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Auf und ab. Die Stadt rollt, wie hier am Bahnhof Gesundbrunnen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Stadt in Bewegung: Berlins Rolltreppen: Im Dauerlauf

Auf der Rolltreppe bietet der Mensch das Drama seiner Existenz als Schauspiel dar. Den Kampf zwischen Fortschritt und Abstieg. Eine Stadtreise auf bewegten Wegen.

Ich stieg am Hauptbahnhof aus. Wenn Hauptbahnhöfe die Visitenkarte einer Stadt sind, dann war ich in einem gigantischen Kühlfach gelandet. Überall Glas, Stahl und Beton, zeit- und ausdruckslos, ein durchsichtiges Labyrinth von Rolltreppen, die wie Transportbänder einer Fabrik für Schaufensterpuppen wirken.“ So lässt der Schriftsteller Henning Boëtius seinen holländischen Kommissar Piet Hieronymus in dem Roman „Berliner Lust“ am Hauptbahnhof ankommen.

Tatsächlich kann man hier, wo 54 Rolltreppen ihren 24/7-Dienst tun, wo der Blick durch alle Geschosse streifen kann, ein unheimliches Schauspiel erleben: Auf der Rolltreppe wird der Mensch zum Unmenschen, weil sie ihn zum Ding macht, das nach oben oder unten fährt, reglos, aller Bewegungsimpulse, die ihn sonst auszeichnen, beraubt. Da steht er, die Hände auf dem Rücken gefaltet oder vor der Brust verschränkt, wie ein verschnürtes Paket, das zugestellt wird oder sich selbst zustellt. Der Mensch ist Paket und Bote, Ware und Lieferant zugleich.

Diese Doppelnatur macht den Unmenschen wieder zum Menschen, denn kein anderes Tier macht sich willentlich zum reglosen Ding. Die Rolltreppe ist also: Wille zum Ding und Unding. Doch diese widerstreitenden Haltungen führen gerade hier zum Rolltreppenkampf zwischen den Eiligen und den Entspannten, zwischen den Hastenden und den Innehaltenden, zum Kampf zwischen den Fortschrittsgläubigen und den Fortschrittsskeptikern. Auf der Rolltreppe tauschen die Ellenbogen Argumente, auf der Rolltreppe gibt der Mensch das Drama seiner Existenz als Schauspiel zum Besten.

Eine routinemäßige Wartung

Heute Nacht bin ich im Hauptbahnhof mit einem Wartungstrupp der DB Services verabredet. 22 Uhr, zwei Monteure sperren die Fahrtreppe 17.1. mit gelben Barrikaden ab. Es ist eine routinemäßige Wartung. Staub wird gesaugt, Lampen ausgetauscht, Teile geölt, Schrauben nachgezogen. Der größere der beiden Männer steht mir Rede und Antwort. Er ist Mitte zwanzig, wirkt aber älter, so als hätte ihn der Rolltreppendienst desillusioniert. Nicht weil die nächtliche Arbeit so anstrengend ist, sondern weil die Rolltreppe die Natur des Menschen offenbart. Der Mensch, sagt er, sei der schlimmste Feind der Rolltreppe, der Mensch ist das Problem. Der Mensch rennt, wo er stehen sollte, der Mensch macht Dreck, wo er sauber sein sollte, der Mensch verhält sich kindisch, wo er erwachsen sein sollte. Man kann Rolltreppen reparieren, den Menschen kann man nicht reparieren.

Treppengesang. Nachts hört man die Sinfonie der Rolltreppen am Hauptbahnhof deutlicher.
Treppengesang. Nachts hört man die Sinfonie der Rolltreppen am Hauptbahnhof deutlicher.

© Kai-Uwe Heinrich

Die meistfrequentierten Rolltreppen des Hauptbahnhofes sind sicherlich FT 25.1 und FT 25.2. , sie führen zu den S-Bahn-Gleisen 15 und 16. Ich verabschiede mich von den Monteuren, es ist nach Mitternacht. Man sieht kaum noch Reisende, dafür viele junge Männer mit zerschlagenen Gesichtern, mit Rucksäcken und Bierflaschen. Manche Rolltreppen schleichen im Energiesparmodus, andere stehen still, einige laufen unverdrossen. Ich fahre rauf und runter. Die maschinelle Unermüdlichkeit produziert Unheimlichkeit. Wir brauchen euch nicht, singen die Rolltreppen. Tatsächlich stoßen sie spitze Schreie aus oder klingen, als ob jemand einen schneidenden Ton auf der Querflöte bläst. Frühmorgens und nachts hört man die Sinfonie der Rolltreppen deutlicher, wenn die lärmenden Züge und die hallenden Lautsprecherdurchsagen fehlen.

Ich erinnerte mich daran, dass ich eines Morgens, es war kurz nach sechs, die Abfahrt meines Zuges nach Köln verpasste, weil ich von diesem polyphonen Treppengesang so fasziniert war, dass ich die Durchsage überhörte, mein Zug fahre auf einem anderen Gleis ab. Es war eine Mischung aus industriellen und urbanen Tönen, ein höheres Quengeln und Winseln, so als ob Beton und Stahl ihre erzenen Geister anriefen und sich gegen die weichfleischliche Menschheit verschworen hätten. Während ich wieder nach oben fuhr, weit und breit kein Mensch, sah ich plötzlich, wie mich die Rillen der Stufen lüstern ansahen, Zähne, mahlende Kiefer, gleich würde sich oben, an der Kammplatte ein Maul auftun und mich verschlingen. Ich rannte, wo ich nicht rennen sollte.

{Shimmy-Treppen und der Aufstieg in höhere Schichten}

Das große Aufwärtsversprechen

Bumper Harris fand im Jahr 1911 einen neuen interessanten Job. Die Londoner Verkehrsunternehmen stellten den Mann mit der Beinprothese an, damit er in der „Earls Court“-Station die frisch installierte Rolltreppe rauf und runter fuhr. Man wollte zeigen, seht her, wenn selbst der Einbeinige das kann, könnt ihr das auch. Die Rolltreppe war noch jung und exotisch. Im Kaufhaus „Harrod’s“ reichte man den Herren nach überstandener Fahrt einen Brandy, für die Damen hielt man – für den Ohnmachtsfall – Riechsalz bereit.

Ein ähnlicher Komfort ist für die ersten Berliner Rolltreppen nicht überliefert, aber tatsächlich standen an den Rolltreppen uniformierte Diener, die den unsicheren Fahrgästen assistieren sollten. Die erste viel bestaunte Berliner Rolltreppe fand sich im Dezember 1925 im Warenhaus Tietz an der Leipziger Straße. Auf dem Rummelplatz Lunapark in Halensee konnte man sich in diesen Jahren an der längsten Rolltreppe Europas erfreuen. Gleich daneben eine Wackeltreppe, die Shimmy-Treppe, die die Gäste durchschüttelte und mit einem Gebläse den Damen die Röcke hochwirbelte.

Die frühen Rolltreppen waren also ein Kuriosum und Faszinosum, Sehenswürdigkeiten und bald schon ein Aufwärtsversprechen. Auch das berühmte Lokal „Moka Efti“ an der Friedrichstraße, das erst jüngst ein Hauptschauplatz der Serie „Berlin Babylon“ war, prahlte mit einer der ersten Rolltreppen der Stadt. Um mehr Publikum in die Beletage zu saugen, wo man mit maurischen Bögen und orientalischen Gemälden ein Märchen von tausendundeiner Nacht inszenierte, hatte man zur Friedrichstraße hin eine Rolltreppe gebaut.

Jeden Tag wurden im „Moka Efti“ mehr als 25.000 Tassen Kaffee verkauft. Der hellsichtige Beobachter des Stadtraums Siegfried Kracauer analysierte: „Eine Rolltreppe, zu deren Funktionen es vermutlich gehört, den leichten Aufstieg in die höheren Schichten zu versinnbildlichen, befördert immer neue Scharen unmittelbar nach dem Orient, den Säulen und Haremsgitter markieren.“ Kracauer erkannte früh, dass die Rolltreppe nicht nur transportiert, sondern auch Wünsche artikuliert, wer sie betritt, unternimmt eine Reise, flieht den Alltag und wird mit Genuss belohnt.

Immer nur aufwärts, hieß auch das Credo am Hermannplatz in Neukölln, wo 1929 das modernste Kaufhaus Europas eröffnete. Auf 72.000 Quadratmetern Nutzfläche konnte man in Erlebniswelten eintauchen, die neun Etagen wurden durch 24 Rolltreppen verbunden. Der Clou: Die Treppen fuhren nur nach oben und erst eine Stunde vor Geschäftsschluss wurde die Fahrtrichtung umgekehrt.

Das Broken-Escalator-Phänomen

Auf der Rolltreppe am Bahnhof Zoo zu den S-Bahn-Gleisen 5 und 6 kann man es oft erleben. Die Rolltreppe (englisch escalator) ist kaputt, steht, aber dennoch ergreift uns ein leichter Schwindel, ein Taumeln, wenn wir die erste Stufe betreten. Schuld daran ist das Langzeitgedächtnis, das dem Gehirn signalisiert, es müsse sich nun auf eine fahrende Treppe einrichten. Unsere Muskeln spannen sich, unser Fuß sucht den Treppen-Fluss und findet den Stufenstillstand. Weil sich nicht bewegt, was sich sonst immer bewegt, geraten wir durcheinander. Das ist das Broken-Escalator-Phänomen.

{Horror im Tunnel, Zukunft im KaDeWe}

Horror

Sie stehen. Sie schweigen. Sie sind außer Dienst. Die Rolltreppen zur Unterführung zwischen dem S-Bahnhof Messe Nord/ICC und dem ZOB in Charlottenburg. Wer sie hinabsteigt, steigt über Leichen. Hier unten lässt Hollywood Albträume Gestalt annehmen, „Die Tribute von Panem: Mockingjay“ und andere Dystopien wurden hier realisiert. Beißender Uringeruch, da liegen Obdachlose auf feuchten Matratzen, der Wind schiebt eine Plastikfolie über die Platten. Zwei Skater lassen ihre Bretter knallen.

Außer Dienst. In die Unterführung am ICC kommt man nur zu Fuß.
Außer Dienst. In die Unterführung am ICC kommt man nur zu Fuß.

© Doris Spiekermann-Klaas

Einer von ihnen, große, eckige Brille, zeigt mir, wie man das Brett senkrecht so auf die Rolltreppenstufe stellt, dass man es, sobald man oben ist, lässig mit dem Fuß kippen und gleich losfahren kann: „Man will ja cool aussehen, oder?“ Auf den Stirnseiten der Stufen sieht man die eilig hingesprühten Tags. Jedes Graffiti ist eine Signatur im Transit: Ich war hier, bin auf dem Weg, rechnet mit mir. „Hoffentlich bleibt das alles so!“, sagt er und meint den Schimmel, den Staub, die Leere, die Abwesenheit von Glanz, Konsum und Massen.

Hier transformiert sich die Stadt zur Geisterstadt, Subkultur blüht, die Verwahrlosung ist schicker als der Schick in den Shoppingmalls, wo die polierten Schwestern dieser toten Rolltreppen Leben behaupten. Plötzlich springt eine der Leblosen sanft an und trägt mich jammernd nach oben. Der reinste Horror.

Weihnachten am Alexanderplatz

Ein zwei drei Punks kommen
mir auf der Rolltreppe entgegen
der größte ein schlaksiger
Typ mit blonden Zotteln
und Nasenring sieht mich
für einen Moment aus hellen
rotgeäderten Augen an
Ich liebe dich johlt er plötzlich
Ich dich auch rufe ich so
leichthin über die Schulter
Echt? Vernehme ich noch
dann bin ich in der S-Bahn
und er unten verschwunden

(Tanja Dückers, 2001)

Im Kaufrausch des Westens

Das KaDeWe ist das Kaufhaus für die, die nichts mehr brauchen. Hier kauft man das Unbrauchbare, hier erwirbt man das, was über das bloße Gebrauchtwerden hinausreicht, hier sucht man den Zipfel Luxus, das Stück Sehnsucht, das Päckchen Authentizität, das jeder braucht. Etwas ist schön, wenn es vom instrumentellen Gebrauchswert befreit ist, und die Rolltreppen sind die Anwälte des schönen Scheins.

Diese Philosophie macht man sich schnell zu eigen, wenn man Norman Plattner zuhört; er ist seit 2008 Head of Store Design & Visual Merchandising im KaDeWe Berlin, er ist also ein Bewusstseinsdesigner, er gestaltet die Schaufenster und Räume, mit denen das Kaufhaus in die Schaufenster unserer Seelen blickt. Norman Plattner hat ein Problem. Die Rolltreppen des KaDeWe sind keine großen Verführer, sie sind keine Wegweiser und Staranwälte des Konsums; sie halten keine verführerischen Kauf-mich-Plädoyers, weil sie die Waren weder dem Auge noch dem Bewusstsein erschließen, daher sind die Rolltreppen im KaDeWe rechte Winkeladvokaten, kümmerliche Taugenichtse.

Da die zentrale Rolltreppenanlage des Kaufhauses so weit hinten liegt, leistet sie keinen Orientierungsgewinn, eher stiftet sie Verwirrung. Wo bin ich? Wer will ich sein? Die Rolltreppen schweigen. Schlimmer noch, sie werfen den Kunden auf sich selbst zurück, da sie an beiden Seiten Spiegel haben, sodass das eigene Spiegelbild ins Unendliche geworfen und unendlich vervielfacht wird.

Wer ins Kaufhaus geht, will aber nicht zu sich selbst kommen, sondern erst mal ein anderes Selbst entdecken. Rem Koolhaas soll Abhilfe schaffen. Der niederländische Star-Architekt hat ein Konzept entwickelt, das die Rolltreppe, dieses radikale, aber auch unauffällige Stück Architektur, wiederentdecken und für das 21. Jahrhundert neu interpretieren will. Seine Entwürfe für das KaDeWe sehen vor, das Kaufhaus in vier gleichberechtigte Quadranten zu unterteilen, in dessen Zentrum jeweils ein Rolltreppenauge neue Erlebniswelten schafft.

Mal steigen die Rolltreppen wie in einer Spirale nach oben, mal kreuzen sie sich ungewöhnlich, jedes Atrium wird durch sie zum eigenen Schauspiel, vier Kaufhäuser stecken bald in einem. Plattner weiß: Raumdesign ist Gefühlsdesign, „Look and Feel“, heißt das. Der Akt des Kaufens muss im Akt des Erlebens untergehen, wer hier zahlt, kommt mit Erlebnishunger, sonst könnte er gleich im Internet ordern. Schließlich ist die Rolltreppe eine mächtige Verbündete im Kampf gegen die Online-Kaufhäuser, die uns niemals in den Himmel tragen werden können. Bis jedoch die neuen Gefühlsmasseure ihren rollenden Dienst antreten, wird es noch ein paar Jahre dauern.

Rolltreppenmax

Immer wieder montags
Geht Max ins Kaufhaus
Er lässt die Sau raus
Und dann macht er auf seine eigene Weise
Eine kleine Abenteuerreise

Rolltreppe runter, Rolltreppe empor
Hellblaue Mütze, Lutscher hinterm Ohr
Küsschen an der Kasse
Und als Souvenir
Eine Rolle Klopapier!

(Bummelkasten, 2017)

{Vernarbte Stufen am Hermannplatz}

Die Proletarische

Ihr Handlauf ist narbig, voller Schnitte, Risse, sie ist die Schwerstarbeiterin der Stadt, die Rolltreppe am Hermannplatz zwischen dem unteren Bahnsteig der U 7 zum oberen Bahnsteig der U 8. Sie ist dreckig, voller Graffiti, hier trampeln alle besonders achtlos und aggressiv auf ihr rum, sie ist sterbensmüde, oft steht sie still, Rumpel-Queen. Am anderen Ende des Bahnsteigs geht’s aufwärts zu Karstadt.

Am Übergang vom Tiefgeschoss zum Untergeschoss – wo die Lebensmittelabteilung ist – steht ein Obdachloser und verkauft die „motz“. Der Mann hat eine blau schimmernde gezackte Narbe auf der Stirn. Warum steht er hier in der Nähe der Rolltreppe? „Ich steh nah an den Kassen. Überall, wo Geld gewechselt wird, wo Kleingeld klingelt, ist es gut.“ Ob er eine Rolltreppengeschichte für mich hat? „Ich habe 15 Jahre in Südostasien gelebt. Da stehen sie auf der Treppe dicht an dicht. Man achtet auf sich und aufeinander. Der Deutsche achtet zwar auf Distanz, aber wirklich achtsam und aufmerksam ist er nicht, es fehlt Distanzkultur.“

Rumpel-Queen. Am Hermannplatz verbindet eine vernarbte Rolltreppe die Bahnsteige der U7 und U8.
Rumpel-Queen. Am Hermannplatz verbindet eine vernarbte Rolltreppe die Bahnsteige der U7 und U8.

© Doris Spiekermann-Klaas

Er spricht wie ein Soziologe. „Der Deutsche träumt auf der Rolltreppe. Der Rumäne weiß das, überall, wo Drama ist, Schauspiel, da ist der Rumäne nicht weit. Nirgendwo ist das Portemonnaie so leicht verschwunden wie auf der Rolltreppe.“

Ich nehme die Rolltreppen nach oben. Am Fuß der Anlage spielt eine Schaufensterpuppen-Familie Ostern. Die bleichen Osterhasen haben keine Augen, aber erigierte Löffel. Mintfarbene Frühlingsexzesse, messerscharfe Narzissen, Tulpen wie Sprengköpfe. Je höher ich fahre, desto leerer wird das Kaufhaus. Die Rolltreppen dirigieren meinen Blick, aber das Ergebnis ist verheerend für die Designer des Bewusstseins.

Die Enge, die Dichte, die unmittelbare Nachbarschaft völlig gegensätzlicher Waren lässt selbst teure Dinge, billig aussehen, Ramschfahrt. Die letzte Rolltreppe schiebt mich vor das historische Modell des einst so stolzen und fortschrittlichen Kaufhauses. Wie kann es sein, denke ich, dass das Berlin des frühen 21. Jahrhunderts architektonisch so dramatisch hinter das Berlin des frühen 20. Jahrhunderts zurückfällt?

"Hamse mal ... ich brauch ... es is eilig!“ Der hagere Mann – roter Blouson, zwei grüne Leinbeutel – hält mir flehend die Hand entgegen. Ich gebe ihm 50 Cent. Er nickt, hastet weiter. Er jagt die Rolltreppe runter, spricht jemanden im 3. Stock an, dann wieselt er weiter, dasselbe Manöver im 1. Stock. Schließlich landet er unten bei der Puppenfamilie und zählt das Geld. Dann kehrt er um und lässt sich wieder langsam in die Höhe tragen.

Galeria Kaufhof

Sie ist, ganz ohne jeden Zweifel, die beeindruckendste Rolltreppenanlage der Stadt: Man findet sie in der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz, dem früheren Centrum Warenhaus. Ich komme mit einer Verkäuferin ins Gespräch. Sie hat hier schon vor 1989 gearbeitet, damals sei die Rolltreppe nicht so zentral positioniert gewesen.

Ob sie sich an Unfälle oder andere Begebenheiten erinnert? „Ich höre die Hunde. Es kam häufiger vor, dass sich die Hunde die Pfoten quetschten. Dann hörte man immer so ein Jaulen, das ging durchs ganze Haus. Und einmal, jetzt wo sie fragen, stand ’ne Dame mal untenrum nackig da. Sie trug so ein Kleid mit langen Fransen und die gerieten dann zwischen die Stufen und als sie oben ankam, riss die Treppe ihr das Kleid herunter.“

Die 20 Rolltreppen haben eine Länge von jeweils 24 Metern. Auffällig ist der sehr lange Einstieg und der ebenso lange ungewöhnliche Ausstieg. Die Treppen gehören zu den längsten freitragenden Warenhaustreppen der Welt. Stellt man sich auf eines der oberen Stockwerke und schaut dem Schauspiel zu, kann man sich widerstreitender Gefühle nicht erwehren.

Freischwebend. In der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz haben die Rolltreppen einen großen Auftritt.
Freischwebend. In der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz haben die Rolltreppen einen großen Auftritt.

© Thilo Rückeis

Der Anblick ist erhaben und erschreckend zugleich, man fühlt sich erhoben und zermalmt. Woran liegt das? An der Größe, ja sicher, und an der zentralen Stellung; während die Galerie Lafayette oder das KaDeWe ihre Rolltreppen fast schamhaft verstecken, machen diese hier großes Theater und öffnen das innere Auge. Während die Waren bei Karstadt am Hermannplatz aneinander ersticken und billig wirken, dürfen sie hier atmen und ihre Präsenz entfalten. Während die Rolltreppen in Neukölln den Dingen die Sprache verschlagen, dolmetschen sie hier ihre Verheißungen.

Es ist, als blicke man dem System ins Herz, es ist, als ob sich der Kapitalismus als Umschlagplatz von Waren offenbare, als begriffe man plötzlich, dass der Mensch selbst nur eine Ware ist, die benötigt wird, um die Rolltreppen zu betreiben. Hier tut sich ein Riss auf, eine existenzielle Tiefe, die jeden Menschen zur Ameise macht, wo er doch ein Abenteurer sein will oder zumindest ein individuelles Ich.

Ist es Zufall, dass sich hier in den vergangenen Jahren zwei Menschen in diese schwindelerregende Tiefe gestürzt haben? Andererseits kann man der Architektur eine euphorisierende Aura nicht absprechen. Mithilfe der Rolltreppen inszeniert das Warenhaus die Dinge, es wird zum Erlebnispark, die Einkaufstour wird zur Safari, wo der Kunde seinen Abenteuerdurst und „Erfahrungshunger“ stillt, indem er zukünftige Ich-Kreationen entwirft.

Es ist zuerst das Auge, das alles verzehrt, das sich die Waren schon einverleibt, während es langsam nach oben fährt. So potenziert die Rolltreppe den Perspektivenreichtum, der Blick wird aufgeputscht, denn der Kunde taucht in wechselnde Lebensfilme ein, er ist Regisseur, Kamera und Schauspieler in einer Person. Der Kunde blickt aber auch in das Leben der anderen. Man sieht einander beim Suchen und Finden zu, man erlebt den einkaufenden Mitmenschen als Identitätsreisenden, denn auf der Rolltreppe fahren alle zu sich selbst und von sich selbst weg.

Manchmal ist unklar, wo der Mensch aufhört und die zahlreichen Schaufensterpuppen beginnen. Die Rolltreppen kommunizieren mit den Schaufensterpuppen, die auf jeder Etage alle möglichen Lebens- und Verhaltensformen ausüben und so das innere Wunschgelände des Kunden formen, gestalten. Die Schaufensterpuppen sind Architekten der Sehnsucht: Da stehen goldene Frauen in erotisierender Unterwäsche, dort meditiert eine im Schneidersitz, andere joggen wie Superathletinnen, ein Muskelmann offeriert einen Trainingsanzug, Kinder fahren Ski, werfen Schneebälle, ein Fußballer schießt formvollendet, da räkelt sich eine Morgenmantelträgerin und ein Anzugmann erobert die Geschäftswelt. Jede Puppe ist ein Powerzentrum und wir fahren an ihnen vorbei und hören: So sollst du sein, mach mit, hak dich unter, verwandele dich in unseresgleichen. Doch je mehr wir diesen Glücksversprechen lauschen, desto deutlicher fesseln sie uns an die Endlichkeit.

Krähenüberkrächzte Rolltreppe

Die fünftägige Sitzung
Ein sechswöchiger Aufenthalt
Die vierteljährliche Frist
Und alle drei Stunden
Zwei Löffel Rhabarbersaft
Das mindestens braucht es
mein Lebensgefühl
Mamma Mamma Mamma
ach Mamma
Und hilft irgendwie
sozusagen vorwärts
ja vielleicht sogar weiter
– (All die Gedanken an die Ewigkeit
nicht zu vergessen.)

(Adolf Endler, 2007)

{Gibt es einen Friedhof für Rolltreppen?}

Golden Curls

Im Alexa am Alexanderplatz wirft die Rolltreppe den Kunden direkt in die Scheren und Kämme eines Frisörsalons: Golden Curls. „Einmal Waschen, Föhnen? Spitzenschneiden?“

Die Bundespolizei informiert

Rolltreppen-Trick: Rolltreppen bieten verschiedene Möglichkeiten für Trickdiebe, zum Beispiel:

Ein Täter stellt sich auf der Rolltreppe hinter sein Opfer, ein Mittäter stellt sich davor. Am Ende der Rolltreppe erzeugt der vordere Täter einen „Stau“ – das Opfer läuft auf. Dieses ermöglicht dem Mittäter hinter dem Opfer, die Geldbörse aus der Handtasche zu nehmen.

Ein Täter stellt sich auf der Rolltreppe hinter sein Opfer. Der Mittäter löst den Nothalt der Rolltreppe aus. Das ruckartige Stehenbleiben der Rolltreppe gibt dem Taschendieb die Möglichkeit, den Diebstahl unbemerkt auszuführen.

(Quelle: www.bundespolizei.de)

Simulanten

Im Forum Steglitz, eines der ersten Einkaufscenter der Bundesrepublik, trifft man auf Rolltreppen, die unentwegt Betrieb vortäuschen, wo gar kein Betrieb ist. Am Fuß der Rolltreppen sitzen Rentner, Arbeitslose oder Müßiggänger in Cafés, die aussehen, als seien sie aus der Zeit gefallen. Sind die Gäste echt? Oder sind sie Angestellte der Malls, die Kaffeetrinker spielen?

Sie sitzen da im Energiesparmodus, nur selten regt sich ein Arm, greift eine Hand zu, schwebt eine Kaffeetasse in Zeitlupe zum Mund. Die Konsumdarsteller wirken, als hätten sie den Schwindel längst durchschaut. Kein Kauf führt ins Paradies, auch wenn die Rolltreppen das Gegenteil behaupten. Und die Kaffeetrinker, wie sie dort sitzen, sehen mit unerbittlich erloschenen Augen, dass sich am Fuß jeder Rolltreppe ein Friedhof auftut und wächst und wächst, all die schönen Leichen, all die toten Versprechen.

Fahrtreppen-Weltstadt

Die fünf größten und bekanntesten Rolltreppenhersteller sind OTIS GmbH & Co. OHG mit Sitz in Berlin, ThyssenKrupp Fahrtreppen GmbH (Hamburg), Schindler Deutschland GmbH (Berlin), KONE GmbH (Hannover) und Geyssel Fahrtreppenservice GmbH (Köln). Auf Anfrage lässt Mathias Musculus, Leiter der Großprojekte bei Otis Deutschland, mitteilen: „Aus Sicht von Otis ist Berlin eine Art Fahrtreppen-Weltstadt. In unserer Fertigung in der Otisstraße in Berlin-Tegel werden Steuerungen für Verkehrsfahrtreppen gefertigt, die weltweit bei Infrastrukturprojekten zum Einsatz kommen. Eines der prominentesten Beispiele ist ein umfangreiches Erneuerungsprojekt für die London Underground, die älteste U-Bahn der Welt.“

Ungesundbrunnen

Sie gilt als längste Rolltreppe der Stadt. U-Bahnhof Gesundbrunnen. Sie lohnt die Reise nicht. Sie ist genauso lang wie öde. Hier treten Menschen Menschen in die Tiefe und so düster und bedrückend sieht es hier aus.

Berlin

Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein,
ich steig aus, gut wieder da zu sein.
Zur U-Bahn runter am Alkohol vorbei,
Richtung Kreuzberg, die Fahrt ist frei,
Cottbuser Tor, ich spring' vom Zug,
zwei Kontrolleure ahnen Betrug.
Im Affenzahn die Rolltreppe rauf,
zwei Türken halten die Beamten auf.

(Ideal, 1981)

Die letzte Ruhe

Er ist die Hebamme, und er ist der Bestatter. Seit 35 Jahren montiert und demontiert José Barros Gonzalez Rolltreppen, die man in seiner Branche Fahrtreppen nennt. Der kräftige Mann ist Geschäftsführer von Stoppel & Barros, einer Firma, die auf schwere Lasten spezialisiert ist. Aufgewachsen ist er in Kreuzberg. Klar, als Kind ist er mal entgegen der Fahrtrichtung die Rolltreppe nach oben gelaufen, „haben wir doch alle gemacht“, aber heute lässt er auf jeder Baustelle Vorsicht walten.

Wir beugen uns über das Loch in der Rolltreppe. U-Bahnhof Altstadt Spandau. Die Treppe ist durch, hinüber. Rolltreppendemontage ist Schwerstarbeit. Von der aufgesägten Decke hängen schwere Züge herab, mit denen die in vier Teile zerlegte Treppe hochgehoben und abtransportiert wird. Man arbeitet nachts. „Jede Baustelle ist anders“, sagt Barros und so sammelt sich über die Jahre ein Erfahrungswissen, das kein Ausbildungsgang vermittelt.

Glas und Stahl. Am Potsdamer Platz regiert die Moderne.
Glas und Stahl. Am Potsdamer Platz regiert die Moderne.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nach der Wende haben Barros und seine Firma neue Rolltreppen in den Ost-Berliner Geisterbahnhöfen installiert und auch die spektakulären Treppen im Berliner Hauptbahnhof hat er eingesetzt. Aber Barros macht kein Aufhebens davon, genauso wenig brüstet er sich damit, Deutschlands derzeit prominenteste und schönste Rolltreppe montiert zu haben: die sich wölbende Rolltreppe in der Hamburger Elbphilharmonie.

Und wie ist es um die Berliner Rolltreppen bestellt? Er und seine Teams installieren Rolltreppen im gesamten Bundesgebiet. In Berlin beobachte er mehr Verwahrlosung im städtischen Raum und das betreffe eben auch die Rolltreppen. Gibt es einen Friedhof für Rolltreppen? Die Frage kommt ihm seltsam vor. Fahrtreppen werden demontiert, zerlegt, abgefahren und dann dem Recycling zugeführt. So landen die Rolltreppen etwa auf dem Schrottplatz der TSR im Westhafen, wo sie ihre letzte, wo sie keine Ruhe finden.

Abstiegsgesellschaft

Die Stadt boomt und mit ihr die Rolltreppen, aber auch sie werden sich verändern müssen, wollen sie nicht ins Hintertreffen geraten. Bloßes Transportmittel sind sie schon lange nicht mehr. In der Mall of Berlin am Leipziger Platz rollt die neueste Erlebnisgeneration. Sie wirken wie Möbel, mit Leuchtdioden an der Unterseite, sie führen an Fotowänden vorbei, die das hier früher ansässige Kaufhaus Wertheim zeigen, und am Fuß jeder Treppe glänzt ein historisches Zitat von Willy Brandt, Angela Merkel, John F. Kennedy auf Messing. Das sind historische Reminiszenzen, die ahnen lassen, dass ihre Designer verzweifelt um Aufmerksamkeit ringen im Meer der Ununterscheidbarkeit.

Und die Rolltreppe als Metapher? Sie galt Siegfried Kracauer Aufstiegsversprechen, jetzt deuten sie Soziologen wie Hartmut Rosa oder Oliver Nachtwey als Sinnbild der „Abstiegsgesellschaft“. Wir müssen, um unseren sozialen Status zu halten, eine Rolltreppe, die nach unten fährt, immer schneller nach oben rennen. Sonst, so die Drohung, befördert sie uns unweigerlich in die Abstellkammer, ins gesellschaftliche Aus. Und das, was uns als Kindern Spaß machte, mit voller Kraft gegen die Laufrichtung zu rennen, wird nun zum unaufhörlichen Albtraum.

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