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Strukturierte Offensive. Martina Tittel, Geschäftsführerin der Nicolaische Buchhandlung Berlin in Friedenau.

© Amin Akhtar/promo

Sie führt die älteste Buchhandlung Berlins: „Ich habe einfach das gemacht, was gemacht werden musste. Punkt.“

Aus dem besetzten Haus ins Top-Management: Heute ist Martina Tittel Inhaberin der bekannten Nicolaischen Buchhandlung.

Mit Charaktereigenschaften ist das so eine Sache: Sie können einem zum Verhängnis werden – oder einen retten und auf einen Weg bringen, den man sonst nie gegangen wäre. Bei Martina Tittel gibt es zwei dieser Eigenschaften, die sie prägen: „Sturer Wille und Strukturiertheit“, erzählt die 62-Jährige, die seit 2015 Inhaberin der Nicolaischen Buchhandlung in Friedenau ist – der ältesten Buchhandlung Berlins.

Ihr Wille und ihr Organisationstalent hatten sie vorher schon in Top-Positionen bekannter Warenhäuser, eines Telekommunikationskonzerns, einer Bank und beim Kulturkaufhaus Dussmann gebracht. Doch ihr Weg beginnt in bescheidenen Verhältnissen und ist nicht immer einfach und geradlinig gewesen. An der Donaustraße, Ecke Elbestraße, in Neukölln wächst Martina Tittel zunächst in einer Altbauwohnung bei Mutter und Stiefvater auf.

Als sie noch klein ist, passt die Oma manchmal auf und liest ihr abends vor. Doch weil sie oft selbst schon müde war, hat sie die Märchen für die kleine Martina einfach abgekürzt. „Oma, so geht das nicht, du musst alles lesen, habe ich ihr dann immer gesagt“, erzählt Tittel. „Daraufhin habe ich beschlossen, mir das Lesen noch vor der Einschulung selbst beizubringen.“

Als sie zehn Jahre ist, zieht sie 1968 mit der Familie in eine Wohnung der neugebauten Hochhaussiedlung Gropiusstadt im Süden Neuköllns: Elfter Stock, Warmwasser, Zentralheizung. Damals ein Paradies, sagt Martina Tittel, denn sie bekam ihr eigenes Zimmer, die Küche war so groß, dass ein Esstisch reinpasste, und es gab einen Balkon.

In der Schule ist Martina Tittel überall gut, „ein Allround-Talent“, sie spielt Theater in der AG, macht viel Sport: erst Handball, dann Volleyball als Leistungssport. Die Gegend, in der sie heranwächst, ist problematisch. „Überall Pisse und Kacke“, so beschreibt die wohl bekannteste Gropiusstadt-Bewohnerin Christiane F. und Hauptfigur des Romans und der Neuverfilmung „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ die Umgebung, bevor sie in den Drogensumpf gerät.

Um das Abitur muss sie kämpfen bei den Eltern

Martina Tittel ist in anderen Cliquen unterwegs, bei den Volleyball-Mädels vom SCC Charlottenburg, und seit ihrem Konfirmationsunterricht ist sie in der Kirchengemeinde eingebunden. Das Abitur will sie unbedingt machen. Doch die Eltern, erzählt Tittel, fanden, dass der mittlere Schulabschluss reiche, sie solle irgendwann heiraten. Tittel gibt nicht nach. Eine Lehrerin ist es, die die Mutter endlich überzeugen kann.

Preisgekrönt. Anfang Juli 2021 wurde die Nicolaische Buchhandlung in der Rheinstraße in Friedenau mit einem Branchenpreis ausgezeichnet.
Preisgekrönt. Anfang Juli 2021 wurde die Nicolaische Buchhandlung in der Rheinstraße in Friedenau mit einem Branchenpreis ausgezeichnet.

© Kai-Uwe Heinrich

Schon mit 17 geht Martina Tittel ihren eigenen Weg. Weil es zu Hause viel Streit unter den Eltern gab, wendet sie sich an das Sozialamt, boxt durch, dass sie ausziehen kann. Das Amt zahlt ihr in Rudow ein kleines Ein-Zimmer-Haus, eine ehemalige Schusterwerkstatt – eine Toilette und keine Dusche. „Ich wollte mich in Ruhe auf mein Abitur vorbereiten“, sagt Tittel. Diese Strukturiertheit im Jugendalter wird ihr auf ihrem Karriereweg noch hilfreich sein.

Nach dem Abitur macht sie eine mehrjährige Ausbildung als Handelsassistentin, ihr „Heimatstandort“ ist das Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz. Doch Handel auf Dauer? Nee, denkt sie damals. Das ist nichts.

1978 gründet sie die Alternative Liste (AL) in Berlin mit

Sie fängt nach der Ausbildung Mitte der 70er Jahre an der Freien Universität ein Biologie- und Germanistik-Studium an, will zunächst Lehrerin werden, muss als Kellnerin jobben, um das zu finanzieren.

1978 ist sie Mit-Gründerin der Alternativen Liste (AL), eine selbstständige Partei, die ab 1980 ein Landesverband der Grünen wurde. Anfang der 80er Jahre schließt sich Martina Tittel der Hausbesetzer-Bewegung an, lebt mit anderen in einem Haus am Richardplatz in Neukölln, das abgerissen werden soll. Sie kocht für 30 Leute in riesigen Töpfen Essen, lernt Fenster zu verglasen, ist weiterhin politisch engagiert, jobbt immer nebenbei.

"Ich wollte nicht in die Arbeitslosigkeit hineinstudieren", sagt Martina Tittel

„Die 60- bis 80-Stunden-Wochen haben damals schon angefangen bei mir“, sagt Tittel. Über einen Bekannten wird sie gefragt, ob sie, die ja aus dem Handel kommt, nicht in Kreuzberg beim linken Verlag Elefantenpress Urlaubsvertretung für deren Bücherverkauf machen möchte. Martina Tittel ist begeistert, nach den sechs Wochen bietet man ihr die Leitung dort an.

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Als das Möbelhaus Ikea in Spandau die Idee hat, im Eingangsbereich Buchabteilungen zu etablieren, „mit Büchern, die zum Publikum passen“, so beschreibt es Tittel, kam wieder ein Jobangebot. Sie baut die Abteilungen für das Möbelhaus auf, wählt die passende Lektüre aus, von Spiegel-Bestsellern zu Wohn- und Gartenbüchern. Martina Tittel muss sich nun entscheiden: Studium weitermachen oder Karriere im Buchhandel? 

„Ich wollte nicht in die Arbeitslosigkeit hineinstudieren“, sagt Tittel und entscheidet sich für das, woran ihr Herz hing: Buchabteilungen aufbauen.

Serie: Frauen in der Berliner Wirtschaft.
Serie: Frauen in der Berliner Wirtschaft.

© Illustration: Pedro Santos/TheNounProject; Tsp

Eine kluge Entscheidung. Tittel startet durch. Bei Wertheim am Ku’damm hat sie als stellvertretende Abteilungsleiterin mit Ende 20 ihre erste Führungsposition. Ob sie gar keine Sorge hatte, es nicht zu schaffen? „Ich habe einfach das gemacht, was gemacht werden musste. Punkt“, sagt sie. Wieder so ein Prinzip im Leben von Martina Tittel. „Aber natürlich hatte ich auch Gummiknie.“

Weitere Folgen aus unserer Serie "Frauen in der Berliner Wirtschaft":

Auf Wertheim folgt die Buchfilialkette Montanus (heute Thalia). Es ist das Wendejahr 1989. Und wonach verlangen die Leute, die aus Ost-Berlin kommen und bei ihr einkaufen? Strickhefte. „Also habe ich die Strickhefte wie blöd geordert“, erzählt sie. Ihre Vorgesetzten sind nicht begeistert, das sei doch gar nicht das Kernsortiment, mosern sie. Doch der Erfolg gibt Martina Tittel recht: „Wir haben eine Million Umsatz mehr gemacht durch die Strickhefte.“

"Ich bin doch gar keine Bankerin", sag sie. "Egal, Sie können organisieren, nur darum geht es", sagt der Mann.

Erfolg hin oder her, bald wechselt Martina Tittel doch noch die Branche. „Bauen Sie für uns die Immobilienabteilungen in den neuen Ländern auf“, bietet ihr ein ehemaliger Chef an. Er ist Vorstand einer Bank. „Aber ich bin doch keine Bankerin“, entgegnet Tittel. „Egal, sie können gut organisieren, nur darum geht es“, sagt der Mann. Und so pendelt Martina Tittel die nächsten Jahre zwischen Leipzig, ihrer Zweitwohnung, und Berlin, wo ihr Mann und ihr Ziehsohn leben.

Tittel vernetzt die Architekten, Ingenieure, EDV-Leute miteinander, liest Baupläne, und ermahnt alle so mit ihr zu sprechen, dass sie es versteht. Am Ende leitet sie 40 Bankfilialen in Berlin und weitere in Magdeburg. Bis ein Headhunter kommt und sie für den damaligen Mobilfunkanbieter D2, heute Vodafone, abwirbt. Wieder tut Tittel das, was sie kann: Organisieren, die Fäden zusammenhalten, Filialketten ausbauen.

Als sie dort nicht weiter vorankommt mit der Karriere, landet sie im Kulturkaufhaus Dussmann als Geschäftsführerin. Angefangen in roten Zahlen, sei ihr das fast Unmögliche gelungen: Nach einem halben Jahr habe die schwarze Null gestanden. So, wie es der alte Chef, Peter Dussmann, gefordert habe. Tittel hat das Kulturprogramm ausgeweitet, startet Kooperationen mit dem Tipi, organisiert Jazz-Feste, sie holt Chansonnier Tim Fischer zum Live-Konzert ins Haus. Sechs Jahre geht das gut, doch dann der Bruch. Sie überwirft sich mit dem Chef, über Details spricht Martina Tittel nicht öffentlich. Nur so viel: Sie behauptet, es sei für sie demütigend gewesen, wie sie entlassen wurde nach all den Jahren. Das alles nur, sagt sie, weil sie zu sich gestanden habe, betont sie.

Martina Tittel braucht danach erstmal Ruhe, nimmt sich eine Auszeit. Dann beginnt sie als freie Unternehmensberaterin neu. Doch was tun, wenn die Leute, die sie berät, nicht das tun, was sie sie ihnen rät? Auf Dauer frustriert so etwas. „Ich kaufe mir jetzt eine Buchhandlung“, hat Tittel sich dann gesagt. Und wieder ein Zufall, wenn es denn so etwas wie Zufälle überhaupt gibt: Jemand, den sie kennt, bietet ihr die Nicolaische Buchhandlung in Friedenau als Hauptgesellschafterin an, er bleibt Minderheitengesellschafter. „Und was habe ich als Erstes gemacht? Vollständig renoviert“, sagt Martina Tittel. Der Laden sei „natürlich zugewachsen gewesen“.

[350.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Sigrid Kneist, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Tempelhof-Schöneberg. Den gibt es hier: leute.tagesspiegel.de]

Mittlerweile hat Martina Tittel, die auch im Handelsverband und in der IHK aktiv ist, einen eigenen Youtube-Kanal für Online-Lesungen und eine Facebookseite für ihren Laden aufgebaut. Durch die Coronakrise ist sie ganz gut gekommen mit ihrem Team, sagt Tittel, denn glücklicherweise durften die Buchläden in Berlin offenbleiben. Kürzlich hat die Nicolaische Buchhandlung den Deutschen Buchhandlungspreis als eine von neun Berliner Preisträgern gewonnen.

Sicher kein Zufall, denn wenn sie etwas gelernt hat, dann Dinge zu strukturieren und aufzubauen.

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