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Marion Brasch, Hörfunkjournalistin und Schriftstellerin, in ihrem alten Kiez.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spaziergang mit Marion Brasch: Sekunden eines Lebens

Schriftstellerin, Radiomoderatorin, Kind einer zerrissenen DDR-Familie: Ein Spaziergang mit Marion Brasch durch die Plattenbauten ihrer Kindheit am Alex.

Ob sie heute noch herziehen würde? Marion Brasch steht an der vielbefahrenen Alexanderstraße zwischen Alexa und Kongresszentrum und schaut an einem Plattenbau hoch. „Zentral gelegen, und innen ganz schön“, sagt sie. „Hier auf der Wiese hab’ ich früher immer Wiesenchampignons gesammelt und die oben in meiner Puppenküche gebraten.“ Zweiter Stock, vier Zimmer, himmelblauer Balkon mit direktem Blick auf den Alex – hier verbrachte Marion Brasch die ersten zehn Jahre ihres Lebens.

Geboren wurde die Schriftstellerin und Radiomoderatorin 1961 in Ost-Berlin. In Kürze erscheint ihr viertes Buch „Lieber woanders“ im Fischer-Verlag, eine Art Spin-Off ihres letzten Romans „Wunderlich fährt nach Norden“. Doch viele Berliner kennen vor allem ihre Stimme, seit 1997 moderiert sie bei Radioeins, und mit dieser warmen, sympathischen Stimme mit dem unverkennbaren Berliner Einschlag überlegt sie nun laut, wann genau ihre Familie hier eigentlich einzog, 1961 oder ’62, Erstbezug.

Begehrte Wohnungen seien das gewesen, hier lebten vor allem SED-Funktionäre – ihr Vater Horst Brasch war stellvertretender Minister für Kultur. Auch Künstler wie der Filmemacher Konrad Wolf gehörten zu den Nachbarn, „aber auch ganz normale Familien, die Kinder waren ja in meiner Schule.“

„Sehen noch genauso aus wie früher“

Wie die ganze Siedlung scheinen auch die Betonplatten auf ihrem alten Schulweg den Jahren getrotzt zu haben. „Sehen noch genauso aus wie früher“, sagt Marion Brasch. Die kleine Alexanderstraße entlang, vorbei am Spielplatz, der damals ganz andere Gerüste hatte, sie erinnert sich: ein Kletterkamel, eine Schaukel, so ein Würfel-Dings.

An der Ecke Jacobystraße zerfetzt ein Schwarm Krähen eine Tüte Yum-Yum-Nudeln. Marion Brasch zückt ihr Telefon und fängt an zu filmen. „Eine Art Tagebuch“, erklärt sie. Sie sammelt Sekunden, jeden Tag eine, die eine App dann aneinanderfügt. „Ich weiß dann genau, was an dem Tag passiert ist und wie ich mich gefühlt habe.“ Werden die Krähen die Sekunde des Tages? „Mal sehen, Vögel haben immer großes Potential.“ Sie lächelt. Es steht ihr sehr gut, dieses Lächeln, unprätentiös ist es wie die ganze Marion Brasch.

Weshalb die Eltern damals herzogen? Sie weiß es nicht. Auch nicht, ob ihr 16 Jahre älterer Bruder Thomas – wie die beiden anderen Brüder Klaus und Peter Künstler und Widerständler und früh auf tragische Weise gestorben – noch mit einzog. „Das gehört zu diesen Fragen, die ich erst hatte, als sie mir keiner mehr beantworten konnte.“

Es gibt viele dieser Fragen, die keine Akte, kein Film – im August kam die Doku „Familie Brasch“ von Annekatrin Hendel in die Kinos – abschließend klären kann. Marion Brasch kann sich nur auf ihr Gefühl verlassen. Dieser eine Tag im August 1968 etwa, nachdem der 23-jährige Thomas mit anderen Dissidenten Flugblätter gegen den Einmarsch in Prag verteilt hatte.

Journalistin Marion Brasch, 1961 in Ost-Berlin geboren.
Journalistin Marion Brasch, 1961 in Ost-Berlin geboren.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Thomas versteckte sich zunächst, kam dann aber nach Hause“, erinnert sich die Schwester, damals sieben Jahre alt. „Du musst dich stellen“, verlangt der Vater. „Das kann ich nicht“, antwortet der Sohn, „schon gar nicht, wenn Du mich bittest.“

Wenig später nimmt die Stasi Thomas in der elterlichen Wohnung fest. Hatte Horst Brasch kurz zuvor wirklich, wie es Thomas zeit seines Lebens erzählte, in einer Telefonzelle den verräterischen Anruf getätigt? „Ich weiß nicht“, sagt Marion Brasch. „Im Arbeitszimmer stand auch ein Telefon, er hätte gar nicht aus dem Haus gemusst. Und ich erinnere mich auch an keine Telefonzelle in der Nähe.“ Schlimm genug außerdem, dass der Vater den Sohn nicht schützte, auch das sei Verrat. Aber ihn bewusst denunzieren? „Ich kann mir das nicht vorstellen.“

"Ich war immer eher Durchschnitt"

Der Vater wird für anderthalb Jahre an die Parteihochschule in Moskau geschickt, der Rest der Familie bleibt am Alex wohnen. „In dieser Zeit blühte meine Mutter richtig auf.“ Gerda Brasch, wie ihr Mann aus einer jüdischen Familie stammende Exil-Kommunistin, habe ihren Mann geliebt, sei ihm klaglos immer gefolgt. „Aber nie als das Opfer, eher mit Würde. Sie stellte ihre Wünsche stets an zweite Stelle, hinter den 'großen Plan'.“

In der Singerstraße steht Marion Brasch dann auf ihrem ehemaligen Schulhof. Heute Max-Planck-Gymnasium, früher Ernst-Wildangel-Oberschule, mit erweitertem Russischunterricht. „Wer begabt genug war, hatte bereits ab der dritten Klasse Russisch. Ich nicht, ich war immer eher Durchschnitt.“ An der Fassade ballspielende Kinder, Relikte sozialistischer Alltagsromantik.

Die erste bis vierte Klasse verbrachte sie hier, 1971 dann der Einschnitt. Horst Brasch wurde nach seiner Rückkehr aus Moskau versetzt, die Familie zog nach Karl-Marx-Stadt. Marion Brasch sagt ganz selbstverständlich Karl-Marx-Stadt, der Name Chemnitz fällt nicht ein Mal.

Wurde der Vater strafversetzt? „Das ist meine Interpretation“, sagt die Tochter, in den Akten steht nur: „Genosse Brasch wird ab dem soundsovielten zweiter Sekretär der Bezirksleitung in Karl-Marx-Stadt.“ Aber er habe das mit Gleichmut hingenommen, wie alles, auch dieses Verstoßenwerden von seiner geliebten Partei und die Zeit in Moskau. „Er stellte die immer als Auszeichnung dar, dabei ist das doch eine logische Konsequenz: Dein Sohn hat Mist gebaut, also musst Du erstmal weg.“

Route des Kiezspaziergangs durch Mitte (Grafik anklicken zum Vergrößern).
Route des Kiezspaziergangs durch Mitte (Grafik anklicken zum Vergrößern).

© Tsp/Klöpfel

Erst nach einem Selbstmordversuch holte ihn die SED-Familie wieder nach Berlin und ließ ihn das tun, was er am besten konnte, sagt Marion Brasch: „Durch die Welt fahren und erzählen, wie toll die DDR ist.“ Als Vizepräsident der Liga für Völkerfreundschaft blühte er auf, in dieser Phase in den 70ern, in der die DDR anerkannt wurde und überall Botschaften entstanden.

Karl-Marx-Stadt statt Chemnitz

In der Michaelkirchstraße zeigt sie auf einen unscheinbaren Bürobau. „Hier habe ich Schriftsetzer gelernt“, Berufsschule „Rudi Arndt“ für Drucktechnik, der Bau im Innenhof sieht noch aus wie damals. Diese Zeit gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben, sagt sie. „Ich war endlich zurück in Berlin, lernte neue Leute kennen und war weg aus Lichtenberg, wo wir ab 1975 in einer Platte in der Leninallee wohnten – heute Landsberger.“ Nach der Ausbildung arbeitete sie zwei Jahre beim Neuen Deutschland, machte nebenbei Musik und landete 1987 beim Jugendradio DT64.

Eine ganz normale Laufbahn, könnte man sagen. Unnormal für den Spross einer Familie aus linientreuen Eltern und drei Brüdern, die sich allesamt in der von der Stasi kritisch beäugten Kulturszene etablierten. Ihre Rolle sieht sie im Rückblick als familiärer Blitzableiter. „Ich war lieb und habe funktioniert. Ich war ein kleines Kind und wollte, dass sie aufhören zu streiten.“ Ständig habe es Krach gegeben, politische Diskussionen, die meist ins Unsachliche abglitten. „Immer knallten Türen, und ich wollte einfach nur meine Ruhe.“

„Ab jetzt ist Ruhe“, heißt ihr 2012 erschienener autobiografischer Roman – betitelt aber nach einem Ritual der Mutter, mit dem sie ihre Kinder ins Bett brachte. „Manche sehen in dem Roman eine Selbsttherapie, aber ich habe nicht das Gefühl, traumatisiert zu sein. Ich habe das Buch geschrieben, um zu verstehen. Mein Vater hat ja nicht geredet.“ Über das Exil in England, ja, und wie er mit Erich Honecker die FDJ gründete. Aber nie darüber, wie es ihm ging. „Als Jude zum Katholizismus und dann zum Kommunismus konvertiert – die Partei war seine Religion, ihr unterwarf er sich.“ Wenige Monate vor Mauerfall starb er, längst verwitwet, in seiner winzigen Lichtenberger Wohnung. „Er war überzeugt, mehr stehe ihm nicht mehr zu.“

Auf der Michaelbrücke bleibt sie stehen. Die Sonne scheint, ein paar Möwen fliegen über die Spree. Marion Brasch zückt ihr Handy. „Das wäre jetzt so eine Sequenz“, sagt sie, „die Sekunde des Tages, Du stehst grad so gut. Wenn du nichts dagegen hast?“

„Lieber woanders“ erscheint am 27. 2. im Fischer-Verlag. Buchpremiere: 28.2., 20 Uhr, Haus des Rundfunks. Hörbuchpremiere mit Jasna Fritzi Bauer: 11.3., 20 Uhr, Pfefferbergtheater.

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