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Unsere Autorin Anna Dombrowsky hat vergessen ein Foto zu machen. Leider ist sie momentan in Glasgow und berichtet vom schottischen Referendum. Daher seht ihr hier zwei Freundinnen unserer Fotografin.

© Emilie Schmit

Selbstversuch Trampen: Kostenlos von Berlin nach Leipzig?

„Wieso wollt ihr denn trampen?!“ Meine Eltern sind nicht gerade begeistert, dass meine Schwester und ich diesmal per Anhalter nach Leipzig fahren wollen. „Es gibt doch eine gute Busverbindung da hin! Die kostet nur sieben Euro!“ Darum geht es aber gar nicht. Wir wollen herausfinden: Kann man im Deutschland des 21. Jahrhunderts noch immer ohne Knete von einem Ort zum anderen reisen?

Wie spontan sind die Menschen hierzulande? Schließlich war der Straßenrand vor einigen Jahrzehnten noch die Haupthaltestelle der Jugend. Einige meiner Freunde trampen regelmäßig, und keiner wurde bisher gekidnappt. Wir versuchen, unsere Eltern zu besänftigen, indem wir ihnen versichern, auf die „Daumen-raushalten“-Variante zu verzichten. Stattdessen sprechen wir Autofahrer*innen an Tankstellen an. Hauptsächlich Paare, am liebsten jung und mit Kind.

Schon beim dritten Versuch werden wir mitgenommen - zu unserer Überraschung von einer spießig aussehenden Frau Ende dreißig mit einem Münchener Kennzeichen. Ihr Trollkind – Knubbelnase mit zottigen Haaren und starrem Blick – sitzt neben ihr auf dem Beifahrersitz. Die Frau brettert mit konstanten 200 km/h über die Autobahn und plaudert mit uns über Berlin, München und Busunternehmen. Schon nach einer Stunde sind wir auf dem IKEA-Parkplatz kurz vor Leipzig. Hier endet der Geschwindigkeitsrausch, denn die Frau geht mit Trollchen Mittag essen. Ich bin ihr dankbar aus zweierlei Gründen: Erstens hat sie uns schnell nach Sachsen gebracht. Zweitens hat sie trotz ihres Fahrtempos keinen Unfall gebaut. Hoffentlich sind die beiden gut in München angekommen.

Da wird die Rückfahrt ja das reinste Zuckerschlecken

Meine Schwester und ich sehen uns nach einer neuen Mitfahrgelegenheit um. Nach einer halben Stunde finden wir eine junge Frau. In schönstem Sächsisch erklärt sie uns: „Isch würde eusch mitnehmen, ober isch muss erst noch meine Muddi frogen.“ Muddi fährt nämlich den Mazda. Die beiden sind elegant gekleidet und sehen nicht so aus, als würden sie oft jemanden mitnehmen.

Aber es zeigt sich: Keine Macht den Vorurteilen! Nach einem Zwischenstopp bei OBI entlassen sie uns am Leipziger Hauptbahnhof. Triumphierend steigen wir aus. In zweieinhalb Stunden von Berlin nach Leipzig – das ist fast so schnell wie der Bus! Wir haben keinen Cent für Fahrtkosten ausgegeben! Da wird die Rückfahrt ein Zuckerschlecken. Schließlich wollen mehr Menschen von Sachsen in die Hauptstadt als umgekehrt. Dachten wir jedenfalls. Leider ist dem nicht so. Drei Tage verbringen wir in Leipzig, dann stehen wir an einer Tankstelle am äußeren Stadtring  und sprechen wieder Leute an. Der Himmel ist grau, es sieht nach Regen aus. Zwei Stunden lang fragen wir uns den Mund fusselig. Vergeblich.

Niemand will uns mitnehmen, nicht einmal ein Stück bis zur nächsten Raststätte. Eine Berliner Familie würde uns mitnehmen, aber leider besetzt ein riesiger Schäferhund die Rückbank. Die anderen Autofahrer*innen sind entweder zu wenig spontan oder wollen nicht auf die Autobahn. Die Stimmung ist trüb, wir ziehen bereits die Busfahrt in Betracht. Aufgeben. Wir müssen zum Hauptbahnhof. Die Expedition ist gescheitert.

Ikea, here we go again

Plötzlich, unerwartet, treffen wir auf eine junge Frau. Sie möchte nach Potsdam fahren und willigt ein, uns mitzunehmen. Welche Euphorie! Wir hatten nicht mehr erwartet, jemanden zu finden. Fröhlich steigen wir in ihren Wagen, unterhalten uns mit ihr, sind voller Optimismus. Sie wird uns bis vor die Tore Berlins bringen. Doch das Glück ist von kurzer Dauer. Fünf Minuten später, wir sind gerade auf die Autobahn aufgefahren, bekommt die Frau eine SMS: ihre Verabredung in Potsdam ist geplatzt. Sie ist außer sich. „Es ist gut, dass ihr hier seid,“ sagt sie mit vor Wut zitternder Stimme. „Damit bewahrt ihr mich vor einem Tobsuchtsanfall.“ Da sie nun die Angelegenheit klären muss und die Reise nicht mehr antreten wird, will sie uns so schnell wie möglich loswerden. Sie fährt bis zu Ikea: „Ich geh’ jetzt erst mal frustshoppen.“

"Ich fühle mich wie ein ausgesetzter Hund"

Unsere Autorin Anna Dombrowsky hat vergessen ein Foto zu machen. Leider ist sie momentan in Glasgow und berichtet vom schottischen Referendum. Daher seht ihr hier zwei Freundinnen unserer Fotografin.
Unsere Autorin Anna Dombrowsky hat vergessen ein Foto zu machen. Leider ist sie momentan in Glasgow und berichtet vom schottischen Referendum. Daher seht ihr hier zwei Freundinnen unserer Fotografin.

© Emilie Schmit

Ikea, here we go again. Und weil wir es von dort schon einmal geschafft haben, sollte es nicht so schwer sein. Falsch gedacht! Denn natürlich halten viele Menschen auf dem Weg nach Leipzig dort an, aber kaum welche, die von dort wegfahren. Und die wenigen Autos mit Berliner oder Brandenburger Kennzeichen, die wir finden, sind vollgepackt mit schwedischen Möbelstücken. Vielleicht, so überlegen wir, ist Ikea der falsche Parkplatz.

Einen Kilometer entfernt gibt es ein riesiges Einkaufszentrum mit allen Angeboten, die das Kosument*innenherz begehrt: Kino, Mode, Drogerie, Technik, Kinderbespaßung, Möbel und Einrichtung, Friseur, Parfüm und Nagelstudio, Supermarkt und Wellness … Leider wollen wir nichts kaufen. Wir wollen nach Hause. Die Tankstelle in der Nähe ist schlecht besucht. Wir finden ein Stück Pappe, auf das  wir „A9“ und „Berlin“ schreiben.

"Diese Schnorrer"

Jetzt stehen wir wirklich mit Schild und Daumen an der Autobahnauffahrt, wie in den guten alten Zeiten. Leider sieht uns niemand. Oder besser: Uns will niemand sehen. Die Zeit vergeht. Wir haben schlechte Laune. Meiner Schwester ist übel. Ich rufe in Berlin an und sage die Verabredung ab, die ich optimistisch auf heute Abend gelegt hatte. Mein Schienbein schmerzt, weil ich es an der Autobahnplanke aufgeschlagen habe. Ich fühle mich wie ein ausgesetzter Hund. Hin und wieder wechseln wir den Standort. Am Ende stehen wir direkt am Parkplatz des Einkaufszentrums. Hier fahren die Autos so langsam, dass uns die Fahrer*innen in die Augen schauen müssen. „Diese Schnorrer,“ lese ich in ihren Blicken. Und sie haben Recht. Es ist ja nicht so, dass wir zu arm wären für ein Busticket. Wie gesagt: Es handelt sich um ein Experiment. Wir trampen nicht jeden Tag.

Es ist windig, der Himmel noch immer grau. Wir haben keine Lust mehr. Kapitulation, weiße Fahne raus, wir geben auf. Ich rufe unsere Verwandten in Leipzig an. Ob sie uns abholen und zum Hauptbahnhof bringen können? Leider erst in fünf Stunden. Na super. Und jetzt? Eine Gruppe Jugendlicher überquert die Straße, ein Mädchen starrt uns im Vorbeigehen an. „Könnt ihr uns mitnehmen?“, rufe ich ihr zu. Sie bleibt stehen. „Wir fahren mit dem

Bus zurück in die Stadt,“ kommt ihre Antwort. „Aber … ihr steht hier ziemlich schlecht. Da wird euch niemand mitnehmen.“ Ach nee.

Der Mann stinkt nach Hund, genau die Sorte Fahrer mit der wir uns nicht einlassen wollten

„Ich bin auch schon nach Berlin getrampt. Von einer anderen Stelle. Da könnt ihr mit dem Bus hinfahren.“ Ein Hoffnungsschimmer am Horizont? Wir sind müde und für jede Hilfe dankbar. Wir steigen mit ihrer Clique in den öffentlichen Bus, der, wie sich herausstellt, sogar kostenlos ist, und fahren drei Stationen. Ich weiß nicht, wo die Fahrt hingeht, zurück nach Leipzig, glaube ich. Es scheint ewig zu dauern.

Schließlich stehen wir an einer Straßenecke am Rand der Stadt. Hier soll man angeblich gut wegkommen. Und wirklich. Nach einer Viertelstunde Daumen- und Schild-Raushalten hält ein VW. Er stinkt nach Hund. Insasse: ein Mann in den Fünfzigern. Genau die Sorte, mit der wir uns jeglichen rationalen Maßstäben zufolge nicht einlassen sollten. Wir sind so verzweifelt, dass wir einsteigen.

Er erzählt die ganze Zeit von seinen Tieren. Zwei Pferde, drei Hunde, ein Hausschwein. Netterweise fährt er uns bis zur nächsten Raststätte, obwohl die gar nicht auf seinem Weg liegt. Von hier aus, sagt er, sollten wir nach Hause kommen. Tatsächlich gibt es hier jede Menge Berliner Autos. Und nach der letzten Bekanntschaft haben wir keine Hemmungen mehr, Männer anzusprechen. Wir fragen einen dicken Mann mit langen grauen Haaren. „Fahren Sie nach Berlin?“ Er nickt. „Würden Sie uns mitnehmen?“ Er mustert uns zwei Sekunden mit diesem prüfenden Blick, mit dem uns bisher alle bedacht haben, die sich überlegten, uns in ihr Auto steigen zu lassen. Diese ein, zwei Sekunden des Zögerns: Soll ich die beiden Mädchen wirklich mitnehmen? Warum sind sie nicht mit dem Bus gefahren? Dann nickt er. Wir sind erleichtert.

Experiment geglückt, aber gelohnt hat es sich nicht

Der Mann stellt sich als der netteste Fahrer heraus, dem wir auf dieser Reise begegnet sind. Er ist ungefähr so alt wie unsere Eltern und hat ähnliche Ansichten. Während meine Schwester in ihrem warmen Sitz unter den gleichförmigen Motorgeräuschen einschläft, unterhalte ich mich mit ihm angeregt über Radiosender, Musik, Festivals und Jugendklischees. Kurz vor Potsdam machen wir einen Stopp bei Mediamarkt. Es ist ein seltsames Gefühl. Wir kennen diesen Mann erst seit ein paar Minuten, trotzdem gehen wir mit ihm einkaufen. Er kommt mir vor wie ein entfernter Verwandter, den man nicht gut kennt, aber dem man trotzdem vertrauen kann. Als wir am S-Bahnhof Wannsee aussteigen, würde ich ihm am liebsten ein Dankeschön geben. Leider haben wir nichts dabei.

Jetzt noch eine kurze S-Bahnfahrt, dann sind wir zu Hause. Wir sind seltsam erschöpft von dieser Tour. Den ganzen Tag haben wir Autos und Menschen angestarrt, Abweisungen ertragen und weiter gehofft. In acht Stunden von Leipzig nach Berlin – wirklich gelohnt hat sich das nicht. Trotzdem: Das Experiment ist geglückt. Geld haben wir keins ausgegeben. Und sollten wir die Strecke jemals wieder trampen wollen, wissen wir jetzt, wo wir uns hinstellen müssen.

Das ist ein Beitrag unseres neuen Jugendmagazins "Der Schreiberling". Folgt uns doch auf Facebook unter www.facebook.de/Schreiberlingberlin

Anna Dombrowsky

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