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Martin Breibert, der Leiter des Kinderschutz-Zentrums Berlin, wünsche für seine Schützlinge eine neue Schaukel.

© Sven Darmer

Sicherheitszone für Opfer von Misshandlungen: Das Kinderschutz-Zentrum Berlin gibt neuen Lebensmut

In ihren Familien misshandelte Kinder finden in einer Steglitzer Villa einen Alltag mit Gute-Nacht-Geschichten und Wärme. Die Einrichtung bittet um Spenden.

Auch in diesem Jahr bittet der Tagesspiegel bei der Weihnachtsaktion „Menschen helfen!“ um Spenden der Leser. Wie bei jeder Spendenrunde wollen wir auch mit der 29. Aktion bei jenen Problemen und Krisen helfen, über die wir im Jahresverlauf öfter berichtet haben: Corona-Pandemie, Obdachlosigkeit in Berlin, Klimakrise weltweit, humanitäre Krise in Afghanistan.

Wir stellen in unserer Spendenserie einige Projekte stellvertretend für alle 42 vor, für die wir Gelder sammeln. Heute: das Kinderschutz-Zentrum Berlin e. V.

Paul (Name geändert) hat den Schneeball so lange über den Rasen gewälzt, dass er jetzt die Größe eines überdimensionalen Fußballs hat. Und nun thront der Sechsjährige darauf wie Münchhausen auf seiner Kanonenkugel, fröhlich lachend, eingehüllt in eine dicke Skijacke. Es ist 11.30 Uhr, ein kalter Tag im Dezember, und Paul hat den ganzen Garten für sich.

Eine Schaukel steht da, ein Fußballtor, ein Buddelkasten, ein Basketballkorb, ein Klettergerüst, theoretisch hat er die freie Auswahl. Der Buddelkasten freilich macht in der Kälte nicht viel her, der Sand ist gefroren, da kann niemand spielen.

Paul müsste natürlich jetzt eigentlich in der Schule sein, geht aber nicht, er ist zurückgestellt, er hat erhebliche Entwicklungsverzögerungen. Er kann sich kaum ausdrücken, wer ihm zum ersten Mal zuhört, versteht ihn schlicht nicht.

Der sechsjährige Paul wurde von seinem Stiefvater misshandelt

Die konkreten Ursachen für die Probleme sind schwer zu benennen. Aber viel spricht dafür, dass sie auch mit dem Grund zusammenhängen, aus dem Paul seit sechs Monaten in einer Villa in Steglitz lebt. Paul wurde von seinem Stiefvater massiv körperlich misshandelt.

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Und die Villa ist auch nicht nur ein normales schönes Gebäude mit großem Garten, hier ist das Kinderschutz-Zentrum Berlin. Im Garten steht auch Martin Breibert, der Leiter des Zentrums, und sagt: „Zu uns kommen Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen werden mussten.“ Weil sie geschlagen wurden, weil sie häusliche Gewalt gegen die Mutter miterlebt haben, weil sie psychische Gewalt ertragen mussten, weil sie sexuell missbraucht oder vernachlässigt wurden. Oft gibt es eine Kombinationen der fürchterlichen Gründe.

Das Jugendamt schickt Opfer ins Kinderschutz-Zentrum

Wenn das Jugendamt eingeschritten ist, kommen die Kinder zu Breibert und seinen Kollegen. Das Jugendamt schaltet bei Bedarf auch die Polizei ein, wenn es nötig ist, eine Anzeige zu erstatten. Die Experten des Jugendamts sind dazu befugt, die Familie zu kontrollieren.

„Aber wir“, sagt Breibert, „haben keine Wächterfunktion, wir versuchen, mit den Eltern in Kontakt zu kommen, damit sich die Situation entschärft.“ In zwei Beratungsstellen des Vereins, in Neukölln und in Hohenschönhausen, sprechen Psychologinnen mit den Eltern. Sie versuchen auch herauszufinden, inwieweit diese das Problem überhaupt erfassen. Ob sie verstehen, was sie ihrem Kind angetan haben.

Viele Kinder sind traumatisiert

„Viele der Kinder sind traumatisiert“, sagt Breibert. „Wenn sie zu uns kommen, finden wir erst mal heraus, was sie brauchen, was ihnen guttut und wie sie sich wieder stabilisieren können.“ Sie sind in einem geschützten Raum, das ist der erste, der akut wichtigste Schritt. Die Gefahrenzone haben sie verlassen.

In der Villa werden sie mit viel Zuwendung und Empathie aufgefangen, von insgesamt sechs Sozialpädagogen, einer Psychologin und zwei Erzieherinnen. Auch Breibert ist Sozialpädagoge. Dazu kommt eine weitere Person, die den Haushalt erledigt, die einkauft und kocht.

Alle Plätze sind belegt

Neun Plätze hat das Zentrum, alle sind derzeit belegt, von Kindern zwischen vier und elf Jahren. Sie leben in einem behüteten Alltag mit Regeln, den sie so nicht kannten. Sie werden morgens freundlich geweckt. Kinder, die in die Schule gehen, werden bei den Hausaufgaben betreut und unterstützt. Das Abendbrot wird gemeinsam eingenommen, und ins Bett geht jedes Kind, wenn der Zeitpunkt altersgemäß angemessen ist.

Wer dann im Bett liegt, hört Gute-Nacht-Geschichten oder bekommt von den Betreuern Lieder vorgesungen. Handys sind verboten, auch als Sicherheitsmaßnahme. Breibert und sein Team möchten nicht, dass Eltern hinter dem Rücken der Betreuer mit ihren Kindern reden. Im schlimmsten Fall könnten die Eltern ihre Kinder beeinflussen und ihnen einreden, dass sie zurück nach Hause kommen sollen.

Die Kinder entdecken kreative Fähigkeiten beim Spielen

Und Fernsehen ist in der Villa maximal eine halbe Stunde am Tag erlaubt. Eine Regel mit sehr positiven Folgen, und die sind schnell zu sehen. Die Kinder entdecken die Freude am gemeinsamen Spiel, sie entdecken ihre Kreativität, sie erleben geordnetes soziales Leben. In seinem früheren Alltag saß Paul neben seinen Eltern vor dem Fernseher und verfolgte Horrorfilme. Weder seine Mutter noch seinen Stiefvater kümmerte es.

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Pauls Schwester lebt ebenfalls in einer Einrichtung, allerdings nicht im Kinderschutz-Zentrum. „Die beiden hatten sehr wenig miteinander zu tun, deshalb sind sie an verschiedenen Orten“, sagt Breibert. Oft aber kommen Geschwister gemeinsam ins Zentrum. Derzeit lebt ein Siebenjähriger mit seiner vierjährigen Schwester in der Villa. Die ältesten Kinder, die hier wohnen können, sind 14 Jahre alt. „Die meisten Kinder“, sagt Breibert, „kommen aus Familien, die in prekären Verhältnissen leben, die Sozialhilfe erhalten, in denen viele Personen in kleinen Wohnungen sind.“

Die Mischung der Gruppen muss stimmen

Breibert lehnt auch Kinder ab, gezwungenermaßen allerdings nur. „Nein“, sagt er immer dann, wenn er denkt, dass die Mischung nicht stimmt. Es mache keinen Sinn, ein 13-jähriges Mädchen aufzunehmen, wenn der Rest der Gruppe aus fünf- oder sechsjährigen Jungen bestehe. Für die 13-Jährige werde dann ein anderer Platz gesucht.

Wie lange die Kinder hier leben, ist völlig offen. Die Eltern geben die Antwort, genauer gesagt: ihr Verhalten. Erst wenn die Psychologinnen der Beratungsstelle, die Mitarbeiter des Kinderschutz-Zentrums und das Jugendamt den Eindruck haben, dass die betroffenen Eltern sich geändert haben, wenn sie also in der Lage sind, ihre Kinder so fürsorglich zu erziehen, wie das nötig ist, erst dann bekommen sie ihr Kind zurück. Vorher aber müssen Fragen geklärt sein: Nehmen die Eltern die Hilfsangebote an? Absolvieren sie nötige Therapien? Akzeptieren sie die Auflagen des Jugendamts?

Sollte Paul wieder zurückgehen, dann steht er unter dem Schutz wachsamer Augen. „In den Haushalt kommt dann eine Familienhelferin“, sagt Breibert. Und selbstverständlich gehe Paul dann in eine Schulform, die zu ihm passe. „Eine Kleingruppe zum Beispiel.“

Nur ein Drittel der Kinder darf zu seinen Eltern zurück

Die Antwort auf eine andere Frage ist ernüchternd. Wie viele Kinder dürfen zu ihren Eltern zurückgehen? Da presst Breibert die Lippen zusammen und starrt sekundenlang in den Raum. Ein sensibles Thema. „In den vergangenen zehn Jahren ein Drittel“, sagt er dann. „Und das ist schon großzügig gerechnet.“ Es gibt zu viele Eltern, die ihrer Aufgabe auch nach der Beratung nicht gewachsen sind.

[Spenden können Sie bitte an folgendes Konto überweisen: Empfänger: Spendenaktion Der Tagesspiegel e. V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse BIC: BELADEBE, IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. Bitte Namen und Anschrift für den Spendenbeleg notieren. Infolge der Einschränkungen der Corona-Pandemie bitten wir um etwas Geduld bei der Zusendung des Spendenbelegs. Auch Online-Banking ist möglich.]

Immerhin, sagt Breibert, „ist Pauls Mutter auf dem Weg der Besserung. Sie muss aber noch begreifen, welche Rolle sie gegenüber ihren Kindern spielen muss.“ Die Frau hatte die Misshandlungen nicht verhindert. Sie hat jetzt wieder ein Kind bekommen, es ist ein Jahr alt. Ob das Jugendamt beim gewalttätigen Stiefvater die Polizei eingeschaltet hat, weiß Breibert nicht.

Die Kinder benötigen neue Spielgeräte

Aber er weiß sehr genau, was die Kinder akut benötigen. Der Spielplatz im Garten muss erneut werden, deshalb bittet er um die Spenden der Tagesspiegel-Leser. Der Buddelkasten muss endlich renoviert und der Sand ausgetauscht werden. Das Spielhaus zum Klettern muss dringend restauriert werden, auch die Schaukel, von den Kindern heiß geliebt, ist inzwischen altersschwach, sie muss ersetzt werden.

Die Kinder sind auf den Garten angewiesen. „Der Besuch öffentlicher Spielplätze ist uns zeitweise wegen der Bedrohungssituationen durch Familien nicht möglich“, sagt Breibert. Deshalb ist auch die genaue Adresse der Villa geschützt. Wie lange Paul hier noch leben wird, ist unklar. Die Entscheidung, ob er zurück zu seiner Familie darf, ist noch nicht gefallen.

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