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Sind Sie echter Ur-Berliner? Machen Sie den Test!

© Idee: Zugezogene; Illustration und Montage: Anke Dessin

Der große Berlin-Test: Sind Sie ein echter Berliner?

Der Ur-Berliner ist zur bedrohten Spezies erklärt worden. Nur: Wer oder was soll hier geschützt werden? Wer nicht? Und ist Berliner, wer solche Fragen stellt?

Ich bin ein Berliner, hatte John F. Kennedy im Jahr 1963 in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus gesagt, zwei Jahre nach dem Mauerbau – und damit die Herzen einer ganzen halben Stadt berührt. Die Rede wurde weltberühmt, der Satz von allen gefeiert. Konnte ja keiner ahnen, dass ein halbes Jahrhundert später eine riesige Debatte darüber entbrennen würde, wer überhaupt Berliner ist und wer Berliner sein darf.

Die Stadt der Freiheit errichtet neue Mauern. CDU-Mann Christian Gräff forderte unlängst einen Zuzugstopp. Die Linken wollen keine Touristen mehr, die Grünen „Orte für die Locals zurückerobern“. Der Tenor: Berlin ist voll, jeder Neuankömmling eine potenzielle Gefahr und der Urberliner zur bedrohten Spezies geworden – schützenswert! Fehlt allein die Antwort auf die Frage: Wer oder was soll eigentlich genau geschützt werden?

Muss man in Berlin geboren sein? Wenigstens mehr als die Hälfte seines Lebens hier verbracht haben? Muss der Erstwohnsitz in Berlin gemeldet sein? Oder eben gerade nicht, weil man keinen Termin beim Bürgeramt bekommen hat? Braucht es Schnauze? Mit Herz? Fördert ein bestimmter Bezirk das Berlinsein? Oder die politische Einstellung? Je linker, desto berliner? Ist jemand aus Spandau geeignet? Oder aus Schwaben? Muss man Berliner sein wollen, um Berliner zu werden? Muss man den Winter genauso mögen wie den Sommer? Darf man eigentlich gar nichts mögen? Bräuchte es ein Zertifikat? Mindestens eine Definition? Reicht ein Gefühl?

De facto erfüllen nur noch 47 Prozent der in Berlin lebenden das Ureinwohner-Kriterium: hier geboren zu sein. Das zeigen Zahlen vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, die der rbb im vergangenen Jahr ausgewertet hat. Jeder zweite ist demnach kein echter Berliner. Kurzer Blick in den Senat: Der Regierende Michael Müller (SPD) ist es, die Stellvertreter Ramona Pop (Grüne) und Klaus Lederer (Linke) sind es schon nicht mehr. Pop wurde in Temeswar in Rumänien geboren, Lederer kommt aus Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern.

Allein seit der Wiedervereinigung sind fast drei Millionen Menschen nach Berlin gezogen, 180.000 waren es im vergangenen Jahr. Geht man nach dem Geburtsort, sind die Neuen vor allem Brandenburger. Im internationalen Städteranking liegen Damaskus (14.746 Menschen), Stettin, Aleppo und Moskau vorne. In Deutschland kommen mehr Menschen aus Hannover nach Berlin als aus Stuttgart. Die meisten Zugezogenen leben in Mitte (65,7 Prozent), gefolgt von Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf.

Ein CDU-Politiker möchte den Zuzug stoppen, die Linken wollen Touristen vergraulen – und die Grünen „Orte für Locals zurückerobern“. Echte Berliner werden umworben! Aber woran merkt man, ob man einer ist? Das haben die Politiker nicht verraten. Machen Sie den Test!

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Die Eingeborenen findet man am ehesten an den Orten, die im Senat zweite Priorität haben. Da, wo kein BerlKönig fährt, keine E-Scooter herumstehen, die Mieten moderater sind und kaum Touristen unterwegs: außerhalb des S-Bahn-Rings. In Reinickendorf (57,8 Prozent), Spandau (54,1 Prozent) und Treptow-Köpenick (53,3 Prozent). Werden sie von anderen identifiziert – meist durch simples Nachfragen – hören sie Sätze wie „Oh, ein seltenes Exemplar“ oder „Ach, so einer“. Ausdruck der Bewunderung – oder so ähnlich.

Berliner sind das, was die Hipster gerne wären

Es gibt da diese Klischees, von denen man immer wieder liest und hört. Berliner, wie man sie sich basteln würde. An dem ein oder anderen Klischeeort findet man sie noch: In alten Kaschemmen zum Beispiel. Die Schrippenmutti, die bis in die Morgenstunden Buletten in Schwulenclubs, Kneipen und Bordellen verkauft, Dagmar Keuenhof und Mathias Kutscha von der Pommesbude im Prinzenbad, Romano mit zwei Zöpfen aus Köpenick. Leute, die ihr eigenes Ding machen, egal, was die anderen sagen. Viel Schnauze, darunter Herz.

Diese Berliner sind das, was die Hipster gerne wären: ein Original. Genauer: ein Original, das ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt. Wenn das als Berlin-Kriterium gilt: Wer kann heute schon sagen, welche Menschen die Originale von morgen sind? Vielleicht die, die heute das beste Start-up schmeißen, den verrücktesten Club, die besonders klimafreundlich sind, eine vegane Metzgerei gründen?

Der Autor Karl Scheffler schrieb in seinem Buch „Berlin – ein Stadtschicksal“: „Nichts fehlt so sehr in Berlin wie ein einheitlicher Lebensstil.“ Das war 1910. „Der Kern von etwa 500.000 Berlinern, der Einwohnerzahl von 1860, ist längst zerrieben und aufgelöst von den neu einwandernden Millionen (…) Es sind, seit Berlin sich zur Weltstadt entwickeln begonnen hat, kaum vier bis fünf Jahrzehnte verflossen, und schon sieht man sich vergebens nach dem ‚echten Berliner' um.“

Selbst wer hier geboren ist, ist in 90 Prozent der Stadt kein Einheimischer

Danach folgten: Zwei Weltkriege, die Teilung, der Mauerfall, die 90er Jahre, wild und schrammelig, ohne Verpflichtung, dafür mit allen Möglichkeiten. Die Stadt blieb angenehm unperfekt und man selbst konnte es ebenso sein. Das zog. Noch mehr Menschen. Noch mehr Lebensentwürfe. Gentrifizierung.

Bis heute wächst die Stadt, genauso wie die Kluft zwischen Innen- und Außenbezirken, zwischen Arm und Reich, selbst direkte Nachbarn, nur durch einen Hausflur getrennt, leben manchmal in unterschiedlichen Welten. Größer, lauter, voller. Berlin ist nicht Berlin. Berlin ist Neukölln, Spandau und Marzahn-Hellersdorf. Selbst wer hier geboren ist, ist in 90 Prozent der Stadt kein Einheimischer. Berlin ist Schrebergarten und Berghain. Der Späti ums Eck und Siemens. Hertha und Union. Alles und mehr. Überall anders. Anders gesagt: Jeder schafft sich sein eigenes Berlin.

„Multikulti“, „Vielfalt“, „Weltoffenheit“, „Vielseitigkeit“ und „bunt“ gehören einer Befragung der Senatskanzlei zufolge für die in Berlin lebenden Menschen zu den Top 10 an spontanen Assoziationen. Weltoffenheit und kulturelle Vielfalt auch zu den Top-6-Gründen, stolz auf Berlin zu sein. „Freiheit“ war immer das Berlin-Schlagwort. Keine Stadtwerbekampagne, keine Berlin-Rede, kein Koalitionsvertrag kam ohne aus. Alles kann, nichts muss. Weil es geht in Berlin. Weil jeder sein kann, wie er will. So die Theorie.

Jetzt kommt die Praxis. Die Politik ist überfordert. Mit dem Wandel einer Stadt, die sich schon immer durch Wandel definiert hat. Mit Zuzug und Tourismus. Baut zu wenig Wohnungen, schafft zu wenig Kitaplätze, scheitert an der eigenen Planung und hat Angst vor falschen Veränderungen. Man schottet sich ab, links wie rechts, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen. Fordert Einheit, wo Vielfalt lebt. Will festlegen, wo Neuerungen dazugehören. Zieht Grenzen. Grenzt aus.

Bist du berlin genug? Wer ist Berliner? Wer gehört dazu? Wer muss draußen bleiben? Gehört zu Berlin auch, wer solche Fragen stellt?

Berlin ist dazu verdammt „immerfort zu werden und niemals zu sein“, hatte Karl Scheffler geschrieben. Und so wie Berlin immerfort wird, wird man vielleicht auch immerfort Berliner – und ist es niemals.

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