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Sehbehinderte Menschen brauchen größere Unterstützung in Zeiten der Pandemie.

© Monika Skolimowska/dpa

So gut wie unsichtbar: Wie blinde Menschen in der Pandemie vergessen werden

Sehbehinderten Menschen fällt es schwerer als anderen, sich in der Öffentlichkeit vor dem Coronavirus zu schützen. Beachtung in der Politik findet das kaum.

Es waren zwei Kinderkrankheiten, die Roswitha Röding Anfang 1946 das Augenlicht und Teile ihres Hörvermögens kosteten. Im Alter von sieben Jahren erkrankte die in Friedrichshain geborene Berlinerin an Diphtherie und Scharlach. „Der Krieg war gerade erst vorbei und alles lag in Trümmern“, sagt die heute 82-Jährige. „Die medizinische Versorgung war damals einfach zu schlecht.“

Die Infektionen veränderten Rödings Leben für immer. Seit mittlerweile 75 Jahren muss sie auf Orientierungshilfe durch das wohl wichtigste Sinnesorgan des Menschen verzichten. Trotz ihrer zusätzlichen Hörbehinderung hat sie gelernt, sich durch den Alltag zu manövrieren. Nun stellt sie die Pandemie, wie auch andere Menschen mit Behinderung, vor neue Herausforderungen.

„Mittlerweile gehe ich alleine überhaupt nicht mehr raus“, sagt Röding. Vor der Pandemie sei sie immerhin allein zum Arzt oder Friseur gegangen. Bei Hindernissen habe sie sich immer auf ihre Mitmenschen verlassen können. Heute will sie die Nähe aber nicht mehr riskieren: „Natürlich habe ich wegen Corona Bedenken, mich am Arm von Fremden führen zu lassen.“

Abstand zu wahren, sei ohne Hilfe so gut wie nicht machbar. „Schon wenn ich mit einer Begleitung draußen bin, merke ich, wie oft wir anhalten und ausweichen müssen“, sagt Röding. Orientierungshilfen wie Leitlinien oder Straßenübergänge mit Tonsignalen seien in der Öffentlichkeit, besonders in ihrer Wohngegend, zu spärlich. Die Rentnerin findet, die Ampeln sollten gerade jetzt akustisch aufgerüstet werden.

Nicht nur älteren Menschen mit Sehbehinderung fällt es in diesen Tagen schwer, auf ihre eigene Sicherheit in der Öffentlichkeit zu achten. Antje Samoray, 35 Jahre alt, wurde mit einer schweren Netzhauterkrankung geboren und ist heute vollblind. „Eine Zeit lang konnte ich noch Farben erkennen“, sagt sie, „aber irgendwann hörte das auch auf.“

Masken erschweren Orientierung

In der Zeit vor dem Virus war Samoray viel unterwegs. Neben ihrer Arbeit im Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) betreibt sie den Blindensport Showdown, „eine Mischung aus Airhockey und Tischtennis“, wie sie selbst erklärt. Normalerweise nimmt sie weltweit an Turnieren teil.

Auch in Zeiten der Pandemie bewegt sich Samoray ohne Begleitung in der Öffentlichkeit. Wirklich wohl fühlt sie sich dabei aber nicht mehr. „Die Bahnen in Berlin sind ziemlich voll und ich kann die Abstände nicht richtig einschätzen“, sagt sie. Grund dafür sei unter anderem, dass die Menschen Masken trügen. „Normalerweise kann ich mich anhand des Schalls orientieren, der an Gegenständen zurückgeworfen wird“, sagt Samoray, „doch die Masken dämpfen alles ab.“

Die verbale Kommunikation mit ihren Mitmenschen fällt der 35-Jährigen schwerer denn je. Ihrem Eindruck nach wirken die Masken nicht nur als physische, sondern auch als psychische Hürde. „Es war schon früher nicht ganz einfach mit dem Helfen, aber mittlerweile werde ich fast gar nicht mehr angesprochen“, sagt sie.

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Trotz des erhöhten Risikos im Alltag werden Blinde und Sehbehinderte bei den angelaufenen Impfungen allein nach ihrem Alter kategorisiert. Schon im Dezember forderte der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband eine bevorzugte Impfung von blinden, sehbehinderten und vor allem taubblinden Menschen. Eine Antwort blieb bis heute aus. Eine jüngst erschienene Stellungnahme der Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen greift das Thema nun wieder auf.

Sehbehinderte können Impfeinladungen per Brief nicht lesen

Kritik erntet die Politik aber nicht nur wegen der ausbleibenden Impfpriorität. „Die Verantwortlichen haben es bisher verpasst, die digitalen Möglichkeiten zur Barrierefreiheit voll auszuschöpfen“, sagt Verena Staats. Wie die Geschäftsführerin des Berliner Blinden- und Sehbehindertenvereins erklärt, können hochgradig sehbehinderte Menschen ohne fremde Unterstützung nur wenig mit einer Impfeinladung per Brief anfangen.

Für Probleme sorge vor allem der zur Impfanmeldung benötigte 16-stellige Code, sagt Staats: „Im Prinzip müsste man diese ellenlange Kombination zusammen mit der angegebenen Telefonnummer auswendig lernen“ – nicht nur für ältere Menschen ein Ding der Unmöglichkeit.

Zwar stehe auf dem Brief ein QR-Code, mit dem man sich den eigenen Impfschlüssel anhören könne. Doch: „Wie soll man als blinder Mensch wissen, dass es da etwas zum Scannen gibt? Was nützt das?“, fragt Staats. „Das hat man einfach nicht richtig zu Ende gedacht.“

Ähnlich verhalte es sich mit der Webseite zur Impfanmeldung und den verfügbaren Onlineformularen. Obwohl der technische Aufwand minimal sei, könne man diese weder mit Wiedergabeprogrammen vorlesen lassen noch am PC ausfüllen, sagt Staats: „Dabei sind Anbieter öffentlicher Internetseiten gesetzlich zu barrierefreien Dokumenten verpflichtet.“

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Mit dem eigenen Internetauftritt und einer Hotline versucht der ABSV auszugleichen. Doch ist der Termin erst einmal abgemacht, warten bereits die nächsten Hürden: Blindenführhunde dürfen zwar bis an die Kabine mit ins Impfzentrum genommen werden, menschliche Begleitpersonen jedoch nicht. Laut Staats sorgt dies immer wieder für Verunsicherung.

Im Stich gelassen

Roswitha Röding fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. „Ich habe das Gefühl, blinde Menschen existieren für die Politik überhaupt nicht“, sagt sie. Immer wieder sei zwar die Rede von pflegebedürftigen Menschen, die in Heimen versorgt werden. An alte Menschen und Behinderte, die selbstbestimmt in einer Wohnung leben, werde nicht gedacht.

Sie selbst wohnt allein, bekam vor der Pandemie fast täglich Besuch von Bekannten und Hilfskräften. Mittlerweile kommt nur noch einmal wöchentlich jemand vorbei, der ihre Briefe vorliest und mit ihr einkaufen geht. Von ihrer Impfeinladung erfuhr Röding, erst Tage nachdem diese schon im Briefkasten gelandet war.

Einsam fühlt sie sich trotz allem nicht. Ihre Zeit vertreibe sie sich mit barrierefreien Kulturangeboten, sagt Röding: Museumsführungen via Internet und Telefon oder Hörfilme im Fernsehen. Für den Erhalt solcher Angebote engagiert sie sich ehrenamtlich im Blindenverein. Auf die Frage, was ihr während der Pandemie am meisten fehle, hat sie eine klare Antwort: „Die Hörfilme der Berlinale.“

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