zum Hauptinhalt
Den Blick weiten. Viele wollen nach dem Abi erst mal reisen.

© Imago/Westend61

Was tun nach dem Abitur: Ein Jahr Zeit für Abenteuer

Nach dem Abitur entscheiden sich viele Schulabsolventen erst mal für ein Orientierungsjahr ohne fixe Pläne.

Von der Schulbank in den Hörsaal, gleich in die Ausbildung oder mit einer Organisation für ein Jahr ins Ausland – da haben sich viele Eltern leider zu früh gefreut, was die Zukunft ihrer Kinder angeht. Denn die machen es oft lieber spannend: ein Kurztrip nach Südamerika, Couchsurfen und Trampen durch Europa, ein Praktikum in einer Kanzlei oder doch lieber mit den Freunden zu Hause die eigene Musikkarriere voranbringen? Das berühmte Orientierungsjahr nach der Schule (engl. „Gap Year“) dient in erster Linie dazu, auch mal Neues auszuprobieren, bevor man sich auf eine berufliche Laufbahn einlässt. Der Gestaltung des Jahres sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Und wenn man sich so umhört, geht der Trend zum Abenteuer: selbst entscheiden, spontan sein, ungebunden und zwanglos die Welt erkunden.

„Ich hab nach der Schule gar nicht so viel geplant“, sagt Lara Grimalschi aus Zehlendorf. Die junge Frau studiert zurzeit nach ihrem selbst geplanten „Lückenjahr“ Jura an der Technischen Universität Berlin und bereut kein Stück, wie ihr letztes Jahr verlaufen ist. „Während meines Abiturs habe ich einen Facebook-Post geschrieben, ob jemand Lust hätte, mit mir zu reisen“ – und schon kurz darauf saß sie mit einem alten Schulfreund, einem Reiserucksack und einem Hinflugticket nach Peru im Flugzeug.

Reisen selbst organisieren

Sie hatte damals auch überlegt, mit einer Organisation zusammen ihren Auslandsaufenthalt zu planen. Das kam für Lara Grimalschi dann aber erst mal doch nicht infrage: „Ich wollte nicht so gebunden sein und die Möglichkeit haben, meine Pläne zu ändern. Außerdem kosten organisierte Reisen und Projekte oft wahnsinnig viel Geld – und das für etwas, was man mit ein bisschen Mut eigentlich selber machen kann“, sagt die 20-Jährige. Verständlich – denn in Zeiten der günstigen Flugtickets und des Internets kann jeder seine Reise bequem vom Sofa aus selbst planen.

Für Peer Diercks gab es nach dem Abi ebenfalls weder „konkreten Plan noch Ziel“. Im Sommer half der 20-Jährige bei Festivals, engagierte sich in verschiedenen Projekten und trampte im Herbst und Winter durch Deutschland und Südeuropa. Die Welt sehen, Neues kennenlernen und der Versuch, Spanisch zu lernen, waren seine Motivation. Und natürlich der „Abenteueraspekt“: das Gefühl zu haben, keinen genauen Plan zu verfolgen, ohne Strukturen zu leben – da habe er viel über sich selbst gelernt.

Minijobs und Musik

Auch Mita Hiemer aus Steglitz hat nach dem Abitur nicht gleich die Karriereleiter erklommen. Ihr Gap Year verbrachte sie größtenteils in Berlin. Trotzdem war sie nicht untätig: Neben mehreren Minijobs und einer Reise nach Italien hat die Musikbegeisterte in ihrem Zimmer ein provisorisches Tonstudio eingerichtet und eigene Lieder geschrieben und aufgenommen. „Es gibt Leute, die von Anfang an wissen, was sie wollen. Ich glaube, dazu gehören aber die wenigsten“, sagt die 20-Jährige. So entschied sie sich dazu, durch Jobs erste Berufserfahrungen zu sammeln und einen Einblick in die Arbeitswelt zu bekommen – und natürlich ihrer Leidenschaft, der Musik, nachzugehen. In der Abiturzeit gebe es zu wenig Raum, darüber nachzudenken, was man nach der Schule mit seinen Leben anstellen will, findet sie.

Unsicherheit und Orientierungsschwierigkeiten

Ein Punkt, den offenbar viele Abiturientinnen und Abiturienten teilen. Das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen befragte 2013 Abiturientinnen und Abiturienten aus ganz Deutschland nach ihren Plänen nach der Schule. Die Ergebnisse: Nur ein Viertel der Befragten antwortete auf die Frage, ob sie gleich mit dem angestrebten Studium oder Ausbildung beginnen wollen, mit einem klaren „Ja“.

Unsicherheit und Orientierungsschwierigkeit sieht auch Stefan Nowack von der Bildungs-, Berufs- und Laufbahnberatung Berlin. Nach vorsichtiger Schätzung des Beraters haben 60 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten nach der Schule eine Art Orientierungsphase. Das Phänomen komme aber nur unter Absolventen mit Abitur vor, sagt Nowack. Schüler, die nach der mittleren Reife die Schule verlassen, steigen meist gleich in die Berufswelt ein.

Gibt die Oberstufe also zu wenige Möglichkeiten, sich eine klarere Vorstellung von seiner beruflichen Zukunft zu machen? Ein Argument, dass besonders von Gegnern der verkürzten Mittelstufe und damit der Schulzeit auf zwölf Jahre immer wieder eingeworfen wird. Nina Kollek, Bildungsforscherin an der Freien Universität Berlin, weist aber darauf hin, dass sich empirisch kaum Unterschiede zwischen G8 und G9 zeigten. So sei zum Beispiel der Studie des Kieler Leibniz-Instituts für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik im Auftrag der Stiftung Mercator zu entnehmen, dass es unter den Absolventen der beiden Schulformen ähnlichen Studienerfolg und ähnliche Abbruchquoten gebe.

Praxiserfahrungen fehlen

Nach Ansicht der Bildungsexpertin liegt die Unsicherheit vieler Jugendlicher an der fehlenden Praxis: „Die Sozialen Medien haben einen starken Einfluss auf Jugendliche. Die Welt wird kleiner und der Wunsch, sich auszuprobieren, stärker. Aber genauso wie Schulunterricht können Soziale Medien nicht vermitteln, was es heißt, einen Beruf auszuüben. Praxiserfahrungen, eine Ausweitung der Minijobs für Schüler in sämtlichen Organisationen oder Unternehmen oder Schnupperarbeitsstunden könnten da eine Hilfestellung sein.“

Wachsende Spontaneität und Abenteuerlust der Abiturienten kann Nina Kolleck nicht bestätigen. Dafür fehlten zuverlässige empirische Erkenntnisse. Die vergangenen Shell-Jugendstudien zeigen jedoch deutlich auf, dass es einen „Trend zur Selbstständigkeit“ gebe. Bedenken hat die Professorin keine: „Ich sehe das als eine äußerst positive Entwicklung. Die befürchtete ,Generation angepasst‘, politisch desinteressiert und eher pragmatisch, bestätigt sich nicht. Für viele Jugendliche sei das Geld immer weniger wichtig – es gehe eher um Selbsterfüllung und den Wunsch, einen Beitrag für die Welt zu leisten.“

Mita Hiemer bereut den Verlauf ihres Orientierungsjahr jedenfalls nicht. Es sei für die angehende Studentin der Sprechkunst und Sprecherziehung in Stuttgart ein persönlicher Reifeprozess gewesen: „Ich habe das Gefühl, nicht mehr raten zu müssen, also beruflich nicht einfach irgendwo zu landen, sondern endlich in eine Richtung gehen zu können.“

Erik Milas

Zur Startseite