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König der Anfragen: Es gibt kaum ein Thema, zu dem Marcel Luthe noch nichts vom Senat wissen wollte. Seit 2016 gehört er dem Abgeordnetenhaus an, zunächst als Mitglied der FDP-Fraktion. Mit dieser kam es im Juli 2020 zum Bruch.

© Christian Ditsch/imago images

Schwere Vorwürfe gegen Berliner Abgeordneten: Marcel Luthe sorgt für Streit bei den Freien Wählern

Der Ex-FDP-Mann soll Hinterzimmergespräche zur Manipulation der Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl abgehalten haben.

„Gemeinschaft und Respekt für Berlin“ – mit diesem Titel für das Grundsatzprogramm betraten die Freien Wähler Berlin um ihren Landesvorsitzenden Tobias Bauer im Jahr 2019 die politische Bühne der Hauptstadt. „Wir wollen die Gesellschaft dahingehend stärken, dass man auch mal wieder nach dem Nachbarn guckt“, sagte Bauer damals im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Zwei Jahre später ist von Gemeinsamkeit und Respekt selbst in den eigenen Reihen nicht mehr viel übrig. An der Basis und innerhalb des Vorstands toben heftige Grabenkämpfe bis hin zu Parteiordnungsverfahren, werden „offene Briefe“ verfasst und Bauer sowie dessen Stellvertreter Tobias Eder scharf attackiert. Diese hätten die Partei „verkauft“ und die gemeinsamen Werte „verraten“, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Fünf Monate vor der Abgeordnetenhauswahl scheint die Partei vollständig blockiert, statt gemeinsam den Wahlkampf zu organisieren, bekriegen sich die Lager gegenseitig.

Im Zentrum der Vorwürfe steht Marcel Luthe. Dieser hat sich im Abgeordnetenhaus während der laufenden Legislaturperiode einen Namen gemacht – positiv wie negativ. Luthe, der als Anfragenkönig gilt und wegen diverser Kapriolen immer wieder in die Schlagzeilen geraten war, zog bei der Wahl 2016 mit dem besten Ergebnis aller FDP-Abgeordneten in das Landesparlament ein.

Es folgten Auseinandersetzungen innerhalb der Fraktion und ein Zerwürfnis mit deren Vorsitzendem Sebastian Czaja. Seit Juli 2020 ist Luthe fraktions- und mittlerweile auch parteiloses Mitglied des Abgeordnetenhauses, bezeichnet sich selber aber stets als freien Demokraten.

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Am 17. April wurde er zum Spitzenkandidaten der Freien Wähler Berlin gekürt. Mit einem überragenden Ergebnis von 97 Prozent der Stimmen statteten die rund 70 – beim zuvor zwei Mal verschobenen Landesparteitag – anwesenden Mitglieder den als aufbrausend geltenden Luthe aus. Er und die Freien Wähler hatten die sich anbahnende Zusammenarbeit vor dem Parteitag geheim gehalten, von einer „Schweigepflicht“ ist intern die Rede. Der Plan ging auf: Luthe wurde präsentiert, die Freien Wähler landeten in der Presse – das Zugpferd der jungen und mit etwa 100 Mitgliedern vergleichsweise winzigen Partei hatte gewirkt.

Es kam zu einem Einsatz von Polizei und Ordnungsamt

Dennoch hatte die Kür einen Beigeschmack: Weil an dem Präsenz-Parteitag mehrere vor Ort positiv auf das Coronavirus getestete Mitglieder teilnahmen, war hinterher von Manipulation die Rede. Tatsächlich gab es einzelne Wahlgänge, bei denen wenige Stimmen den Ausschlag gaben. Von offensichtlichen Absprachen zwischen erst kurz zuvor in die Partei eingetretenen Mitgliedern und einzelnen Kandidierenden ist die Rede. Schließlich kam es am Rande des Parteitags zu einem Einsatz von Polizei und Ordnungsamt, zahlreiche Mitglieder verließen die Veranstaltung vor dem Ende der Wahlgänge.

Die erst positiv getesteten und dann – nach dem Besuch eines offiziellen Testzentrums – mit einem negativen Testergebnis ausgestatteten Mitglieder wurden des Saals verwiesen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie an mehreren Abstimmungen teilgenommen. Alarmiert worden war die Polizei von Mitgliedern der Partei, deren Chef Tobias Bauer persönlich soll ihren Einlass trotz positiver Coronatests durchgesetzt haben. Bauer selbst bestritt das in einer ersten Reaktion für den Tagesspiegel. Eine erneute Anfrage dazu ließ er unbeantwortet.

Und es gibt weitere Vorwürfe. Dabei geht es um mutmaßliche Vorfestlegungen der Plätze auf der Landesliste, besser bekannt als Hinterzimmergespräche, die in diesem Fall ihrem oft bildhaft verwendeten Namen alle Ehre machen. Dokumentiert wurde das Ende März abgehaltene Treffen aus einem Auto heraus mittels Teleobjektiv – Wildwest am Kleinen Wannsee. Genau dort wohnt Luthe, einer der auf den Bildern zweifelsfrei zu identifizierenden Teilnehmer der Runde. Die Fotos liegen dem Tagesspiegel vor.

Marcel Luthe (mitte, im weißen Hemd und langem Mantel) trifft freie Wähler. Tobias Bauer, Chef der Freien Wähler, trägt als einziger eine Mütze.
Marcel Luthe (mitte, im weißen Hemd und langem Mantel) trifft freie Wähler. Tobias Bauer, Chef der Freien Wähler, trägt als einziger eine Mütze.

© privat

Luthe soll Gastgeber gewesen sein, das ursprünglich in einer Gaststätte geplante Treffen soll in seinen Privaträumen stattgefunden haben. Zu erkennen sind auch die beiden Parteichefs Tobias Bauer und dessen Stellvertreter Tobias Eder. Außerdem der auf Listenplatz 4 gewählte und umstrittene Anti-Mobbing-Coach Carsten Stahl sowie weitere Kandidaten für die vorderen Listenplätze. Luthe selbst soll die klandestine Runde anberaumt haben, behaupten seine im Sammeln belastender Materialien überaus eifrigen Gegner.

Luthe schweigt zu den Vorwürfen

Eine achtseitige Liste von „Verfehlungen“ Luthes – einige mehr als 15 Jahre alt – ließen sie dem Tagesspiegel zukommen. Dazu Fotos, die Luthe ohne FFP2-Schutzmaske im Gespräch mit Parteimitgliedern auf dem Parteitag zeigen. Doch es sind auch stichhaltige Vorwürfe darunter: Luthe soll seine Spitzenkandidatur an die Bedingung geknüpft haben, weitere Plätze auf der Landesliste mit seinen Vertrauten – darunter seine Lebensgefährtin – besetzen zu können, heißt es weiter. Von zunächst vier reservierten Plätzen ist die Rede, schließlich sollen es sechs geworden sein. Luthe schweigt zu den Vorwürfen, die identisch von mehreren Mitgliedern der Partei gegen ihn sowie Bauer und Eder erhoben werden.

Das Problem an der selbst in normalen Zeiten demokratietheoretisch fragwürdigen, im Parteienspektrum wohl aber nicht einzigartigen Zusammenkunft in Luthes Privaträumen: Sie fand Ende März und damit während der pandemiebedingt auch aktuell noch geltenden Kontaktbeschränkungen statt. „ Ein Haushalt plus eins“ lautet die vom Senat beschlossene Regel zur Vermeidung größerer Gruppenbildungen, erst recht in geschlossenen Räumen. Zwar sind für berufliche, mandatsbezogene oder ehrenamtliche Tätigkeiten sowie für Wahlkampfzwecke Ausnahmen vorgesehen. Ein Treffen wie das in Detektivarbeit dokumentierte dürfte wohl kaum dazuzählen.

Marcel Luthe ohne Mund-Nasen-Schutz.
Marcel Luthe ohne Mund-Nasen-Schutz.

© privat

Parteichef Bauer erklärte stellvertretend für Luthe schriftlich, bei dem Treffen habe es sich um eine laut Verordnung zulässige „Veranstaltung“ gehandelt. Tatsächlich sind diese in geschlossenen Räumen bis maximal 20 Teilnehmer:innen erlaubt. Unklar ist jedoch, wann ein Treffen zur Veranstaltung wird. Eine offizielle Einladung soll es ebenso wenig gegeben haben wie ein Programm, eine Anwesenheitsliste oder ein Protokoll der Runde. Eingeladen wurde telefonisch und ohne Nennung von Gründen.

Die von Bauer verbreitete Version einer Veranstaltung sei eine „Lüge“ und „Schutzbehauptung“, heißt es von der Gegenseite. Die Liste der Vorwürfe gegen Luthe, Eder und Bauer ist noch länger. Diese hätten die Aufnahme von Mitgliedern vor dem Parteitag verschleppt oder gar Interessent:innen abgewiesen. Von „strukturellem Rassismus“ ist die Rede. Menschen mit Migrationsgeschichte seien abgewiesen worden, andere dagegen – wohl auch die positiv getesteten – seien binnen Tagen aufgenommen worden. Während Bauer Fragen nach dem Umgang mit Mitgliedsanträgen unbeantwortet ließ, wies er den Vorwurf der Entscheidung nach Herkunft oder Migrationshintergrund zurück. Dieser widerspreche „unserem Bilde des Menschen, dessen Handeln und nicht unveränderliche äußere Merkmale zu bewerten“, schrieb Bauer und ergänzte: „Jedweden Vorwurf einer Diskriminierung weisen wir ganz entschieden zurück.“

Ob der Streit wenige Monate vor der Abgeordnetenhauswahl beigelegt werden kann, ist unklar. Ein unmittelbar nach dem Parteitag aufgesetzter Antrag auf Durchführung eines Sonderparteitags war noch am Tag der Veröffentlichung zurückgezogen worden, angeblich weil einzelne als Unterzeichner aufgelistete Personen dem gar nicht zugestimmt hatten. Kurz vor Ablauf der 14-tägigen Einspruchsfrist hieß es am Freitag aus Parteikreisen, eine Anfechtung des Parteitags werde noch juristisch geprüft.

Am heutigen Sonntag soll es ein Basistreffen geben, um „offene Fragen und Unmut“ nach dem Landesparteitag am 17. April aufzuklären. Das Treffen soll laut Einladung in Spandau und unter freiem Himmel stattfinden, auch ein Hygienekonzept wurde erarbeitet. Die offenbar unter Mitwirkung von Bauer und Eder verfasste Einladung endet mit den Worten: „Wir freuen uns auf eine gute klärende Zeit! Um dann mit voller Kraft in die wohl spannendsten Monate der Freien Wähler zu starten!“

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