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Politisch Bunt: Rotes und grünes Ampelmännchen leuchten zugleich an einer Fußgängerampel. Die Farbenspiele sind auch in Berlin eröffnet - im Herbst wird gewählt.

© imago/imagebroker/obermeier

Sicheres Ticket für Rot-Rot-Grün?: Darum könnte nach der Senatswahl in Berlin alles anders aussehen

Die Wahlen im Südwesten zeigen, dass Bewegung im politischen System ist. Auch in Berlin werden für den Herbst neue Koalitionen erwogen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Julius Betschka

Es wird in Gedanken fröhlich durchgemischt im sonst so seriösen Deutschland: Von Jamaika bis zu Kenia, von der Ampel- bis zur Turnschuh-und-Currywurst-Koalition scheint vieles möglich. Die politische Farbpalette in Deutschland wirkt gerade so bunt wie nie. Ein halbes Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl bleibt Berlin selbst aber stabil.

Zwischen Köpenick und Spandau erscheint die Mehrheit der rot-rot-grünen Koalition sogar betonfest. Das Bündnis findet konstant zwischen 55 bis 60 Prozent Wählerzustimmung – mal profitieren die Linken, lange Zeit die Grünen, jetzt holt die SPD auf. Zugleich bewerten die Berliner ihre Regierung konstant schlecht.

Die Corona-Politik wurde Ende 2020 in keinem anderen Bundesland so negativ bewertet, rund zwei Drittel der Menschen sind grundsätzlich unzufrieden. Alternativlos ist der Zweckverbund längst nicht mehr, in der Koalition sprechen Einzelne vom Abschied, über die Schwerfälligkeit von Dreierbündnissen generell.

Die Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz versprechen drei Trends, die bis zum 26. September auch Berlin durcheinanderwirbeln könnten. Erstens scheint die Macht der CDU in der Breite zu erodieren. Die Korruptionsaffäre dürfte sich durch die vielen Briefwahlstimmen bislang kaum ausgewirkt haben.

Zielgruppe: Die Besserverdiener in der Torstraße

Eine generelle Unzufriedenheit mit der Dauerregierungspartei setzt sich fest, die selbst die Älteren in Baden-Württemberg zu den Grünen trieb. Wo die Union noch erfolgreich ist, stehen Typen zur Wahl, Charismatiker: Weder der nüchterne Kai Wegner noch der leicht schluffig wirkende Armin Laschet fallen in diese Kategorie. Ohne die Bindungskraft von Angela Merkel ist ein Absturz nicht ausgeschlossen. Darauf spekuliert in Berlin die SPD mit ihrem Wahlkampf der Mitte.

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Zweitens bestätigen die Grünen ihre neue Stärke in der Breite der Gesellschaft. Auch ohne einen klassischen Klima-Wahlkampf  –  Winfried Kretschmann mag ja Daimler-Motoren – gewinnt die ehemalige Ökopartei bei den Landtagswahlen dazu. Plus 2,3 Prozentpunkte beziehungsweise plus vier Prozentpunkte stärken die Regierungsambitionen in ganz Deutschland.

Berlins Spitzenkandidatin Bettina Jarasch sprach am Sonntag von einem „fantastischen Start“ in das Wahljahr. In beiden Ländern traten die Grünen aber ausgesprochen bürgerlich auf, gewannen gerade in Baden-Württemberg Direktmandate wie früher nur die CDU. Mit Jarasch hat die Berliner Partei von daher die passende Kandidatin aufgestellt. Ob das reicht, damit die Besserverdiener von der Torstraße den starken Linksaußen-Flügel der Partei vergessen?

Bislang unbekannt: Bettina Jarasch, Bündnis 90/Die Grünen in Berlin, spricht bei der digitalen Landesdelegiertenkonferenz im Estrel Hotel.
Bislang unbekannt: Bettina Jarasch, Bündnis 90/Die Grünen in Berlin, spricht bei der digitalen Landesdelegiertenkonferenz im Estrel Hotel.

© Annette Riedl/dpa

Beide Wahlen legen, drittens, eine Schwäche von Jarasch offen: fehlendes Profil, fehlende Bekanntheit. Zumindest bislang. Ministerpräsidentenwahlen sind Personenwahlen, immer mehr. In Rheinland-Pfalz ist Regierungschefin Malu Dreyer äußerst beliebt, 52 Prozent wählten ihretwegen die SPD.

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Winfried Kretschmann hat den Merkelismus, das Unideologische, fast besser drauf als die Kanzlerin selbst. Bei einer Direktwahl hätten ihn 70 Prozent der Baden-Württemberger gewählt. In Berlin erfüllt diese Ansprüche bislang nur eine Kandidatin: Franziska Giffey. Die Familienministerin ist ähnlich pragmatisch, bekannt und beliebt. Kommt ihr nicht weiterer Ärger um ihre Doktorarbeit dazwischen, könnte das die Sozialdemokraten in neue Höhen tragen.

Franziska Giffey hat als Familienministerin und ehemalige Neuköllner Bürgermeisterin einen großen Vorteil: Sie ist bekannt - und beliebt.
Franziska Giffey hat als Familienministerin und ehemalige Neuköllner Bürgermeisterin einen großen Vorteil: Sie ist bekannt - und beliebt.

© imago images/Jens Schicke

Für einen polarisierten Wahlkampf und neue Bündnisse spricht auch, dass am Wahltag wohl eine Grundsatzentscheidung ansteht: Sollen große Wohnungsunternehmen enteignet werden – oder nicht? Die Antwort dürfte die Art des Zusammenlebens in der Stadt verändern.

Deshalb unterstützt die Linkspartei aktiv die Aktivisten. Deshalb hat die FDP die „Freiheit statt Sozialismus“-Kampagne sicher schon in der Tasche. Ein neues rot-rot-grünes Bündnis müsste diese Frage klären. Für die Giffey-SPD kommen Enteignungen kaum infrage, für das bürgerliche Lager der Grünen ebenso wenig. Das dürfte die Gedanken frei machen – für neue Farbenspiele.

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