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Besuch mit Sicherheitsabstand - so gibt es kein Corona-Übertragungsrisiko.

© Christophe Gateau/dpa

Sorge vor Coronavirus in Berlin: Mehr als 300 Infektionen in Berliner Pflegeheimen bekannt

Sie sind alt, und sie sind in Sorge: Bewohner von Pflegeheimen sind besonders gefährdet, einer Krankheit zu erliegen - was Experten jetzt fordern.

In Berlin sind nach Auskunft der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung in den Pflegeheimen der Stadt 208 Infektionen bei Bewohnern gemeldet worden – hinzu kommen 117 Infektionen beim Personal. 50 Einrichtungen seien betroffen, bislang sind 50 Todesfälle erfasst, wie ein Sprecher auf Anfrage am Dienstag mitteilte.

Bei einer Seniorenwohnanlage im Lichtenberger Ortsteil Fennpfuhl waren mehr als zwei Dutzend Bewohner positiv getestet worden, die Feuerwehr hatte es Ende April in einer nächtlichen Aktion geräumt. Das Landeskriminalamt ermittelt in dieser Sache. „Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass hier unter Umständen die Misshandlung von Schutzbefohlenen oder die Freiheitsberaubung vorliegen könnte“, sagt ein Sprecher. „Es besteht der Verdacht, dass einzelne Bewohner dieses Wohnheims sich gegen ihren Willen in Räumen aufhalten mussten.“ Laut Bezirk dürfen nun seit dem 5. Mai alle Bewohner, die negativ getestet wurden, in ihre Wohnungen zurückkehren.

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Besonders schlimm hat es auch das zum Diakoniewerk Simeon gehörende Hermann-Radtke-Haus in Britz getroffen: 26 Bewohner haben sich dort bislang infiziert, drei sind aktuell noch erkrankt. Neun Bewohner verstarben allerdings, wie die Geschäftsführerin Marion Timm mitteilte. Beim Personal hatten sich 14 Personen infiziert, drei sind genesen und arbeiten wieder. „Gut ist, dass die eingeschränkte Quarantäne für die Mitarbeitenden aufgehoben wurde“, sagt Timm: Auch das nicht erkrankte Personal hatte sich vorübergehend isolieren sollen, um weitere Infektionen in dem Pflegeheim zu verhindern. „Nach wie vor ist das Gesundheitsamt natürlich eingebunden.“

Es startete wohl bei einer Kegel-Veranstaltung

Vermutlich nahm der Ausbruch bei einer Kegel-Veranstaltung am 13. März seinen Ausgang, bei der ein inzwischen verstorbener infizierter Ehrenamtler teilgenommen hatte. Dies wurde erst anderthalb Wochen später bekannt, zwei Wochen nach der Veranstaltung war das Gesundheitsamt vor Ort und verfolgte die Infektionsketten. Auch durch weitere Testungen in dem Heim habe der Ausbruch „ganz hervorragend“ eingedämmt werden können, sagte ein Sprecher des Neuköllner Gesundheitsstadtrates Falko Liecke. Das Gesundheitsamt habe erst sehr spät von den Infektionen erfahren – doch gerade noch rechtzeitig, da Kontakte nur über zwei Wochen zurückverfolgt würden.

Auch andere Pflegeheime hatten größere Ausbrüche zu verzeichnen – so das Johanniter-Stift Berlin-Tegel. Drei Bewohner verstarben, andere mussten auch aufgrund von Vorerkrankungen im Krankenhaus behandelt werden. Drei Bewohner befinden sich derzeit zur Quarantäne in der Einrichtung. „Ihr Zustand ist stabil“, sagte eine Sprecherin am Dienstag. Kein Bewohner sei mehr im Krankenhaus. Von den infizierten Mitarbeitenden seien sechs Personen wieder genesen und nach negativem Testergebnis zurück im Dienst, zwei Mitarbeitende befänden sich noch in häuslicher Quarantäne. „Es ist uns gelungen, das Virus zunächst weitgehend einzudämmen“, sagt die Sprecherin. „Wir gehen aber davon aus, dass wir unsere Schutz- und Präventivmaßnahmen über die nächsten Monate beibehalten müssen.“

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Für die alten Menschen ist das hart, viele Bewohner von Pflegeeinrichtungen durften zum ersten Mal im Leben den Ehepartner nicht mehr sehen.

Mehrere große Pflegeheimbetreiber haben keine Ausbrüche zu verzeichnen. So dass Unionhilfswerk – in vier Pflegewohnheimen und dem ambulanten Dienst sei von keinem der rund 500 Bewohner beziehungsweise der ungefähr 800 zuhause aufgesuchten Klienten eine Infektion gemeldet worden, nur ein Mitarbeiter hatte sich angesteckt. „Er ist wieder genesen und wieder im Dienst“, erklärt eine Sprecherin. „Wir führen keine eigenen Tests durch, arbeiten aber mit Hausärzten und Gesundheitsämtern eng zusammen.“

Trotz gelockerter Besuchsregel Ansteckungen weiter vermeiden

„Weiterhin ist keine unserer Berliner Einrichtungen von einer Covid-19-Infektion betroffen“, erklärt eine Sprecherin der Korian-Gruppe, einer von Deutschlands größten Pflegeheimbetreibern. Auch angesichts der aktuellen Lockerungen des Besuchsverbot müsse weiter genau darauf geachtet werden, Ansteckungen zu vermeiden. „Wir haben ein Besuchs-Konzept erstellt, das die Einrichtungen individuell anpassen und mit den Behörden abstimmen“, sagt die Sprecherin – vorerst würden die Besuche auf nahestehende Angehörige oder enge Bezugspersonen beschränkt.

In zwei der von Vivantes betriebenen Heime seien die Bewohner und Mitarbeiter getestet worden, erklärt der kommunale Konzern, weitere Heime sollen in den kommenden Wochen folgen. Insgesamt haben die Heime von Vivantes rund 2.300 Plätze, circa 1.500 Mitarbeiter arbeiten dort. „Bislang fielen alle Tests negativ aus“, erklärt eine Sprecherin.

Die sozial- und pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Fatos Topaç, hatte gefordert, dass alle Bewohner von Pflegeheimen und Seniorenwohnanlagen in Berlin auf Covid-19 getestet werden. „Dann haben wir einen genauen Überblick und können über individuelle Schutzmaßnahmen gegen das Virus entscheiden“, sagte sie vor zwei Wochen.

Deutschlandweit 14000 Bewohner infiziert

In ganz Deutschland haben sich nach den vom Robert-Koch-Institut erfassten Meldezahlen bislang knapp 14.000 Bewohner von Pflege- und Behinderteneinrichtungen, anderen Unterkünften und Gefängnissen infiziert – sowie gut 8.000 Mitarbeiter. Mehr als 2.700 der Bewohner sind demnach bislang verstorben, was gut ein Drittel aller in Deutschland bekannten Todesfälle ausmacht. Und mindestens 37 Mitarbeiter.

Grüne fordern Landespflegekammer

Unterdessen forderte Fatoş Topaç, Sprecherin für Pflegepolitik der Berliner Bündnisgrünen, zum Internationalen Tag der Pflegenden in dieser Woche, der Arbeitsschutz müsse endlich mehr eingehalten werden, indem Personaluntergrenzen, Pausen- und Erholungszeiten wieder eingesetzt werden. Pflegepersonal müsse durch "reibungslose Kinderbetreuung und Entlastungen im Alltag" unterstützt werden, ausreichend und qualitativ hochwertige Schutzausrüstung bereitgestellt werden.

Zudem solle eine Pflegekammer im Land Berlin als starke Selbstvertretung wirken und ein Mitspracherecht ermöglichen. Tarifverträge, höhere Einstiegsgehälter, die Akademisierung und Digitalisierung seien zudem nötig.

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Auch die geistliche Gemeinschaft Sant’Egidio, die bundesweit, aber auch in Berlin alte Menschen in Pflegeheimen ehrenamtlich besucht, kritisierte auch anlässlich des Internationalen Pflegetages "die Entscheidung, viele schwache und anfällige alte Menschen an einem Ort, im Pflegeheim", zu konzentrieren. Stattdessen sollten mehr Wohngemeinschaften, kleine Wohngruppen und eine umfängliche Pflege zu Hause finanziell ermöglicht werden. "Die Generation der Älteren, die mit ihrer Lebensleistung die Grundlage für unseren Wohlstand geschaffen hat, hat es verdient, dass unsere Gesellschaft neue und bessere Ideen für ein Altwerden in Würde entwickelt", sagte Sprecherin Susanne Bühl. 

Ärzte ohne Grenzen: An die Schwächsten denken

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hatte mehr Unterstützung für die Heime und ihre Bewohner gefordert, auch international. „Als Gesellschaft werden wir uns fragen müssen, warum Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen bei dieser Pandemie Priorität hatten und kaum an die Schwächsten gedacht wurde“, erklärt Ximena di Lollo in einem Statement – sie koordiniert Teams in mehr als 200 Alters- und Pflegeheimen in Spanien und in 20 Heimen in Portugal. „Das wird sich ändern müssen.“ Zu viele Menschen seien allein und verängstigt gestorben, sagt Ximena di Lollo. (mit kög)

Hinnerk Feldwisch-Drentrup

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