werfe einen bösen (und zugegebenermaßen absurden) Blick auf alles, was erneuert, säubert, konsolidiert, transformiert, repariert.

Als wäre jeder Pinselstrich, jeder Nagel, jede Schweißnaht ein fundamentaler Verrat an der natürlichen Ordnung der Dinge. Und gleichzeitig ist mir dieser steife Konservativismus suspekt. Natürlich ist etwa das Gleisdreieck, gleich neben den Yorckbrücken, das beste Beispiel dafür, wie man erneuern kann, ohne auszulöschen, wie man ein zweites, magisches Leben entstehen lassen kann, an einem Ort, der Jahre zuvor der Verwahrlosung anheim gefallen ist. Natürlich muss sich Berlin bewegen und mit der Zeit gehen. Aber doch bitte nicht an den Yorckbrücken!

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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