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Dina Malchow (1928-2019).

© privat

Sie zweifelte nie an Gott, obwohl...: Ein Nachruf auf eine, die nie böse war auf irgendwen

Keiner verriet sie. Ein Polizist warnte Tante Erna, wenn Kontrollen anstanden. Der Nachruf auf Dina Malchow, geb. 1928.

Dinas Großeltern stammten aus Galizien. Nach dem Amtsantritt des fanatischen Antisemiten Karl Lueger als Bürgermeister von Wien im Jahr 1897 waren sie nach Berlin ins Scheunenviertel gezogen. Dinas Mutter lernte die Stadt lieben. Die Stadt und den Grafiker Busso Malchow, der sie heiratete und ansonsten unbekümmert sein Leben als Bohemien weiterführte. Er behielt seine eigene Atelierwohnung am Prager Platz, wohin er sich oft zurückzog.

Dina, die Tochter, erzählte Jahrzehnte später im Gespräch mit der Journalistin Susanne Simon: „Künstler brauchen ein gewisses Fluidum, um arbeiten zu können. Und so ein Künstler guckt sich auch andere Frauen an. Blöde Klatschweiber haben das meiner Mutter hinterbracht. ,Na, soll er sich dauernd nur meine Beine ansehen?‘, sagte sie. ,Der kann sich ruhig auch andere ansehen.‘ Sie war sehr großzügig.“

Busso Malchow hat mit seinen Scherenschnitten viele Zeitschriften und Bücher illustriert, und er schuf das Logo des Ullstein-Verlages, die Eule. „Mich nahm er sonntags mit in den Zoo, er malte Tiere. Einmal bin ich bei ihm über Nacht geblieben. Da hat sich meine Mutti schreckliche Sorgen gemacht, denn das war bereits in der schlimmen Zeit. Und tatsächlich, eines Abends war ich draußen und sah die Synagoge brennen. Ich rannte weinend nach Hause. Meine Mutti sagte: ‚Jetzt wird’s ernst, jetzt kommen die Pogrome.‘ “

„Vom Keller aus hörten wir die Bomben fallen“

Die „privilegierte Mischehe“ mit einem „Arier“ schützte Mutter und Tochter einige Jahre. Aber im Frühjahr 1943 wurden sie in die Große Hamburger Straße befohlen. „Ein Ordner, der mich mochte, versuchte uns zu beruhigen: ,Ihr kommt nach Galizien, nach Spanien, macht euch keine Sorgen!‘ Aber wir wussten es besser. Und da ließ er uns einfach laufen! Wir rannten zu Tante Erna, einer Freundin meiner Mutti. Die hat sofort begriffen und versteckte uns im Keller. Zweieinhalb Jahre haben wir dort illegal gelebt. Gehaust. Keinen Moment durften wir den Keller verlassen.“

Erna Walter, die selbst mit einem Juden verheiratet war, betrieb ein Wild- und Geflügelgeschäft, so konnte sie die beiden Frauen ernähren. Alle im Haus wussten, dass sie sich im Keller versteckt hielten. Keiner verriet sie. Ein Polizist warnte Tante Erna, wenn Kontrollen anstanden. „Vom Keller aus hörten wir die Bomben fallen, das war furchtbar. Aber im Entsetzlichen war etwas Gutes. Die Gestapo hatte weniger Zeit, nach uns zu suchen. Wir waren ja nicht die einzigen Illegalen in der Stadt. Und endlich, 1945, kam der Russe. Ich kann Ihnen sagen, ich habe nichts gegen Russen, sie haben uns befreit und waren lieb zu uns. Der Erste, den wir sahen rief: ,Woda, woda!‘ Tante Erna verstand nicht. Meine Mutti flüsterte: ‚Erna, er will nur Wasser.‘ Er trank das Glas Wasser in einem Zug aus und tanzte mitten in der Küche. Dann gingen wir auf die Straße, unfassbar, so plötzlich zu sehen, was uns bislang nur zu Ohren gekommen war: zwischen den Trümmern die Landwehrstraße, zum Teil unbeschädigt; Tante Ernas Haus unbeschädigt, ein Wunder. Weil sie uns gerettet hat?“

Tante Erna wurde Jahre später enteignet und musste aufs Land ziehen. Dina und ihre Mutter gingen nach West-Berlin. Mithilfe eines amerikanischen Offiziers bezogen sie eine Wohnung in Zehlendorf. „Der Amerikaner fragte meine Mutti, ob er für uns in Uniform zum Wohnungsamt gehen solle. ‚Ja, natürlich‘, sagte sie, ‚die Deutschen stehen stramm vor jeder Uniform!‘ “

Im Heim nörgelte sie niemals über das Essen

Dina erlernte den Beruf der Kosmetikerin, ein künstlerischer, wie sie fand. Ausgeübt hat sie ihn nie. Sie lebte mit ihrer Mutter, und nach deren Tod blieb sie in der kleinen Wohnung, bis sie ins Pflegeheim kam. „Ich habe keine Verwandtschaft, die mir hätte helfen können. Die meisten sind ausgerottet, leider, und ein kleiner Teil lebt heute in Israel. Ich selbst war ein halbes Jahr in Jerusalem. Aber das Geld hat nicht gereicht für ein Leben dort. So werde ich hier meine Lebenskarriere beschließen. Wo soll ich denn jetzt noch hin?“

Im Heim fiel sie schon allein deshalb auf, weil sie nie schlechte Laune hatte und niemals über das Essen nörgelte. In ihrem kleinen Zimmer bewahrte sie eine Sammlung von Chanukka-Leuchtern auf, Lithografien von Chagall, Ölbilder israelischer Maler und viele, viele Bücher. Solange es ging, feierte sie den Schabbat in der Synagoge. Sie zweifelte nie an Gott, obwohl er ihr doch so viele dunkle Tage zugemutet hatte. Aber wenn sie Estrongo Nachama, den Kantor, singen hörte, dann ging immer wieder aufs Neue ihr Herz auf. Wer auf Gott vertraut, für den ist Musik eine Himmelsleiter in Tönen.

Dina war nie böse auf irgendwen. Mit Hass kann man nicht leben, das war die Lektion, die sie gelernt hatte und die sie so lange froh am Leben festhalten ließ. Sie trug gern schöne Tücher und Ringe und mit Stolz eine rote Baskenmütze als Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Einen Mann gab es in ihrem Leben nicht. Die Tasche mit Fotos von ihrer Mutter, Ausweisen und anderen wichtigen Unterlagen behielt sie stets in Reichweite. Falls sie doch noch einmal verschwinden musste.

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