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Sie sollen die neuen Vorsitzenden der Berliner Linksfraktion werden: Carsten Schatz und Anne Helm.

© imago/Christian Ditsch, Mike Wolff

Sind Schatz und Helm stark genug?: Berlins Linksfraktion hadert mit dem designierten Führungsduo

Er zu moderat, sie zu unerfahren: Viele Abgeordnete bezweifeln, ob Carsten Schatz und Anne Helm sich in der Koalition behaupten können. Es fallen klare Worte.

Von Sabine Beikler

Bei der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus rumort es. Als die beiden Fraktionschefs Udo Wolf und Carola Bluhm am 6. Mai verkündeten, ihre Ämter am 2. Juni niederzulegen, und schon einen Vorschlag für ihre Nachfolge präsentierten, wurden viele der 27 Abgeordneten davon „überrascht“, wie eine Linkspolitikerin sagt.

Das ist noch milde ausgedrückt. „Vor den Kopf geschlagen“ worden seien sie, erzählt eine Abgeordnete. Als „absolut übel“ bezeichnet ein anderer Linker dieses Verfahren, das die Fraktion nicht mit einbezogen hat. „Uncool“ sagt dazu eine andere Abgeordnete.

Seitdem tobt eine Debatte über die designierten Nachfolger Carsten Schatz und Anne Helm in den sozialen Medien zum Teil mit frauenfeindlichen oder homophoben Kommentaren. Dagegen mussten sogar Mitglieder des Landesvorstands intervenieren.

Über die Nachfolge wird auch in der Fraktion kontrovers diskutiert. Ob Schatz und Helm bei ihrer Wahl am 2. Juni die Mehrheit der 27 Fraktionsmitglieder erhalten, gilt keineswegs als ausgemacht. Oder wird es möglicherweise eine alternative Kandidatur geben?

Dass Carola Bluhm und Udo Wolf den Fraktionssitz abgeben wollten, war bereits bekannt. Wolf führt mit Bluhm zusammen die Fraktion seit 2016, er ist seit 2009 Fraktionschef. Carola Bluhm war bereits von 1995 bis 1999 und von 2006 bis 2009 Fraktionschefin der Linken.

Bluhm und Wolf sind seit 30 Jahren für die Linke aktiv

Die langjährigen Abgeordneten, beide 57, sind die dienstältesten Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus und seit 30 Jahren für Partei und Fraktion in unterschiedlichen Funktionen aktiv. Beide Linkspolitiker werden nach Tagesspiegel-Informationen für die Abgeordnetenhauswahl auch nicht mehr antreten.

Die bisherigen Fraktionsvorsitzenden Carola Bluhm und Udo Wolf bei einer Klausurtagung der Linken im März 2020 in Potsdam.
Die bisherigen Fraktionsvorsitzenden Carola Bluhm und Udo Wolf bei einer Klausurtagung der Linken im März 2020 in Potsdam.

© Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa

Intern wurde darüber diskutiert, wann der beste Zeitpunkt für einen Generationenwechsel sein könnte, denn die Nachfolger sollten noch die Zeit haben, sich einzuarbeiten und vorzubereiten auf das Wahljahr 2021. Und mit dem Rückhalt der erfahrenen Spitzenpolitiker Bluhm und Wolf.

Corona-Kurs des Senats nur mit Bauchschmerzen akzeptiert

Die Entscheidung wurde durch die Corona-Krise und den Lockdown beschleunigt. Die Diskussion, wie die Linke sich einheitlich positioniert, konnte aufgrund der Ausgangsbeschränkungen zunächst nur eingeschränkt geführt werden. Zu einer gemeinsamen „Pandemie-Strategie“ führten die Diskussionen zwischen den Partei- und Fraktionsspitzen und den drei Senatoren auch nicht.

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Im Gegenteil: Dass sich der Senat im März mit der Eindämmungsverordnung für einen harten Kurs entschied, der Ausgangsbeschränkungen und Einschränkungen der Grundrechte wie Versammlungsfreiheit oder Entfaltung der Persönlichkeit einschränkte, wurde in Partei und Fraktion mit großen Bauchschmerzen akzeptiert. „Es gab keine Situation, einen sinnvollen Streit über die richtige Strategie intern zu führen, weil wir auch keinen Koalitionsstreit in einer Zeit wollten, in der niemand wusste, ob die Maßnahmen gegen das Coronavirus wirklich greifen“, erzählt ein Spitzenmann der Linken.

Dass während des Lockdowns die Kraft des Handelns in der Regierung und nicht mehr im Parlament lag, war eine Belastung nicht nur für die Linksfraktion. Die Situation für die Fraktionsspitzen kann durchaus als kräftezehrend beschrieben werden. Bei Wolf und Bluhm reifte die Erkenntnis, dass jetzt der Zeitpunkt für einen Generationenwechsel gekommen sei. Und beide haben auch persönliche, familiäre Gründe, um sich aus der Spitzenposition zurückzuziehen.

Schatz ist Generalist, Helm hat ein feministisches Profil

Mit Bluhm und Wolf verlassen zwei politische Schwergewichte die erste Reihe. Und adäquate Nachfolger zu finden, ist angesichts der „großen Fußstapfen“, die sie hinterlassen, grundsätzlich schwierig. Mit dem 50-jährigen Carsten Schatz fiel die Wahl auf einen Generalisten, der im Haushalts- und Europaausschuss und im BER-Untersuchungsausschuss arbeitet. Der frühere Landesgeschäftsführer ist Bezirksvorsitzender der Linken in Treptow-Köpenick und lebt seit Jahren offen mit seiner HIV-Infektion. Schatz ist seit 2013 Mitglied des Abgeordnetenhauses und Fraktionsvize. Er gilt als pragmatischer Linker.

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Die 33-jährige Anne Helm ist seit 2016 Mitglied des Abgeordnetenhauses. Die Medienpolitikerin hat ein deutlich feministisches Profil und beschäftigt sich mit Strategien gegen Rechts. Die Beisitzerin im Fraktionsvorstand war bis 2014 Mitglied bei den Piraten, trat 2016 in die Linkspartei ein und trat mit Unterstützung des Landesvorstands gegen den Willen ihres Neuköllner Bezirksverbands erfolgreich auf Platz 19 der Landesliste an.

Können Schatz und Helm Kämpfe mit SPD und Grünen austragen?

Beide designierten Nachfolger sind in der Fraktion nicht unumstritten. Einige Linke befürchten, dass Schatz zu wenig „Impulsgeber“ gegenüber den Koalitionspartnern SPD und Grüne sein werde, er würde sich gegen SPD und Grüne wohl „zu wenig“ abgrenzen. Ob er in der Lage sei, im Sinne linker Politik „Verteilungskämpfe“ um Haushaltsmittel zu führen, wird ebenso kritisch diskutiert wie die politische „Unerfahrenheit“ von Anne Helm. Sie gilt zwar als Kandidatin der jüngeren Generation, aber ihr wird von einigen Linken nicht zugetraut, dass sie sich als Fraktionschefin gegenüber den Koalitionspartnern behaupten könne.

Neben der Kritik an den designierten Nachfolgern ist der Ärger in der Fraktion über das Prozedere immer noch nicht verpufft. Linke Abgeordnete hätten sich gewünscht in den Auswahlprozess einbezogen zu werden. Auch im Landesvorstand gab es Kritik, dass die Auswahl nicht mit dem kompletten Vorstand abgesprochen worden war. Parteichefin Katina Schubert wollte sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel „zu Interna“ nicht äußern.

Schubert indes wurde von Genossen auch als potenzielle Kandidatin für die Fraktionsspitze genannt. Eine Kandidatur lehnt die Parteichefin und Abgeordnete aber ab. „Ich bin gerne Landesvorsitzende. Und ich möchte nicht Fraktionsvorsitzende werden“, sagte Schubert dem Tagesspiegel.

Helm und Schatz legen Corona-Strategiepapier vor

Auf der Fraktionssitzung am Dienstag wurde nicht über die Personalien Schatz und Helm gesprochen. Auf die Frage, ob jemand zusätzlich kandidieren wolle, meldete sich niemand. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich bis zum 2. Juni Gegenkandidaten aufstellen lassen werden. Statt einer Personaldebatte kochte am Dienstag die Diskussion über ein Papier der designierten Spitze mit dem Titel „Skizze für die strategisch-inhaltliche Aufstellung der Fraktion“ hoch, das dem Tagesspiegel vorliegt.

In dem ersten Entwurf stand, man wolle „auf eine gesellschaftliche Lernstrategie im Umgang mit Corona setzen“, die aus drei Säulen bestehe: Befähigen, Ermöglichen, Absichern. Menschen könnten sich nur mit einer solchen Ausnahmesituation auseinandersetzen, wenn sie sich nicht Sorgen über ihre Existenz machen müssten. Ein Mietenfonds, Aufstockung des Kurzarbeitergeldes oder ein Corona-Elterngeld könnten Abhilfe schaffen. Finanzpolitisch will die Linke nicht bei den Investitionen sparen und schlägt einen Fonds zwischen Bund und Ländern zur Schuldenabtragung vor.

Kritiker: "Brauchen keine schlauen Hinweise"

Helm und Schatz stellen in dem Papier die Frage nach den Projekten, die prioritär noch bis Ende der Wahlperiode verfolgt werden sollen. Als Beispiele sind aufgeführt die Berliner Schulbauoffensive, die Bewahrung von Kunst, Kultur und Clubs als Teil der Daseinsvorsorge, Wohnungsbau vorantreiben, Strategien zur Obdachlosigkeit entwickeln, der Ausbau des ÖPNV und der Radinfrastruktur.

Die Kritik von Fraktionsmitgliedern richtete sich nach Tagesspiegel-Informationen an der Stoßrichtung des Papiers, eine Strategie nach der Pandemie zu richten statt die im Koalitionsvertrag verankerten Inhalte zu verfolgen. „Wir brauchen keine inhaltliche Änderung unserer Strategie“, hieß es. „Wir haben starke Fachbereiche in der Fraktion und brauchen keine schlauen Hinweise, was noch gemacht werden soll“, sagte ein anderer Linkspolitiker.

Helm und Schatz reagierten auf die geballte Kritik und konzipierten einen zweiten Entwurf, der die wesentlichen politischen Projekte noch einmal auflistet. Sie betonen, dass man die bisherigen Projekte weiter verfolgen solle. Aber man müsse dennoch „eine klare Schwerpunktsetzung bei der Öffentlichkeitsarbeit, parlamentarischen Initiativen und Fragen“ verfolgen. Diese inhaltliche Diskussion soll weitergeführt werden - und das ist auch für die Debatte über den Wechsel an der Fraktionsspitze noch nicht ausgeschlossen.

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