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Wieviele Ratten es in Berlin gibt, weiß keiner so genau.

© picture alliance / dpa

Sommerserie: Auf der Fährte: Die Ratten: Berlins größte Untergrund-Bewegung

Wie viele Ratten in Berlin leben? Hunderttausende? Millionen? Das weiß keiner so genau. Sie machen sich gern dünne, wenn der Mensch sich für sie interessiert. Andersherum ist es umgekehrt.

Aus Rattensicht ist dieses Kanalrohr zwischen Treptowers und Arena ein Rohr wie viele andere auch: vielleicht gut einen halben Meter im Durchmesser, leicht abschüssig, so dass das Abwasser gut fließen kann. Ein prima Rohr aus Rattensicht, ideal, um schnell und sicher von A nach B zu gelangen. Natürlich – denkt sich vielleicht die Ratte –, dass der Kanal an dieser Stelle mit einem schwarzen Plastiktunnel ausgekleidet ist, mag ungewöhnlich sein, aber was soll’s.

Im Internet kursieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie die Ratten am Tunneleingang etwas vorsichtiger werden. Die Videos sind Werbefilmchen einer dänischen Firma, die damit die Wirksamkeit ihrer Plastikrohre und der dazugehörigen Apparatur nachweisen will. Man sieht, wie die Tiere ein wenig am ungewohnten Material schnüffeln und dann ein paar tastende Schritte nach vorne wagen. Es sind verlässlich ihre letzten.

Aus Menschensicht ist die Ratte eine üble Sache, und aus Jens Beyers Sicht ist sein Job einer, den er gerne macht: Schädlingsbekämpfer bei den Berliner Wasserbetrieben. An einem Morgen an den Treptowers meint das vor allem: Ratten bekämpfen. Klingt martialisch, aber Beyer, 41 Jahre, Pflaster auf dem Kopf, sieht die Sache entspannt. Kein Jagdtrieb. Die Ratte ist ein Schädling. Und Beyer macht sie weg. Punkt.

Für die Ratten eine tolle Sache

Also dann: Schachtdeckel abnehmen, Blick in den Untergrund. Eine T-Kreuzung aus Abflussrohren, dazu ein Abwasseranschluss für ein Brachgrundstück, das einmal erschlossen werden sollte. Die Baupläne scheiterten, zumindest die der Menschen. Für die Ratten hingegen war es eine tolle Sache: unterirdischer Direktanschluss.

Da mussten sie sich nur nach oben buddeln, um sich dann auf diesem überwucherten Stück Land anzusiedeln. So erzählen es Jens Beyer, Sascha Kokles und Andreas Thuma – Schädlingsbekämpfer, Ingenieur und Fahrer. Eine Art Rattenbekämpfungstrupp der Wasserbetriebe. In sechs Kanalbetriebsstellen mit ausgebildeten Rattenjägern haben die Wasserbetriebe die Stadt unterteilt. Und hier an der Spree ist rattentechnisch gesehen ein Hot-Spot.

Die moderne Falle: ein Nagelbrett mit fingerdicken Metallspeeren

Aus Rattenjäger-Sicht ist dieses Kanalrohr an den Treptowers durchaus besonders. Testgebiet einer neuen Rattenfalle. Ein Plastiktunnel, eingelassen in das Kanalrohr, vom dem ein Schacht in die Höhe führt. Darin hängt eine Art stumpfes Nagelbrett, fingerdicke Metallspeere. Ist die Ratte einmal darunter angekommen, schlagen Wärme- und Bewegungssensoren Alarm, die Falle löst aus und die Metallstifte fallen nach unten.

100 Prozent effektiv sei die Falle, wirbt das Unternehmen, und so kann man die Sache natürlich auch sehen: Die Ratte wird zerquetscht, den Abtransport übernimmt das Abwasser. So geht Effektivität. Die Speere fahren wieder nach oben, per Datenübertragung wird der Abschuss an die Zentrale gemeldet. Seit einem halben Jahr läuft an der Spree zwischen Treptowers und Arena dieses Pilotprojekt.

Mit modernen Bolzenschussanlagen gegen die Ratten, da wäre es natürlich klasse, wenn man jetzt mal was sehen könnte. Eine Ratte zum Beispiel. Gespannter Blick in die Tiefe, eine kleine Erhöhung oberhalb der Kanalrohre: voller Rattenkot. Da sitzen sie gerne und bedienen sich an dem, was da so an ihnen vorbeischwimmt, sagt Beyer. An Essen, das die Anwohner in der Toilette runterspülen. Und jetzt? Nix los. Dafür die dänische Rattenwunderwaffe links im Kanal.

Eigentlich ein schöner Hightech-Moment, aber dann kommt aus östlicher Richtung langsam eine Ladung Kacke den Kanal entlang geschwommen und sie lachen alle ein wenig verlegen: Da hängen sie also Rattentötungsmaschinen mit einem Stückpreis von gut 3000 Euro in den Schacht, und statt toten Ratten oder wenigstens unsachgemäß entsorgtem Nudelsalat dümpelt dann das an ihnen vorbei, wofür die Kanalisation ursprünglich einmal gedacht war. Nun ja.

Richtig viele Ratten sehen Berlins Rattenfänger selten

Aber sie haben ja die Abschussdaten, die die Falle ihnen sendet. Und die angenagten Giftköder auch noch. Wie also das Zwischenfazit ausfällt, nach einem halben Jahr Testphase? Zwischen 1000 und 3000 Ratten werden sie an dieser Stelle erwischt haben, schätzt der Ingenieur Sascha Kokles. Nun könnte man natürlich einfach den Mittelwert bilden und sagen, dass da 1500 Ratten getötet wurden, wären also 250 im Monat oder rund acht am Tag. Man kann aber auch sagen, dass man das nicht so genau sagen kann.

Wie sich überhaupt und grundsätzlich zwar einiges über Ratten sagen lässt. Aber so viel wirklich Belastbares dann auch wieder nicht. Der Grund ist simpel: Rattenspuren sind zwar leicht zu finden – Löcher im Boden, mitunter abgesackte Flächen, Rattenkot oder auch einmal ein Stromausfall. Ratten selbst, erst recht in wirklich größerer Zahl sehen Berlins Rattenjäger nur sehr selten.

Wieviele Ratten leben in Berlin?

So bleiben Fragen: Wie viele Ratten in Berlin leben? Hunderttausende? Millionen? Weiß keiner genau. Wie sie leben? Weiß auch keiner so genau. Wo sie leben? In der Erde, in Höhlen, Nestern und weit verzweigten Gängen, aber nicht in den Kanälen, sagen die Herren der Kanäle. Was sich sagen lässt, ist, dass die Ratte sich eher dünne macht, wenn sich der Mensch für sie interessiert. Andersherum hingegen ist es umgekehrt.

Aus Rattensicht sind die Menschen ausgesprochen großzügig. Streng genommen könnte man diese Ecke an den Treptowers als den Endpunkt eines Halbkreises verstehen, den man von hier ausgehend in südwestliche Richtung ziehen müsste. Über die Puschkinallee und Landwehrkanal bis nach Neukölln und wieder zurück über Kreuzberg an die Spree. Innerhalb dieses Halbkreises kommen einige Dinge zusammen, die Ratten ziemlich prima finden: viel Wasser, viele Grünflächen und Parks und vor allem viel Gastronomie und Menschen auf den Straßen. Viel zu essen für Ratten.

Rattengift macht widerstandsfähig und ist schlecht für die Umwelt

Vergiftete Köder hingegen sollen es künftig immer weniger werden, das ist besser für die Natur. Zumal die Ratten im Laufe der Zeit widerstandsfähiger gegen Rattengift wurden. Also muss immer stärkeres Gift her. Das aber eben auch die Umwelt immer stärker belastet.

So entstand ein gewisser Innovationsdruck in der Rattenbekämpfung. Längst schon gibt es elektrische Fallen, schuhkartongroße Kästen, an deren Ende ein Köder liegt. Die Ratte kommt, die Falle löst aus und das Tier stirbt am Stromstoß. Auch eine Idee, aber im Berliner Kanalsystem nicht praktizierbar. Es ist die Wahllosigkeit, mit der Dinge im Klo runtergespült werden, die da eigentlich nicht hineingehören. Benzin zum Beispiel.

Wer dann mit Stromstößen gegen Ratten vorgehen will läuft Gefahr, die Kanalisation zu sprengen. Dafür gebe es aber mittlerweile Schlagfallen mit einem angeschlossenen Fahrstuhl, sagt der Pressemann der Wasserbetriebe. Die Ratte stirbt, eine Rampe fährt sie nach oben und lädt den Kadaver in einer Mülltonne ab. Ach, es gibt so viele Möglichkeiten, aber es gibt halt auch 9700 Kilometer Kanallänge in Berlin.

War ein milder Winter da, freut sich die Ratte

Und immer mehr zu tun. Mit knapp 7500 Einsätzen zur Rattenbekämpfung kam das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales im vergangenen Jahr auf einen Zehn-Jahres-Spitzenwert. Mit 1270 Einsätzen lag Friedrichshain-Kreuzberg im letzten Jahr an der Spitze der Berliner Bezirke, im laufenden Jahr wurden bis jetzt knapp 700 Maßnahmen durchgeführt, sagt Bezirksamtssprecher Sascha Langenbach. Deutet sich da ein starkes Rattenjahr an? War ein milder Winter, da freut sich die Ratte, sagt Langenbach. Kann schon sein, dass in diesem Jahr mehr Ratten unterwegs sind als im letzten, aber wer kann das schon so genau sagen.

Viel mehr als die Zahlen für Rattenbekämpfungseinsätze hat man schließlich nicht. Und auch die dürften nur die Untergrenze darstellen, denn Rattenbefall ist zwar meldepflichtig, aber viele Hauseigentümer tun das nicht. 20 000 Einsätze hält der Berliner Landesverband der Schädlingsbekämpfer für realistischer. Wer auch immer auf der Straße oder sonst wo eine Ratte sehen sollte, der ist eigentlich angehalten, die Gesundheitsämter zu informieren. Denn als Überträger von mehr als 70 Krankheiten ist die Ratte gesundheitlich gesehen vor allem eines: ein Schädling.

Viele Ratten tragen multiresistente Keime mit sich herum

Ein Schädling zumal, der in Berlin auch häufig multiresistente Keime mit sich herumträgt. Sebastian Günther arbeitet als Mikrobiologe an der FU und hat über einen längeren Zeitraum tote Ratten untersucht, die Rattenjäger bei ihm im Labor ablieferten. Obwohl die Ratten die Nähe des Menschen suchen, wissen wir verdammt wenig über sie, sagt Günther.

Was er hingegen von ihnen weiß, ist bedenklich. Von den gut 200 Tieren, die er im Laufe der Zeit in einer Kühltruhe sammelte, waren 26 Prozent gegen mindestens ein Antibiotikum resistent, 14 Prozent sogar gegen mindestens drei Antibiotika. Die Multiresistenz ist bei Ratten deutlich höher als bei Menschen, von denen ungefähr fünf Prozent multiresistente Keime in sich tragen.

Auffallend viele Ratten aus der Umgebung von Krankenhäusern trugen multiresistente Keime in sich, wahrscheinlich aufgenommen über die Klinikabwässer, vermutet Günther. An Infektionen, die sich mit Antibiotika nicht mehr behandeln lassen, sterben jedes Jahr tausende Menschen in deutschen Kliniken, Experten gehen von bis zu 40 000 Todesfällen aus.

Sagen Sie, Herr Günther, können multiresistente Ratten dieses Problem verschärfen? Weiß er nicht. Würde er gerne wissen, aber für die dafür erforderliche Studie müsste man richtig Geld ausgeben, das er nicht hat. 1000 tote Ratten bräuchte es wohl, um die Frage zu beantworten, ob die Ratten die Keime zurück auf den Mensch übertragen können.

Vergiftete Tiere findet man selten

Seine toten Ratten haben ihm die Forscherkollegen buchstäblich aus den Händen gerissen, da geht es den Wissenschaftlern nicht so viel anders als den Rattenjägern: Man kommt sonst kaum an sie ran. Wenn man Schlagfallen aufstellt, meiden die Tiere diese Stelle recht schnell. Und vergiftete Tiere ziehen sich zum Sterben zurück, die findet man fast nie mehr, sagt Günther. Das macht es schwer, größere Bestände für die Forschung anzulegen.

Würde Günthers Programm noch laufen, vielleicht könnte Rattenjäger Dirk Sabrautzki ihm an diesem Sommertag ein wenig aushelfen: Ein Altbau am Bayerischen Platz in Schöneberg, Marmor im Foyer, einer dieser alten Fahrstühle, um die sich das Treppenhaus herum windet. Ein schönes, edles Haus – und Ratten im Keller.

Wahrscheinlich könnte Forscher Günther mit diesem unterarmlangen Tier aber auch nicht mehr viel anfangen, das Sabrautzki in einer ausgefegten Kellerkammer in eine Plastiktüte bugsiert: Ausgedorrt, ausgetrocknet, der Körper kracht wie brechendes Sperrholz, als Sabrautzki mit dem Greifer zupackt. So wirkt Rattengift im Idealfall: Das Tier stirbt, trocknet aus, stinkt nicht. Ein paar Räume weiter ein süßlicher Gestank. Erstaunlich, wie stark ein so kleiner Körper stinken kann. Die Ratte kaum größer als eine Maus, liegt ungünstig an einer Kellerfensteröffnung, Zugwind, feuchte Luft. Dann kommen die Faulgase und die Sache wird etwas eklig.

Der den Rattenjäger nimmt seinen Job durchaus persönlich

Oder etwa nicht, Herr Sabrautzki? Ach ja, sagt er dann, der 38-jährige Berliner mit 13 Jahren Berufserfahrung, das hier sei ein Witz gegen das, was mitunter auch bei der Arbeit passieren kann: ein Hund, sicher ein halbes Jahr tot, den er mal bergen musste. Oder das knappe Dutzend Ratten, die er vor kurzem am Grund einer Entwässerungsanlage gefunden habe, voll gesogen, aufgeschwemmt auf Kaninchengröße – so geht Ekel.

Ansonsten aber: auch bei Sabrautzki der Kampf gegen den großen Unbekannten. Dabei nimmt er die Sache durchaus persönlich: Wenn er über zwei bis drei Wochen immer wieder Giftköder an der selben Stelle auslegt, weil da offensichtlich so viele Ratten unterwegs sind, dass ihr Appetit nicht mit einem Köder zu stillen ist, dann geht einem das irgendwann auf den Sack, sagt er: Dann will man sie auch erwischen, und wenn das klappt, ist das schon eine Art von Befriedigung.

Erwischen bedeutet, dass der Köder nicht mehr angenagt ist. Erwischen bedeutet nicht, dass er massenweise tote Ratten aufsammelt. Stattdessen gibt es ganze Arbeitstage, an denen er keine einzige Ratte sieht. Ein diskretes Tier, und diskret soll auch Sabrautzki sein, zumindest nach den Wünschen seiner meisten Kunden.

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Hier ist halt Deutschland

Wer den Rattenjäger holen muss, ist darauf nicht gerade stolz. Man könnte die Sache natürlich auch anders sehen, etwa als Zeichen einer besonders engagierten Hausverwaltung, die konsequent auf Schädlingsbekämpfung setzt. Zumal die Stadt ohnehin voller Ratten ist, es also keine Schande wäre, sie auch einmal im eigenen Keller zu haben.

In den USA wirbt man mit dem regelmäßigen Besuch der Schädlingsbekämpfer. Aber hier ist halt Deutschland. Auf Sabrautzkis Lieferwagen steht „Inwelthygiene“. Ist besser so, findet sein Chef. Zum einen, weil die Ratten ja auch in den Häusern sind. Zum anderen, weil da nicht jeder gleich weiß, was die Fahrer dieser Autos eigentlich so beruflich machen. Die Ratte hat halt kein gutes Image.

Kurz hinterm Bayerischen Platz klingelt Dirk Sabrautzkis Telefon. Hallo Mausi, sagt er zu seiner Freundin.

Mausi. Natürlich Mausi! Ratti würde niemand sagen..

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