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Berlin: Silvio Adam (Geb. 1961)

Eine Mission im Kampf gegen den unsortierten Müll

Seine Trauerfeier hätte Silvio gefallen, da ist sich die Raucherfraktion im peitschenden Märzregen einig. Man steht vor dem kleinen Café in seinem Wohnhaus, und er, stünde er dabei, würde „Hmmm“ machen, so wie immer, wenn er sein Wohlbehagen artikulierte, weil er sich doch noch mal unter Freunde begeben hatte. Kommunikation wollte er eigentlich nicht mehr. „Lass mal. Ich kenn dich doch.“ Das Leben der anderen war ihm ziemlich egal geworden. So saß er an seinem Platz, bis er schnarchte. Der Fernseher, Joints und Alk, mehr, so schien es, war ihm am Ende nicht wichtig.

Die vielen Menschen, die er auf seinem Rückzug aus dem Leben zurückließ, sind jetzt da, in dem Café in seinem Haus oder davor im Regen. So wie Mel, seine langjährige Freundin, die das alles organisiert hat. Den Abschied mit Livemusik von Matt Grau, dem letzten aktiven Mitglied von „Bündnis für Stadl“, die für Silvio in den späten Neunzigern die beste Band im Land waren. Deutsche, minimalistische Alltagstexte, leicht surreal. Aber die kennen nur noch die paar Wegbegleiter.

Oben, in der großen Altbauwohnung hat er fast 20 Jahre gewohnt, seit Mels Auszug im letzten September nur noch alleine. Leisten konnte er sie sich nicht mehr, und so ist er dann gestorben, im Bad, einfach so.

Als der Freund aus naheliegenden Gründen den Song „Allein im All“ zu „Allein im Müll“ umtextet, kommt die Trauer. Viele waren mit Silvio im Müll, um Geld zu verdienen. Wenige hatten Spaß daran. Silvios Leben aber war vom Müll bestimmt, beruflich und privat, bis sein Herz aufhörte zu schlagen, weil es kein Wofür mehr gab.

Es hatte, wie sich das gehört, alles in der Natur angefangen. Auf einem kleinen Bauernhof in Nordholz an der Nordseeküste. Nur wird Silvios Freiheits- und Tatendrang schon früh Einhalt geboten, weil er immer ausbüxen will, mit Streichhölzern den Wald anzündet oder der kleinen Schwester aus Versehen mit selbst gebautem Pfeil und Bogen den Fuß an den Boden nagelt. Die strenggläubigen Großeltern, bei denen er viel Zeit verbringt, prägen ihn: Bescheidenheit und Obhut, ebenso wie unterwürfige Gottgläubigkeit und Furcht. Und frühe Arbeit auf dem kleinen Bauernhof.

Also: Arbeit, Verantwortung und Religion – alles Dinge, die er zu gut kennen gelernt hat, um ein ungetrübtes Verhältnis dazu zu haben.

Im Norden gibt es keine Arbeit, der Vater muss die Familie ernähren, also Umzug nach Holzminden. Für Silvio im Grundschulalter ist das eine Zäsur, das Leben in der Natur ist Geschichte. Und Silvios schulische Laufbahn danach eine Enttäuschung. Eine schlechte Note verbaut ihm den Weg zum Abitur. Die freiwillige Verpflichtung bei der Bundeswehr ist eine Notlösung, genau wie die Ausbildung zum Flugabfertiger. 1987/88 arbeitet er beim Landkreis Stade als Pfleger von Naturschutzgebieten, es folgt die Ausbildung zum Umweltschutz-Technischen-Assistenten, die seine berufliche Zukunft ernüchternd bestimmt. Als Abfallberater arbeitet er in Stade, bevor er sich wie viele Kollegen Anfang der neunziger Jahre nach Berlin aufmacht. Mit dem neuen Umweltbewusstsein erfährt die Abfallwirtschaft einen Aufschwung. Die Unternehmen agieren international, der Müll kennt keine Grenzen. Silvios erste Arbeitsstelle ist ein großes Unternehmen im dualen System mit dem grünen Punkt.

Hier lernt er Manfred, einen engagierten Studenten, Matt Grau und Gerd kennen. Die Freunde bleiben im Müllgeschäft, als ihre Abteilung abgewickelt wird. Mit Manfred, der nun Ingenieur ist, gründet Silvio 1996 eine GbR für „Beratung und Problemlösung im Bereich der Abfallwirtschaft“. Silvio ist geschäftsführender Gesellschafter und sieht seine Mission im Kampf gegen den unsortierten Müll und für eine sauberere Umwelt. Auch wenn er das Berichteschreiben für Umweltamt und private Entsorger hasst, genauso wie Excel-Tabellen und die mühevolle Akquise auf einem umkämpften Markt, so ist er doch stolz, was Sinnvolles zu tun, die Wiederaufarbeitung des Mülls systematisch anzugehen und damit sogar Geld zu verdienen. Sein Kompagnon Manfred ist ein Multitalent und nimmt ihm vieles ab. Dafür geht Silvio dahin, wo Schwerstarbeit gefordert ist. Es läuft gut an. Der erste Auftrag führt sie in das ehemalige Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg, der größten Dreckschleuder der DDR. Eine gigantische kontaminierte Landschaft. Das Industriegelände wird zurückgebaut und als Industriepark reorganisiert. Die kleine, flexible Firma zehrt über Jahre davon.

Hausmüll, Biomüll, Krankenhausmüll, Papier und Kunststoffe verwiegen, sortieren und analysieren zur Anlagenoptimierung. Mal mit Mundschutz und Schutzkleidung, mal ohne. In Berlin, ganz Deutschland, dann Schweden, Dänemark, Belgien, Österreich, auf Rhodos. Das Leben in öden Hotelzimmern ist eine Begleiterscheinung. Hauptsache ein Feierabendbier und ein Fernseher sind drin. Die Kollegen wechseln häufig, vielen ist der Job zu dreckig, nicht gut genug bezahlt, zu anstrengend. Matt Grau immerhin kann seine Erfahrungen im Müll als Fotos und Texte in Kunst übersetzen, Silvio hingegen hat keine derartigen Ambitionen. Der Schreibkram fällt ihm schwer genug.

Seine Ventile sehen anders aus. Der St. Pauli-Fan hat eine Dauerkarte fürs Millerntor. Auch als er später die Spiele nicht mehr im Stadion verfolgt, betet er auf Knien für den Verein, brüllt und kriecht fast in die Flimmerkiste oder ins Internetradio rein. Außerdem der Trabrennsport; in guten Zeiten gehört Silvio ein Drittel eines Pferdes, er wettet, und im Sulky macht er als Amateur eine passable Figur.

2001 tritt Mel in sein Leben. Sie ist fast zwölf Jahre jünger und beeindruckt von dem Lächeln des langhaarigen Freaks mit dem feinen Humor, der tiefen Stimme und der leicht norddeutschen Intonation. Er steht mitten im Leben und hat die Dinge im Griff, wirkt fit und erfolgreich. Nie ist es langweilig mit ihm, sie können über alles reden und auch schweigen. Dass seine Meinung bei vielen Themen allzu vorgefertigt ist, dass er dann sehr dogmatisch auftritt, sieht sie ihm nach. Dass er sich auch mal die Kante gibt, zu viel raucht, trinkt und kifft, toleriert sie ebenso. Die beiden verbindet ja die Liebe zur Natur und zum Draußensein, jeden Sommer verbringen sie Wochen im Paddelboot mit Zelt, wenig Geld, viel Nähe und ohne Fernseher, unterwegs auf Spree, Havel, Mosel, Saar, Weser, Elbe.

Der Alltag ist nicht ganz so einfach. Silvio ist ein Schluffi, der Rechnungen vergisst, ein Chaot, der in der Küche eine Wüste hinterlässt. Dafür kocht er super. Sie haben auch den gleichen Musikgeschmack. Sie lieben Stoner Rock, eine schwerlastige, ausufernde Musik von bedröhnten Akteuren, die sie einmal im Jahr auf dem „Desert Festival“ in Berlin abfeiern. Kinder fehlen ihnen nicht; Mel geht mit in den Müll, um Silvio nah zu sein.

Dann kommt ein Bruch, der unaufhaltsam ins Aus führt. Um 2010 gehen die Aufträge zurück, die Firma gerät in eine Krise. Manfred hat eine neue Firma gegründet, ohne Silvio. Mel zieht noch mal Aufträge in Südtirol und Schweden an Land, aber das war’s dann auch. Silvio landet beim Jobcenter, verliert den Mut, lässt die Fernbedienung seines Fernsehers heiß laufen und hat keine richtige Idee, was er so anfangen soll mit dem Rest seines Lebens. Eine eigene Suppenküche? Ein Lebensabend in einem Wohnwagen an einem Brandenburger See, Angeln und Ruhe im Einklang mit der Natur? Naja, vielleicht, vielleicht auch nicht. Sein Körper macht auch nicht mehr mit wie früher. Bluthochdruck. Als Reaktion lebt er noch ungesünder.

Als seine Mutter gestorben war, hat er angefangen, seine Haare nicht mehr zu schneiden, ein Zeichen seiner Trauer. Jetzt rasiert er sie ab und sieht auf einmal ziemlich aggressiv aus. Seinen Frust lässt er an den hippen Radfahrern aus, die in seinem Kiez die Bürgersteige entlangrasen. Mel gerät in Panik, wenn er versucht, seinen knorrigen Wanderstock in deren Speichen zu stecken. Auch sonst ist er oft jähzornig. Sie verlässt ihn im Herbst.

Nichts ist mehr, wie es war. Sein Viertel ist von Touristen überschwemmt, Englisch Alltagssprache, Mieten explodieren. Silvio verbarrikadiert sich in seiner Wohnung. Und hinterlässt ein vermülltes Chaos, das keine Partnerin und kein Freund mehr beseitigen kann.

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