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Zwei Eisen im Feuer. Die praktische Vorbereitung aufs (Berufs-)Leben ist wichtiger Bestandteil der Waldorfpädagogik. Hier lernen Schülerinnen der Rudolf Steiner Schule in Berlin-Dahlem das Schmiedehandwerk.

© Kitty Kleist-Heinrich

Waldorfabsolventen: „Sie warten nicht ab, sondern packen zu“

Hartnäckig hält sich das Klischee, Waldorfschüler seien weltfremde Träumer. Stimmt nicht, sagen Forscher und Absolventen.

Von Aleksandra Lebedowicz

Philipp Vohrer kennt sich aus mit Vorurteilen. Besonders wenn es dabei um schrullige Waldorf-Ökos geht, die mit der Welt nicht klarkommen. Schließlich hat der 39-Jährige selbst 13 Jahre eine Waldorfschule in Tübingen besucht. „Wenn ich in der ,Heute Show’ diese Witze höre, dann muss ich auch herzlich lachen“, sagt Vohrer. Er nimmt sie eben mit Humor. Genau wie die Sprüche mancher Arbeitskollegen, ob er denn seinen Namen tanzen könne. „Ich habe nicht das Gefühl, deswegen diskriminiert zu werden.“

Vohrer ist kein weltfremder Träumer. Immerhin hat er das staatliche Abitur gemacht, studiert und den Sprung in die freie Wirtschaft gemeistert. Heute arbeitet er als Geschäftsführer der Berliner Agentur für Erneuerbare Energien. Seine Waldorfvergangenheit, sagt er, sei für ihn nie ein Karrierehindernis gewesen. Im Gegenteil. „Ich kokettiere sogar ganz gerne damit“, schmunzelt er.

„Ehemalige Waldorfschüler sind als Azubis und Mitarbeiter sehr beliebt“, sagt Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich- Heine-Universität in Düsseldorf und Autor von Studien zur Waldorfpädagogik. „Sie sind lernbegieriger, motivierter und engagierter als viele ihrer Kollegen.“ Unternehmer schätzten ihre Selbstständigkeit. „Sie warten nicht lange ab, sondern packen zu“, sagt Barz.

Eigenständiges Denken statt Bulimielernen

Das haben sie schon früh gelernt. Denn die Waldorfpädagogik ist nicht auf bloßes Eintrichtern und Reproduzieren von Wissen ausgerichtet, sondern auf eigenständiges Denken, Tun und Begreifen. Die Themen werden im sogenannten Epochenunterricht, also fächerübergreifend in Zeitblöcken über mehrere Wochen behandelt. „In der fünften Klasse sind zum Beispiel ein halbes Jahr lang nur die Griechen dran“, sagt Vohrer.

Außerdem lernen Schüler von Anfang an zwei Fremdsprachen und widmen sich individuellen Projekten, wie dem Pyramidenbau oder dem Tierschutz. Dabei wird weitgehend auf Schulbücher verzichtet. Dafür stehen Musik, Theater und Eurythmie auf dem Plan – eine Bewegungskunst, in der Worte und Geschichten getanzt werden. „Durch die Theaterarbeit habe ich heute keine Probleme damit, frei vor vielen Menschen zu sprechen“, sagt Vohrer.

Trotz dieser eher unkonventionellen Methoden schneiden Waldorfschüler bei Pisa-Tests sehr gut ab – teilweise besser als Regelschüler. Laut einer Studie zur Schulzufriedenheit, die Heiner Barz vor zwei Jahren mit seinem Fachkollegen Dirk Randoll vorlegte, haben Waldorfschüler auch mehr Freude am Lernen. Die scheinen sie ins Berufsleben zu übertragen. Das Geheimnis? Eigentlich eine einfache Erkenntnis. „Waldorfschüler sind nicht ausgelaugt“, sagt Barz.

Der durchschnittliche Gymnasiast eigne sich ständig neues Wissen an, gebe es bei Klausuren wieder, um es bald wieder zu vergessen – und ohne es verwertet zu haben. Bulimielernen nennen Experten das Phänomen. „Leider hat es in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Barz.

„Die Waldorfabsolventen gehen selbstbewusster durchs Leben“

Dorothea Böttcher blickt gerne auf ihre Schulzeit zurück. Zwölf Jahre lang ging die Berlinerin in die Rudolf Steiner Schule in Dahlem. Individuelle Förderung, stabiler Klassenverband, lebensnaher Unterricht: Inzwischen schielen auch viele Regelschulen auf diese Pädagogik. „Es werden dort Fähigkeiten vermittelt, die woanders schnell verlorengehen“, sagt sie.

So standen bei ihr neben Lesen und Singen auch Handwerk und Gartenbau auf dem Programm. „Ich war in handwerklichen Sachen zwar nicht gut“, erzählt sie, „aber ich habe viele Dinge ausprobiert.“ Das nehme einem die Angst, sich später auf Neues einzulassen. „Die Waldorfabsolventen, die ich kenne, gehen generell selbstbewusster durchs Leben“, sagt die 36-Jährige. Mit dem Vorwurf, sie würden nicht gut auf die Arbeitswelt vorbereitet sein, kann die ausgebildete Schauspielerin nichts anfangen. „Ich habe meinen Beruf gerade durch die Schule entdeckt“, sagt sie. Als sie ihr zweites Kind bekam, habe sie gemeinsam mit einer Freundin einen Laden betrieben. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. „Ich würde sagen, dass ich einen sehr gesunden Bezug zur Realität habe.“

Waldorfabsolventen wie Böttcher und Vohrer sind keine Exoten unter Berufstätigen. Die Bandbreite der Berufe, die ehemalige Waldorfschüler ausüben, ist groß. Eine Tendenz in soziale, therapeutische, künstlerische und pädagogische Richtung zeichne sich aber deutlich ab, so die Ergebnisse einer 2007 veröffentlichten Absolventenstudie von Barz und Randoll. „Überdurchschnittlich viele von ihnen werden Lehrer “, sagt Barz.

Der alternative Ruf der Pädagogik hat seine Kehrseite

Aber auch prominente Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik waren Waldorfschüler: Der Nobelpreisträger Thomas Südhof etwa, der Allroundkünstler Clint Eastwood und der dm-Drogerie-Gründer Götz Werner. Die Initiative „theWaldorfs“ trägt im Internet sogar eine Liste mit Namen berühmter Absolventen zusammen. Sie soll helfen, das hartnäckige Bild von lebensuntauglichen Träumer zu ändern.

Keine Noten, kein Sitzenbleiben, kein Druck: Für viele, die vom staatlichen Schulsystem enttäuscht sind, klingt das wie ein Heilsversprechen. Und tatsächlich finden Waldorfschulen immer mehr Zulauf. In Deutschland lernen inzwischen weit über 84 000 Schüler an 232 Waldorfschulen, die in freier Trägerschaft entstehen. Weltweit sind es 1026.

Doch der alternative Ruf der Pädagogik hat auch seine Kehrseite. Anthroposophie, die leicht esoterisch angehauchte Lehre Steiners, die allen Waldorfschulen zugrunde liegt, schreckt manche Eltern ab. Etwa wenn sie hören, dass Kinder jeden Morgen Gott und Sonne ansprechen. „Sicher mutet das zunächst ulkig an“, sagt Dorothea Böttcher, die ihre Kinder ähnlich wie Philipp Vohrer auf eine Waldorfschule schickt. Im Grunde sei der Alltag aber sehr christlich geprägt. „Den komischen Hauch von Steiner-Kult hat es überhaupt nicht.“

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