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Berlin: Siegfried Kühl (Geb. 1929)

Sein erstes Atelier hatte er mit fünf eingerichtet: einen Pappkarton

Unser täglich Bild gib uns heute und vergib uns unsere Unfähigkeit, diese Welt nicht genauer wahrnehmen zu können. Das hatte Siegfried Kühl in eins seiner letzten Skizzenhefte geschrieben. Schalkhafte Zeilen, die nicht darüber hinwegtäuschen sollen, wie ernst es ihm mit ihnen war. Mit dem genauen Hinschauen, mit dem Einverleiben der Welt.

Im Alter war das ein wenig schwierig geworden. Da konnte er nicht mehr die vielen Undinge, die er früher auf seinen Spaziergängen fand, zu großformatigen Collagen und Plastiken zusammenfügen: Dachpappen, verrostete Dosen, Teile von Auspuffrohren, Treibgut.

Stattdessen zog er sich auf den Beobachterposten zurück. Er zeichnete Menschen, bis zum Schluss fast jeden Tag. Setzte sich ins Tegeler „Café Kult“, das er wegen der betagten Kundschaft „Café Rollator“ nannte. Er zeichnete die Kuchenesser, Plauderer und Zeitungsleser, die satten Gesichter und runden Bäuche mit schwarzem Kaffee auf dem Tisch in sein kleines Büchlein. Und kam somit gegen Ende, mit über 80 Jahren, am Ausgangspunkt an: Sein erstes Atelier hatte er mit fünf eingerichtet: in einem Pappkarton im Pankower Tabakladen der Eltern. Durch die Beobachtungsluke hatte er freien Blick auf die Beine der Kundschaft.

Sie zeichnen ja wie Zille!, hat mal jemand gemeint. Kühl antwortete, der Zille sei lieb und kritisch gewesen. Er sei nur kritisch. Kann das stimmen? Kühl muss eine große Liebe und Neugier für die Menschen in sich getragen haben. Sonst hätte er kaum Pädagoge werden können, hätte nicht 40 Jahre lang als Kunsterzieher auf der Schulfarm-Insel Scharfenberg im Tegeler See jungen Leuten das Sehen beibringen können. Seine Leidenschaft für die Kunst war ansteckend. Nicht anders ist zu erklären, dass ihm die Schüler in den Urlaub folgten, bis nach Korsika, seiner zweiten Lebensinsel neben Scharfenberg. Dort, wo die Solenzara ins Meer mündet, schlug er jeden Sommer sein Fluss-Atelier auf, fand im gurgelnden Wasser die Materialien für seine Kunst. Zusammen mit den Schülern türmte er braun gebrannt, mit nacktem Oberkörper Findlinge zu Naturplastiken aufeinander. Der Pony hing ihm dabei ins Gesicht mit der langen Nase und den hohen Wangenknochen. Der Pony war sein Markenzeichen, und erst als das kräftige Haar schütter wurde, musste er sich von ihm verabschieden.

Was war er mal für ein kerniger Typ gewesen, ein Naturbursche, er fuhr Ski, er wanderte. Mit der Dadaistin Hannah Höch ging er eislaufen auf dem zugefrorenen Tegeler See, seit 1949 waren sie befreundet, eine halbe Ewigkeit. Zusammen tranken sie das ein oder andere Gläschen Sherry. Für sie schuf er den „Archaischen Erz-Engel“ am Großen Malchsee. Traumwesen, mythologische Figuren und Geistergestalten bevölkerten immer wieder seine Kunstwerke, auch der Tod und Soldaten zogen bei ihm ein. Das war die andere Seite von Siegfried Kühl. Ob er depressiv sei, wurde er hin und wieder gefragt. Nein, hat er dann geantwortet und seine Geschichte erzählt.

Mit 15 wurde er von der Waffen-SS an die Ostfront geschickt, als Kanonenfutter, hinein in den Wahnsinn der letzten Kriegswochen. Zu Fuß konnte er fliehen, sprang auf den richtigen Zug auf und landete tatsächlich wieder in Berlin. Die Stadt war inzwischen ein riesiges Grab mit Pferdekadavern und Menschenleichen an den Straßenrändern. Es waren Bilder, die sich den Weg in seine Kunst bahnten. Mehr als 500 Montagen und Collagen und zehntausende Zeichnungen hinterlässt der Berliner Bildhauer und Maler. Da kann sich dann mal ein Kunsthysteriker einen Reim drauf machen. So hat das Siegfried Kühl gesagt.

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