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Sie werden vermisst. Diese ältere Frau engagierte sich im Ehrenamt bei der Schulhilfe.

© imago/S. Stickforth

Sie fehlen im Alltag: Ältere Ehrenamtliche werden in der Corona-Krise vermisst

Viele ältere Berliner sind als Ehrenamtler beliebt und gefordert. Wegen der Corona-Gefahr halten sie sich nun zurück. Es gibt aber auch Chancen in der Krise.

Kinder warten sehnsüchtig auf einen Besuch vom Wahlopa. Oberschüler vermissen die Vertrauensperson, der sie auch vom Streit zu Hause erzählen konnten. Alleinstehende Rentner können keinem Ehrenamtlichen vom Besuchsdienst mehr Kaffee und Kuchen anbieten. Sie fehlen im Alltag, die ehrenamtlich aktiven Senioren, die in Berlin in vielen gesellschaftlichen Bereichen dafür sorgen, dass das soziale Miteinander gut funktioniert.

Weil ältere freiwillige Helfer sich als potenzielle Hochrisikopatienten aus Sorge vor einer Infektion mit dem Coronavirus nicht mehr mit ihren Schützlingen treffen können, ruhen große Teile der Versorgung durch Engagierte. Viele soziale Träger haben sogar Sorge, ihre Angebote nach Corona nicht mehr anbieten zu können, weil Senioren sich umorientiert haben und als Helfer fehlen. Doch die Krise bietet auch Chancen – manch 70-Jährige ist inzwischen Profi in Videotelefonie übers Handy. Eine Umarmung ersetzt das nicht.

„Viele soziale Einrichtungen mussten schließen und haben ihre haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter nach Hause geschickt“, sagt Carola Schaaf-Derichs, Geschäftsführerin der Landesfreiwilligenagentur Berlin e.V.. Vielerorts seien in der sozialen Versorgung „nachhaltig Lücken aufgebrochen“.

So könne keine virtuelle Konferenz am Handy kleinen Kindern und ihren gestressten alleinerziehenden Müttern das ersetzen, was Wunschgroßeltern an pädagogischer Hilfe und praktischer Unterstützung abnehmen. „Da braucht es unmittelbare Nähe, was wegen der Corona-Regeln nicht geht.“

Helga Krull vom Großelterndienst berichtet: „Es ist für die Senioren schwierig, die auch ihre Familien vermissen, und es ist für die Familien schwierig, denen Entlastung fehlt.“ Mehr als 400 Wunschgroßeltern seien jetzt in der Alleinerziehendenstadt in der Warteschleife, oft in selbst auferlegter Sicherheitsquarantäne. „Trotz WhatsApp und Skype fehlt etwa das Spielen“, sagt Krull. Neue Kontakte können nicht angebahnt und vermittelt werden.

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Der Senat umwirbt Senioren gezielt

In Berlin ist jeder Dritte ehrenamtlich engagiert, ein großer Teil davon sind Rentnerinnen und Rentner. Der Senat umwirbt Ältere sogar gezielt fürs Ehrenamt, damit Fachleute die im Arbeitsleben erworbenen Qualifikationen benachteiligten Menschen zugute kommen lassen können – Hilfe bei Rechtsstreitigkeiten, Bürokratie- und Ämter-Angelegenheiten. Doch das geht jetzt, wenn überhaupt, viel langsamer und eingeschränkter nur über Telefon, E-Mail, Skype oder Messengerdienste wie Signal oder WhatsApp.

Bei der Landesfreiwilligenagentur stockt die Vermittlung von neuen Helfern, denn Ehrenamtskoordinatoren sind selbst oft älter – oder können Interessenten nicht mehr persönlich kennenlernen und einsetzen. „Es ist ein Kraftakt für die Zivilgesellschaft, dieser Phase standzuhalten“, sagt Schaaf-Derichs. Auch beim Deutschen Roten Kreuz ruht vieles, denn zu deren Kreisverbänden, Kleiderkammern und anderen Stellen müssen viele Ehrenamtliche jetzt auf Abstand gehen, ob sie wollen oder nicht.

„Ich halte zu meiner Enkeltochter Kontakt über Signal“, erzählt Birgit Johannssen, Vorsitzende von Seniorpartner in School e.V.. Auch beim Landesverband spielen digitale Medien nun eine entscheidende Rolle, denn die fast 200 Seniorenpartner an 55 Berliner Schulen können ihre Funktion als Mediatoren- und Vertrauensperson für benachteiligte Kinder seit Wochen nicht mehr wahrnehmen.

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„Unsere Ehrenamtlichen sind im Schnitt Mitte 60 und können wegen Corona nicht für die Jugendlichen im persönlichen Kontakt da sein.“ Sie bekomme Mails, in denen pädagogisch ausgebildeten Seniorenpartner davon erzählen, wie sehr sie sich danach sehnen, endlich wieder loslegen zu können.

Es gibt dringenden Bedarf, denn Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit Erfahrungen häuslicher Gewalt haben sie nicht mehr als externen Ansprechpartner. Da es sich um ein an die Schulleitungen angebundenes Engagement-Projekt handelt, haben beide Seiten weder private Rufnummern, noch sollen sie selbstständig ohne Absprache mit den Direktoren vorgehen. Es werde überlegt, ob es Treffen draußen mit der Zwei-Meter-Abstandsregel geben könne.

Eine Zeit der Herausforderung

Doch Engagierte geben nicht schnell auf, der innere Motor läuft oft weiter. Birgit Johannssen sagt, es sei auch eine Zeit der Herausforderung, an der man wachsen könne. Sie würden jetzt „Webinare“, also Videokonferenzen anbieten, als Fort- und Weiterbildung über die Zwangspausenzeit hinweg – und auch, um die älteren Ehrenamtlichen weiter zu binden.

Auch die Berliner Tafel äußerte schon Sorge, dass das Virus wegen der besonderen Gefährlichkeit für ältere und vorerkrankte Menschen, die so wichtigen älteren Engagierten längerfristig ausbremst. Und sie dann aus Sorge um die eigene Gesundheit wiederum der Zivilgesellschaft verloren gehen, auch als Großelternersatz für die in Berlin vielfach ohne Oma und Opa aufwachsenden Kinder.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die Berliner Tafel erlebt trotz coronabedingter geschlossener Ausgabestellen steigende Nachfrage, viele Menschen verloren schon Arbeit und Einkommen. Die Ausgabestellen waren geschlossen worden, weil die im Schnitt älteren Ehrenamtlichen nicht mehr unter Leute durften. Die deutschen Tafeln befürchten, sie könnten gänzlich wegbleiben, obwohl künftig doch wegen zunehmender sozialer Notlagen infolge der Coronakrise die Nachfragen zunehmen. Zugleich könnten in Zukunft weniger Betriebe finanzstark als Unterstützer oder Lebensmittelspender der Berliner Tafel zur Seite stehen.

Carola Schaaf-Derichs von der Landesfreiwilligenagentur zeigt sich trotz aller Nöte optimistisch. „Wir befinden uns in einer gigantischen Transformation weg vom analogen, hin zum Wirken mit digitaler Unterstützung.“ Sie zählt auf ihre Ehrenamtlichen. Auch Berliner zwischen 60 und 80 seien begierig nach sinnvollem Tun im Unruhestand – und bereit zu lebenslangem Lernen.

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