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Berlin: Silvester Berger (Geb. 1936)

Er muss sich nicht mit großer Geste in den Mittelpunkt stellen

„Wat wollnse denn gerade in Berlin?“ Der Beamte der Ausländerbehörde kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein Österreicher freiwillig seine Berge und Täler verlässt, um in diese graue, bröckelnde Stadt zu ziehen.

Kufstein im Tiroler Unterland, mit seiner Festung und dem Kaiserturm, den Hausbergen und dem Inn, ist bildhübsch, für die Touristen und wahrscheinlich auch für die meisten Kufsteiner. Doch für Silvester Berger wird die Stadt irgendwann zu einer Zumutung. Frömmelnder Katholizismus, fauliger Faschismus. Silvester spielt Kontrabass, aber weder Klassik noch Tiroler Volksliedgut, sondern Jazz. Er improvisiert, die Leute sprechen von Krach. „Ein Impertinenter!“, sagen sie, „ein Aufwiegler!“ Und doch sitzen manche von diesen Leuten in der Nacht in den Bars, in denen er auftritt, wippen mit den Köpfen und den Knien. Am Tag zerreißen sie sich wieder das Maul über ihn: „Der Bub war doch ein so hoffnungsvolles Talent mit seiner Geige. Ans Salzburger Mozarteum sollte er. Sein Musikprofessor hat sogar eigens ein Stück für ihn geschrieben. Und da hängt er die schöne Geige an den Nagel und verdirbt die Ohren und Köpfe der anderen jungen Leute mit dieser Negermusik.“

Dem Bub ist, als ersticke er. Obwohl alles so lustig begonnen hatte. Seine Mutter, aus einer der ältesten Tiroler Familien, mit eigenem Wappen, in dem ein prächtiger Löwe steht, rief am 2. August 1936, im Sternzeichen des Löwen, die Feuerwehr. Die Wehen hatten eingesetzt. Die Kufsteiner Feuerwehr feierte gerade ihr 60. Gründungsjahr. Während es mit dem Krankenwagen nur langsam vorwärts durch den Festzug ins Spital ging, rief die Menge: „Feuerwehrmann muss er werden!“ Sein Vater, städtischer Schuldirektor und parteilos, hatte nach 1938 eine Rede zu halten, die er unter keinen Umständen halten wollte. Also nahm er sein Gebiss heraus, setzte ein hilfloses Gesicht auf und nuschelte: „Ich kann’s nicht.“

Silvester fährt Ski, übernimmt Rollen am Schultheater, schreibt Sketche, wandert, hört sonntags dem Pfarrer zu. Und entwickelt einen Widerwillen. Fährt, wenn er mit der Bahn unterwegs ist, auf Umwegen zum Ziel, fährt schwarz, springt auf Güterzüge. Er muss hier weg, raus aus der Tiroler Enge, aus diesem Alpen-Barock, der jede Sicht verstellt.

Berlin, Mitte der 60er. Überall Jazz. Freiheit. Er sucht einen Job. „Können Sie Ski fahren?“, fragt ihn die Frau vom Arbeitsamt. „Ja.“ – „Gut. Das ,Sporthaus Diana‘ sucht einen Skifachmann.“ Jeder Verkauf wird eine kleine Inszenierung. Da ist der Mann, der seit Wochen um diese kostspieligen Metallski schleicht. Silvester baut eine schiefe Ebene auf, streut weiße Schnipsel auf den Boden, steckt den Mann in eine komplette Skikleidung und lässt ihn auf den künstlichen Hügel steigen. Da steht er, geht in die Knie, winkelt die Arme an. Und ruft: „Ich nehme sie!“

Silvester wird Abteilungsleiter bei einem Herrenausstatter. Er moderiert hin und wieder Veranstaltungen. Auf einer davon spricht ihn Wolfgang Gruner, Kabarettist und Regisseur beim Kabarett „Die Stachelschweine“, an: „Du musst auf die Bühne!“

Er geht auf die Stachelschweinebühne, 21 Jahre lang. Auch auf die Braunschweiger Staatstheaterbühne. Er gibt den Landstreicher Hugo in „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Er synchronisiert, macht Werbung, hat eine Sendung bei „Radio Fritz“. Es ist nicht die große Schauspielerkarriere. Aber die ist ihm auch egal. Er betrügt sich nicht selbst. Er sagt: „Dann hat’s eben nicht gereicht.“ Er arbeitet präzise, doch eine Rampensau ist er nicht. Er muss sich nicht mit großer Geste und verstellter Stimme in den Mittelpunkt stellen. Seine Frau, Lehrerin, kann Sommerurlaub nur in den Schulferien machen. Als er genau in dieser Zeit ein Angebot bekommt, schlägt sie vor, mit ihm in Berlin zu bleiben. Er schüttelt den Kopf, „Meine Karriere ist unsere Liebe“, sagt ab und fährt mit ihr in die Welt.

Frauen gab es immer, schon damals in Tirol. Es war so leicht, sie in der Bar kennenzulernen, wenn er, der Mann am Bass, „bester Musiker des Abends“ wurde. Bevor überhaupt einer loslegte, bestellte sein Freund schon die Flasche Sekt, denn es war doch klar, wer hier gewinnen würde. Oder diese 24. 24 Frauen aus dem Freundeskreis, die Rat bei ihm suchten. Er war ein hervorragender Zuhörer, hatte keine vorgestanzten Auffassungen, verabscheute Engstirnigkeit, begründete seine spezielle „Berger-Meinung“, die durchaus nicht jedem gefiel. Den 24 schon. Sie umlagerten ihn. Bis es auch ihm zu viel wurde und er fluchte: „Ich will diese Weiber nicht mehr.“

Mit Gisela ist es anders, von Anfang an. Sie sitzt an einem Freitagabend an einem großen, runden Tisch in der „Ewigen Lampe“ in der Rankestraße. Ein Stuhl ist noch frei. Silvester setzt sich, steht wieder auf, setzt sich erneut. Dann stellt sich eine Frau neben ihn: „Kommst du?“ – „Nein.“

Er sprich mit Gisela, dann gehen sie gemeinsam in die „Badewanne“, wo Errol Garner eine Jam-Session spielt. Er schreibt ihnen einige Worte auf ein Stück Papier: „Best wishes to both of you. Always. E. Garner.“ Silvester sagt die geplante Hochzeit mit der Frau, die allein nach Hause gehen musste, ab und heiratet drei Monate später Gisela.

Always: 49 Jahre.

Erst ein Tumor. Dann Demenz. Ein grausamer Witz bei diesem geistesgegenwärtigen Menschen. Sein Bett ist im großen Zimmer in dem Halenseer Haus aufgebaut. Gisela und fünf Freunde sind bei ihm. Silvester hat die Augen geschlossen. Ein Atemzug, der letzte. Dann beginnen alle, ohne sich vorher ein Zeichen gegeben zu haben, zu klatschen. Der Schlussapplaus.

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