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Bereit für den Anpfiff: Holger Sadowski am Spielfeldrand in der Alten Försterei.

© DAVIDS/Sven Darmer

Sein letzter Besuch in der Alten Försterei: Holger Sadowskis ganz persönlicher Sieg mit Union Berlin

Seit Jahrzehnten ist Holger Sadowski ein Fan von Union Berlin. Nun ist er an Krebs erkrankt. Der Wünschewagen brachte ihn noch einmal an seinen Sehnsuchtsort.

Im Stadion stehen, seinem Verein bei einem Heimspiel zujubeln, viele Emotionen und ein paar Zigaretten teilen. Für Tausende Fans von Union Berlin ist das alle zwei Wochen ein festes Ritual. Für Holger Sadowski war dieses Erlebnis ein letzter Wunsch, bevor er geht.

Am Sonntagnachmittag ging dieser letzte Wunsch für Holger Sadowski bei der Partie von Union Berlin gegen Borussia Mönchengladbach am dritten Bundesliga-Spieltag in der Alten Försterei in Erfüllung.

Der 57-Jährige ist an Krebs erkrankt, hat Metastasen im Becken, die das Sitzen erschweren. Deswegen verfolgt Holger Sadowski das Spiel diesmal in einer Transportliege. Vor den Logen der Haupttribüne angekommen, beginnt der langjährige Unioner zu weinen. Immer wieder blickt er auf die roten Tribünen, wischt sich die Tränen weg.

Dass er ein treuer Fan ist, weiß man spätestens mit Blick auf seine Bettdecke, leuchtend rot und mit lauter Vereinslogos versehen. Das Spiel beginnt, "Eisern Union" tönt es von den Tribünen, gemeinsam mit Tausenden anderen hält auch Holger Sadowski seinen Vereinsschal in die Höhe, blickt glücklich auf das Spielfeld. „Singen kann ick nicht“, sagt Sadowski, aber nicht wegen seiner Erkrankung - dafür sei er zu unmusikalisch.

Seit 1978 ist er Union-Fan. Wie viele Male er in diesen 43 Jahren schon in diesem Stadion war, das könne er schon gar nicht mehr sagen. „Habe schon so viele Programmhefte gesammelt.“ Mit beiden Händen deutet der gebürtige Mecklenburger einen großen Stapel an.

Zuletzt waren Holger Sadowski und seine Lebensgefährtin Claudia 2009 im Stadion an der Alten Försterei. „Genau dort standen wir und haben mitgegrölt, ich erinnere mich gut daran“, sagt sie und deutet auf die Tribüne gegenüber. Dann aber sei die Krankheit gekommen.

Seit zwei Monaten lebt Holger Sadowski im Hospiz

Dass er nun noch einmal die Alte Försterei besuchen kann, hat er dem Wünschewagen-Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes zu verdanken. „Wir erfüllen die letzten Wünsche sterbenskranker Menschen“, sagt dessen Berliner Leiterin Ann-Brit Keck. Insgesamt gibt es an 22 Standorten in Deutschland für Notfälle ausgestattete Krankentransportwagen, um sterbenskranken Menschen einen „besonderen Herzenswunsch“ zu erfüllen.

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Der Berliner Wünschewagen besteht seit fünf Jahren und wird von 33 Ehrenamtlichen unterstützt, den sogenannten Wunscherfüller:innen, die speziell für diese Tätigkeit geschult werden.

„Sterben ist ein Prozess und der muss nicht durchgehend traurig sein“, sagt Ronny T., oft sei der Ausflug Anlass zur Freude, man lache auch viel zusammen. Der ausgebildete Sanitäter engagiert sich seit vielen Jahren im Ehrenamt bei den Samaritern und ist seit Kurzem auch Teil des Wünschewagen-Projekts.

Holger Sadowski und seine Lebensgefährtin Claudia vor dem Berliner Wünschewagen.
Holger Sadowski und seine Lebensgefährtin Claudia vor dem Berliner Wünschewagen.

© DAVIDS/Sven Darmer

Holger Sadowski habe den Wunsch geäußert, noch ein letztes Mal ein Fußballspiel seiner Mannschaft sehen zu wollen. „Wir haben uns dann an den Berliner Wünschewagen gewandt“, erzählt die Krankenschwester Rebecca Weigl vom Friederike-Fliedner-Hospiz in Wedding, in dem Sadowski seit rund zwei Monaten lebt.

„Eigentlich wollten wir ihn schon am nächstmöglichen Spieltermin den Wunsch erfüllen, der hätte allerdings im Olympiastadion stattgefunden und Holger als treuer Fan wollte natürlich in die Alte Försterei“, erzählt Ann-Brit Keck.

Ein "Wünsche-Sternenhimmel" soll den Transport angenehmer machen

Auf dem Krankentransportwagen vor dem Stadion ist in weißen Lettern „Der Wünschewagen. Letzte Wünsche wagen“ zu lesen, im Fahrzeuginneren sind Material für Erstversorgungen wie Defibrillator und Notfallkoffer hinter kleinen Schließfächern längs der Fahrzeugwand versteckt.

Für Holger Sadowski ist ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen.
Für Holger Sadowski ist ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen.

© DAVIDS/Sven Darmer

Blaue LED-Lichter, „der Wünsche-Sternenhimmel“, sollen den Fahrgästen den Transport so angenehm wie möglich machen, erklärt Ann-Brit Keck. In der Regel fahre man aber nicht weiter als zwei bis dreieinhalb Stunden und biete keine Übernachtungsfahrten an.

Manche Wünsche lassen sich binnen 24 Stunden umsetzen

Der nahende Tod bringt oft Sehnsucht mit sich. Nach Orten, die man noch einmal sehen und Momenten, die man erleben möchte. Diese Orte seien ganz unterschiedlich, sagt Ann-Brit Keck. Viele wünschten sich eine Fahrt an die Ostsee. „Einmal ermöglichten wir auch einer Frau, die direkt am Britzer Garten wohnt, ein letztes Mal dort“, sagt die Projektleiterin. „Der Wunsch kann was Großes, aber eben auch was Kleines sein.“

Das Sterben habe meist keinen guten Ort, an dem man darüber sprechen könne, sagt Keck. „Dabei kommt man sich bei diesem Thema zwischenmenschlich sehr nahe, man kommt sehr schnell auf eine sehr tiefe Ebene.“ Sofern der Gesundheitszustand sich nicht rapide verschlechtere, würden die Fahrten an die gewünschten Zielorte in der Regel gelingen.

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Die Menschen „sind wahnsinnig kooperativ und auch mit vielen Berliner Hospizen und Palliativstationen sind wir gut vernetzt“, sagt Patricia Dichtl, Leiterin von Kommunikation und Engagement des ASB.

Für gewöhnlich könne der Berliner Wünschewagen die meist von Angehörigen herangetragenen Wünsche der sterbenskranken Personen innerhalb kürzester Zeit erfüllen, die Termine seien manchmal sogar in 24 Stunden umsetzbar. Viele seien da sehr unterstützend, sagt Keck. Dabei seien besonders die Spenden sehr wichtig, auf die das Wohlfahrtsprojekt angewiesen sei, „je mehr Spendengelder, desto mehr Wünsche können erfüllt werden“.

Nur ein Gedanke: Union

„Meist sage ich erst mal, dass wir es versuchen, um keine falschen Erwartungen zu schüren“, ergänzt sie. So auch bei Holger Sadowski. Als das Team des Berliner Wünschewagens eine Bettdecke des Vereins für den Unionsfan mitbrachte, sagte er: „Ich saß heute noch auf der Terrasse und hatte den ganzen Tag nur einen Gedanken: Union.“

In der Unions-Bettdecke schlafe er schon seit Donnerstag. Seine Aufregung, erzählt Lebensgefährtin Claudia, sei schon seit Tagen sehr groß. Nach jedem Spannungsmoment dreht sie sich zu ihrem Lebensgefährten um, der sie dann anlächelt: „Mir geht’s gut.“

Er tippe auf ein 3:0 für Union, sagt Holger Sadowski bestimmt. Zwei verpasste Torchancen später zündet er sich eine Zigarette an. „Mein Herz ist zweimal fast stehengeblieben!“ Der Pankower schüttelt den Kopf. Er könne da ja gar nicht mehr „hinkieken“. Am Ende schießen die Berliner zwei Tore, die er mit glasigen Augen feiert. Gladbach erzielt nur einen Treffer. Doch das Ergebnis ist hier Nebensache: Für Holger Sadowski war dieses Spiel schon vor dem Anpfiff ein Sieg.

Büsra Delikaya

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